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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Armeniens Jugend über Russland "Putin ist der Feind unseres Landes"
Russland war bis vor Kurzem ein wichtiger Verbündeter Armeniens. Doch viele vor allem junge Armenier haben keine Lust mehr auf Putin und Russland. Schuld daran ist ein Krieg.
Tobias Schibilla berichtet aus Eriwan.
Der Smog hängt tief in Eriwan. Konzentriert lenkt Taxifahrer Artjom seinen schwarzen Toyota durch den Berufsverkehr in den engen Straßen der armenischen Hauptstadt. "Hier heizen viele Menschen mit Holz", erklärt er. "Deshalb kann man im Winter nicht so weit sehen." Weißer Rauch kommt aus den Schornsteinen der Häuser, er setzt sich fest zwischen den Wohnblöcken. Autos, die in der Nähe der Häuser parken, sind mit einer dünnen Ascheschicht bedeckt. Die Sichtweite beträgt teils weniger als 50 Meter.
Im April 2022 ist Artjom nach Armenien eingewandert. Eigentlich kommt er aus der russischen Schwarzmeermetropole Sotschi, dort hat er Wirtschaftswissenschaften studiert. Doch als Putin im Februar 2022 die Ukraine überfiel, floh der 26-Jährige. "Ich werde ganz sicher nicht für Wladimir Putin sterben", sagt er. "Russland und die Sowjetunion standen einmal für den Frieden in der Welt, doch das ist vorbei."
Artjom ist nicht der Einzige, der im südlichen Kaukasus versucht, dem Kriegsdienst zu entkommen. Bis zu 100.000 Menschen sind seit dem Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine nach Armenien gekommen – die Gründe dafür sind vielfältig: Einige, wie Artjom, wollen der Einberufung zum Krieg entgehen. Andere Russen sehen im Südkaukasus bessere Chancen, um Geld zu verdienen. Denn Sanktionen der Europäischen Union gibt es gegen Armenien anders als gegen Russland nicht – im Gegenteil.
Der Westen und die kleine Kaukasusrepublik nähern sich seit Jahren immer weiter an. Für Armenien bedeutet das auch: Die Europäische Union wird zu einem immer wichtigeren Handelspartner – mittlerweile ist sie der zweitgrößte Exportmarkt des Landes, nach Russland. In wenigen Jahren wird Europa an Russland vorbeiziehen. Das zeigt sich auch im Wirtschaftswachstum: Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine im Jahr 2022 wächst die armenische Wirtschaft im Schnitt um 10,5 Prozent pro Jahr.
Gleichzeitig entfernt sich Armenien von Russland. Grund dafür ist aber weniger der Ukraine-Krieg als Russlands Rolle in einem anderen Krieg: dem zwischen Armenien und Aserbaidschan.
Viele Armenier fühlen sich von Russland verraten
Politikwissenschaftler Narek Sukiasyan erklärt das damit, dass "viele Armenier sich von Russland verraten fühlen". Denn Aserbaidschan annektierte nach dem Krieg im Jahr 2020 rund ein Drittel des armenischen Staatsgebiets, im Jahr 2022 folgten weitere, kleinere Annexionen. Russland, das bisher als Schutzmacht Armeniens aufgetreten war, hielt sich zurück und ließ Aserbaidschan gewähren. Das hat dazu geführt, dass vor allem junge Armenier mit Russland brechen und sich dem Westen zuwenden.
So auch Mary. Die Armenierin studiert an der Amerikanischen Universität Armeniens Kunst. "Ich bin mit der russischen Kultur aufgewachsen, liebe die russische Musik, die Literatur, die Filme", sagt sie. Politisch sehe sie Russland aber ebenso als Feind wie die Türkei oder Aserbaidschan. "Auch Putin ist der Feind unseres Landes."
Sie hofft, dass sich Armenien weiter an den Westen annähert. "Wenn das passiert, können wir als Volk, als Land freier sein", sagt sie. Aber die Studentin fürchtet, dass Wladimir Putin einen Prozess der Kolonialisierung der ehemaligen Sowjetrepubliken vorantreibt. "Worin das enden kann, sehen wir an den schrecklichen Kriegsverbrechen, die Russland in der Ukraine begeht." Sie sorgt sich, dass ihr Land allein sein wird, wenn Aserbaidschan es erneut angreift.
Die armenische Sicherheitsarchitektur ist zusammengebrochen
Mit der Sorge ist Mary nicht allein. Auch Politikwissenschaftler Sukiasyan sieht die Möglichkeit eines erneuten Angriffs auf Armenien. Seit 2022 ruht Armeniens Mitgliedschaft in der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) – quasi die Nato der ehemaligen Sowjetstaaten. "Armenien befindet sich somit in einer Position, in der die alte Sicherheitsarchitektur zusammengebrochen und eine neue noch nicht aufgebaut ist", sagt Sukiasyan. Das könne im Falle eines erneuten Angriffs problematisch werden: "Ich mache mir Sorgen, dass Armenien zu einer isolierten Insel mit pro-westlichen Ambitionen im Südkaukasus wird."
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Taxifahrer Artyom beschäftigt die politische Lage des Landes dagegen kaum. Für ihn zählt vor allem, in Armenien in Frieden leben zu können. Von dem schwelenden Konflikt mit der Türkei und Aserbaidschan hat er zwar gehört, aber nur wenig davon mitbekommen. "In Eriwan passiert so schnell nichts", ist er sich sicher.
Student Alex streitet mit seinem Vater über Putin
Während Artjom vor allem froh darüber ist, dem Griff des Kremls entkommen zu sein, lehnen viele junge Armenier freundschaftliche Beziehungen zu Russland ab. Alex, der ebenfalls an der Amerikanischen Universität Armeniens studiert, ist überzeugt, dass Putin dem Feind Armenien "einfach geschenkt" hat: "Wir hatten überhaupt kein Mitspracherecht. Putin hat unser Land und die Armenier einfach verraten und betrogen."
Das Vertrauen vieler Armenier in Moskau ist nach der letzten Eskalation in Bergkarabach erodiert. 2023 schnitt Aserbaidschan die mehrheitlich armenisch besiedelte, autonome Region neun Monate lang von der Versorgung mit Nahrungsmitteln, Öl, Gas und Strom ab. Dann startete es im Oktober einen Angriff auf Bergkarabach, überrannte die Region innerhalb eines Tages und annektierte sie. Etwa 130.000 Armenier wurden aus Bergkarabach vertrieben, die russischen "Friedenstruppen" schauten tatenlos dabei zu.
Dennoch gibt es auch in Armenien noch viele, die es vorzögen, weiter mit Russland verbündet zu sein. Alex erzählt von seinem Vater, mit dem er kaum über das Thema sprechen könne. Er sei sehr pro-russisch und vor allem pro-Putin eingestellt: "Es fühlt sich an, als hätten ihn die russischen Medien einer Gehirnwäsche unterzogen." Armenien stand lange unter sowjetischem Einfluss. Erst im Jahr 1991 erlangte der Staat seine Unabhängigkeit, auch danach war er noch lange russifiziert. Erst seit wenigen Jahren versucht sich Armenien vom russischen Einfluss zu lösen, doch viele Kinder wachsen auch heute noch mit russischer Musik und Literatur auf.
Alex wünscht sich, dass Armenier wie sein Vater selbst erkennen, dass eine Abkehr von Russland notwendig ist für eine sichere Zukunft des Landes: "Aber das ist noch ein weiter Weg", ist er überzeugt. Noch seien viele gegen Veränderungen.
In seinem Auto rollt Artjom die Ärmel seines langärmligen T-Shirts hoch und zeigt sein Tattoo: eine stilisierte rote Fahne mit Hammer und Sichel. "Das ist es, wofür Russland einmal stand: Frieden und Freundschaft unter den Völkern." So solle es auch wieder werden, meint er. "Putin hat mein Volk und das der Ukraine verraten." Dann fährt er los, sein schwarzer Toyota verschwindet schnell im Smog von Eriwan.
- Gespräche mit Artjom, Alex und Mary
- Gespräch mit Narek Sukiasyan
- bpb.de: "Migration from Russia to Georgia and Armenia" (englisch)
- eeas.europa.eu: "The European Union and Armenia" (englisch)