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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Das steckt dahinter Hamas-Zentrale unter dem größten Krankenhaus in Gaza?
Mitten in Gaza-Stadt steht das größte Krankenhaus der Region – unter dem Israel eine Hamas-Zentrale vermutet. Was ist über die Lage dort bekannt? Ein Überblick.
Im Krieg zwischen Israel und der Terrororganisation Hamas spitzt sich die humanitäre Lage immer weiter zu. Nun steht das Schifa-Krankenhaus in Gaza-Stadt im Fokus. Aus der Klinik selbst erheben Mitarbeitende schwere Vorwürfe, dass das Arbeiten unmöglich sei, auch, weil es immer wieder zu Angriffen komme – die israelische Armee weist das zurück.
Im Krieg widersprechen Hamas- und palästinensische Angaben denen der israelischen Seite. Unabhängig prüfen lassen sie sich nicht. Das ist bisher bekannt:
Was genau passiert am Krankenhaus?
Das Al-Schifa-Krankenhaus, kurz Schifa-Krankenhaus, ist mit etwa 700 Betten das größte im Gazastreifen. Derzeit steht es im Fokus der israelischen Armee, da diese unter dem Gebäude eine bedeutende Kommandozentrale der Hamas vermutet. Israel hat sich zum Ziel gemacht, die Terrororganisation "auszulöschen", nachdem diese am 7. Oktober Israel attackiert hat.
Derzeit besteht offenbar eine festgelegte Passage, um in das Krankenhaus zu gelangen und wieder herauszukommen. Das Al-Schifa kann allerdings keine neuen Patienten mehr aufnehmen, und die Mitarbeitenden des Krankenhauses berichten, dass ihnen die Lebensmittel und das Wasser ausgehen. Nach Angaben von Mohammed Saqout, dem für Krankenhäuser zuständigen Generaldirektor des Gesundheitsministeriums im Gazastreifen, sind dort derzeit etwa 1.500 Patienten, Mitarbeiter und Vertriebene untergebracht. Das Ministerium wird von der Hamas kontrolliert.
Es ist völkerrechtswidrig, ein Krankenhaus anzugreifen, das zivilen Zwecken dient. Nach Artikel 18 der Genfer Konvention müssen Krankenhäuser geschützt werden. Die israelische Armee (IDF) wirft der Hamas aber vor, das Tunnelsystem unter der Klinik für seine terroristischen Zwecke als Kommandozentrale zu nutzen.
Lagert die Hamas dort nun Waffen oder steuert von dort Raketen auf Israel, kann das rechtlich einen Angriff rechtfertigen. Allerdings muss die Verhältnismäßigkeit gewahrt bleiben – ein Begriff, der viel Spielraum zur Interpretation gibt. Israel erfährt derzeit weltweit Kritik für sein Vorgehen in Gaza, etwa vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Die Bundesregierung hingegen betont Israels Recht darauf, sich selbst zu verteidigen.
Gibt es bereits Angriffe auf die Klinik?
Palästinensische Quellen melden immer wieder Angriffe auf die Klinik, Israel bestreitet das. Unabhängig prüfen lassen sich diese Angaben ebenfalls nicht. Über eine nahe dem Krankenhaus installierte Live-Kamera von AFP waren den ganzen Tag über Schüsse und Explosionen zu hören. Zeugen im Krankenhaus berichteten der Nachrichtenagentur AFP am Telefon von ununterbrochenen Schüssen, Luftangriffen und Artilleriefeuern in der Nähe des Krankenhauskomplexes. Dass es zumindest in der Nähe Kämpfe gibt, bestätigt auch Israel.
Der Klinikdirektor Mohammed Abu Salmija sagte der Nachrichtenagentur AP, die israelischen Truppen "schießen auf jeden draußen und im Innern des Hospitals". Zwei Granaten seien im Innenhof eingeschlagen. Der Haupteingang und Fassaden seien beschädigt worden. Auf einem Teil des Geländes brach nach seiner Darstellung zudem ein Feuer aus.
Im Netz kursieren Gerüchte, wonach ein israelischer Panzer vor dem Tor der Klinik gesichtet worden sein soll. Israelische Soldaten sollen sich auf dem Klinikgelände aufhalten, Scharfschützen positioniert sein. Auch das lässt sich nicht prüfen. Beobachter zweifeln an der palästinensischen Darstellung. Ihnen zufolge ist es zu gefährlich für israelische Militärs, das Gelände zu betreten.
Israels Armeesprecher Daniel Hagari hatte zuvor seinerseits von "Lügen" und "falschen Berichten" gesprochen, die die Hamas gezielt verbreite, um Menschen von einer Flucht abzuschrecken, um sie weiter als lebende Schutzschilde missbrauchen zu können. Die Klinik werde nicht belagert, sagte er.
Kann der Betrieb im Krankenhaus trotzdem weitergehen?
Ein Arzt des Krankenhauses, Ghassan Abu Sitta, sagte der Deutschen Presse-Agentur: "Es gibt keinen Strom mehr", das Krankenhaus habe seine Arbeit einstellen müssen, Menschen stürben deshalb oder litten und würden in Kürze sterben, sollte sich an der Situation nichts ändern. Auch die Notstromversorgung ist demnach unmöglich. Die Gründe dafür werden unterschiedlich dargestellt.
Der israelische Reserve-Armeesprecher Arye Shalicar schreibt im Nachrichtendienst X (vormals Twitter) von Soldaten, die "ihr Leben riskierten, um 300 Liter Treibstoff für dringende medizinische Zwecke zum Schifa-Krankenhaus zu liefern." Er gibt an, Hamas-Terroristen verhinderten, dass der Treibstoff ins Krankenhaus gelange, obwohl seit Wochen vor Treibstoffknappheit in Krankenhäusern gewarnt werde.
Die israelisch-deutsche Journalistin und Aktivistin Sarah Cohen-Fantl teilt diese Meinung. Die Hamas gebe keine ihrer Treibstoffreserven an das Krankenhaus ab und verbiete es dem Klinikpersonal, die von Israel bereit gestellten Lieferungen zu verwenden. Das soll auch ein Video einer Krankenschwester aus dem Krankenhaus zeigen, das auf X verbreitet wird. Auch diese Angaben lassen sich nicht prüfen.
Der Leiter des Schifa-Krankenhauses, Mohammad Abu Salamia, wies das als "Lüge und Diffamierung" zurück. Zwar dementierte er nicht, dass die Behälter am Krankenhaus abgestellt wurden. Er sagte jedoch, diese Menge würde "keine Viertelstunde" für den Betrieb der Krankenhausgeneratoren reichen.
Außerdem befürchte das Team, beschossen zu werden, wenn es die Klinik verlasse, um die Behälter zu nehmen, sagt Salamia. Wenn Israel wirklich Treibstoff liefern wollte, hätte es diesen in Kooperation mit dem Roten Kreuz oder einer anderen internationalen Organisation schicken können.
Armeesprecher Richard Hecht wiederum sagte, die für Kontakte mit den Palästinensern zuständige israelische Cogat-Behörde habe mit dem Krankenhaus gesprochen, bevor die Behälter abgestellt wurden. "Sie haben den Treibstoff noch nicht genommen, vielleicht hat die Hamas sie daran gehindert", sagte er.
Was sagen unabhängige Stimmen?
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) beklagt "entsetzliche Zustände" in dem Krankenhaus. Demnach konnten Patienten unter anderem keine Dialyse mehr erhalten. Frühgeborene seien zudem ohne Brutkästen in Operationssäle verlegt worden. Zwischenzeitlich hatte die WHO jedoch den Kontakt zum Krankenhaus verloren. Nun schrieb der Chef der WHO, Tedros Ghebreyesus, man habe wieder Informationen von Mitarbeitenden erhalten. Demnach gebe es seit drei Tagen keine Versorgung mit Elektrizität, Wasser und kaum Internetverbindung.
Die Zahl der Todesfälle unter den Patienten sei erheblich gestiegen. Die Klinik funktioniere als Krankenhaus nicht mehr. "Die Welt darf nicht stillschweigend zusehen, wie sich Krankenhäuser, die eigentlich sichere Zufluchtsorte sein sollten, in Schauplätze des Todes, der Verwüstung und der Verzweiflung verwandeln", so Ghebreyesus. Die Angaben der Organisation beziehen sich in Teilen auch auf das dortige Gesundheitsministerium, das von der Hamas kontrolliert wird.
Israel soll Medienberichten zufolge derzeit in Verhandlungen mit der Klinik sein, um Menschen, unter ihnen Neugeborene, in andere Einrichtungen zu bringen.
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Was ist über die Hamas-Zentrale unter der Klinik bekannt?
Unter dem Gebäude allerdings will Israel die Existenz einer Hamas-Kommandozentrale belegt haben, mit Fotos und Audiomaterial, das die Behörden in Teilen zugänglich gemacht hatten. Gegenüber der "New York Times" haben sich jüngst acht aktive und ehemalige israelische Verteidigungs- und Geheimdienstbeamte anonym zu dem Tunnelkomplex geäußert und die Behauptungen bekräftigt.
Die Hamas-Kämpfer sollen demnach in den vergangenen 16 Jahren einen riesigen Kommandokomplex unter dem Krankenhaus eingerichtet haben. Die "New York Times" beruft sich auch auf US-amerikanische Behörden mit Zugang zu Geheimdienstinformationen. Strom für dessen Betrieb habe die Hamas bereits früher teilweise vom Krankenhaus abgezweigt.
Zunächst habe die Hamas einfache Bereiche aus den ursprünglichen Kellern des Gebäudes gegraben, später sei sie tiefer gegangen und habe Stockwerke hinzugefügt und mit verstärkten Tunneln miteinander verbunden. Zu dem Komplex soll es mehrere Zugänge geben. Den Angaben der Beamten zufolge sei das Gebäude ein Knotenpunkt des riesigen Hamas-Tunnelsystems im Gazastreifen.
Die Räume dienten als Waffenlager und Wohnräume sowie für Treffen der Hamas-Kämpfer. Der Komplex könne mindestens mehrere hundert Personen aufnehmen. Auch sollen Bereiche des Krankenhauses genutzt worden sein: Hamas-Kämpfer sollen in Räumen der Ambulanz der Klinik Verdächtige verhört und sogar gefoltert haben.
Die Hamas und das Krankenhauspersonal bestreiten das. Im Gespräch mit t-online sagte ein Arzt, der in der Klinik tätig war, dass er dort keine Hamas-Kämpfer gesehen habe. Lesen Sie hier das ganze Interview. Die Hamas bestreitet außerdem die Existenz dieser Tunnelanlage.
Es ist unklar, ob sich dort aktuell Kämpfer der Hamas aufhalten und von dort Angriffe auf Israel oder im Gazastreifen befindliche israelische Soldaten steuern. Der Komplex unter dem Krankenhaus gilt als eines der wichtigsten israelischen Kriegsziele. Die "New York Times" berichtet weiter, es werde daher wohl nicht unangetastet bleiben, trotz der wachsenden internationalen Kritik am Vorgehen Israels.
- nytimes.com: "Israeli Forces Near a Struggling Hospital They Say Covers a Hamas Complex" (englisch)
- X: @DrTedros, @WHO, @aryeshalicar, @SarahFantl
- timesofisrael.com: "The Hamas compound Israeli troops expect to find under Gaza City’s Shifa Hospital" (englisch)
- sz.de: "Israel kämpft um die öffentliche Gunst"
- Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa, AFP, Reuters