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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Verhandlungen im Nahen Osten "China will nicht mehr vom Spielfeldrand zuschauen"
Israel plant nach dem Angriff der Hamas-Terroristen auf den jüdischen Staat eine Bodenoffensive in Gaza. Sicherheitsexperte Wolfgang Ischinger zweifelt an dem Vorhaben.
Mit dem Angriff der Terrororganisation Hamas auf Israel ist im Nahen Osten ein Krieg ausgebrochen. Der Diplomat und Sicherheitsexperte Wolfgang Ischinger hält die USA für einen Garanten dafür, dass sich der Krieg nicht auf die Region ausdehnt. Im Interview mit t-online erklärt der ehemalige deutsche Botschafter, dass auch dem Regime im Iran nicht daran gelegen sein kann. An der EU und dem dysfunktionalen UN-Sicherheitsrat übt er heftige Kritik.
t-online: Herr Ischinger, offenbar sind viele Vermittler im Nahen Osten unterwegs, allen voran der US-Außenminister Antony Blinken, um eine Ausweitung des Krieges in Gaza auf die ganze Region zu verhindern. Haben Sie den Eindruck, der Versuch gelingt?
Wolfgang Ischinger: Das hoffe ich sehr, denn eine Ausweitung wäre eine militärische und humanitäre Katastrophe. Schon jetzt handelt es sich um eine gefährliche Krise, die sich global auswirkt. Denn nicht nur im Verhältnis zwischen Palästinensern und Israelis ist ein Tiefpunkt erreicht, sondern auch die westliche Iran- und Nahostpolitik liegt blank.
Was kann zum Beispiel die Terrororganisation Hisbollah daran hindern, eine zweite Front zu eröffnen?
Erstens hoffentlich die Abschreckung durch die Präsenz der US-Marine in der Region und zweitens hoffentlich der iranische Einfluss, denn dem Iran kann aktuell eigentlich nicht an einem großen Krieg gelegen sein. Aber sicher kann man sich da nicht sein, denn Hass ist stärker als Vernunft.
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Der Iran ist die entscheidende Macht, die Hamas und Hisbollah in jeder Hinsicht alimentiert. Haben Sie den Eindruck, dass es Versuche gibt, mit dem Regime in Teheran zu reden?
Natürlich gibt es solche Versuche. Die USA waren gerade auf gutem Wege, mit dem Iran einen Kompromiss über die Begrenzung und Überwachung des Atomprogramms auszuhandeln. Dazu gab und gibt es viele Gespräche, aber natürlich auch zwischen dem Iran und anderen Mächten wie Russland und China.
Welche Botschaft sollte dem Iran mitgeteilt werden?
Bloß nicht zündeln! Wenn der Iran in dieser Lage Zurückhaltung und Verantwortungsbereitschaft zeigen sollte, könnten unter Umständen einige Sanktionen in der Folge erleichtert werden. Mir fehlt allerdings, was die Mullahs anbelangt, der Glaube an die Bereitschaft zur Mäßigung.
Welches Land könnte am ehesten in Teheran Gehör finden?
China hat es geschafft, den Iran und Saudi-Arabien zum Händeschütteln zu bewegen; darauf lässt sich aufbauen. Die USA besitzen die Sanktionswaffe. Wir Europäer haben nichts.
Was kann Diplomatie in Zeiten von Krieg eigentlich erreichen?
Diplomatie kann auch schon im Krieg eine wichtige Rolle übernehmen. Aber um Krieg führende Parteien zum Frieden zu bewegen, reicht Diplomatie allein oft nicht aus. Konfliktdiplomatie ohne militärische Machtoption bleibt meistens ein zahnloser Tiger. Das wollten wir in Deutschland mit unserer Vorliebe für "Frieden schaffen ohne Waffen" allzu lange nicht wahrhaben.
Wie lässt sich Vertrauen aufbauen, wenn doch Hass und Rachsucht überwiegen?
Vertrauen, so sagt man unter Diplomaten, ist die Währung der Diplomatie. Vertrauen ist leicht zu verlieren – siehe Putins Lügengespinst um den Großangriff auf die Ukraine. Vertrauen ist nur sehr schwer zurückzugewinnen und dauert oft Jahre. Mein Rezept für Unterhändler lautet so: Ganz klein anfangen. Der Getreide-Deal wäre ein guter Beitrag für Vertrauensbildung gewesen, wenn Russland ihn dauerhaft respektiert hätte.
Wie kann Vertrauen entstehen, wenn doch Misstrauen aus Erfahrung tief verwurzelt ist?
In der Rüstungskontrollpolitik sagt man: Vertraut nicht, verifiziert! Das konkrete Handeln muss überprüft werden, zum Beispiel mit Satellitendaten. Daraus kann das Pflänzchen Vertrauen erwachsen. Doch das ist mühsam und langwierig.
Sie haben Erfahrung im Umgang mit Mächten im Krieg. Was würden Sie Ihren Kollegen heute empfehlen?
Wir haben bei früheren Konflikten gute Erfahrungen mit Kontaktgruppen aus mehreren respektablen Ländern gemacht. Ich empfehle dringend, sowohl im Fall der Ukraine wie im Nahen Osten, die Bildung einer solchen Gruppe – zum ersten Mal unter Beteiligung Chinas. China will nicht mehr vom Spielfeldrand zuschauen, soviel ist klar.
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Welche Länder, welche Diplomaten werden sowohl von Israel als auch von der Hamas als respektable Vermittler betrachtet?
Jedenfalls leider nicht die in sich zerstrittene Europäische Union, und auch der UN-Generalsekretär verfügt wegen des dysfunktionalen Sicherheitsrates nicht über die notwendige Glaubwürdigkeit und Autorität, jedenfalls nicht in Israel. Als Vermittler kommen die USA wegen ihrer militärischen Präsenz in der Region infrage, aber eben auch eventuell China. Russland und die Türkei würden gerne eine hervorgehobene Rolle übernehmen, genießen aber weder in Israel noch im Westen das nötige Vertrauen. Europa? Fehlanzeige.
UN-Generalsekretär António Guterres hat einen humanitären Waffenstillstand empfohlen. Auf welcher Grundlage fußt sein Vorschlag?
Gegen eine Feuerpause aus humanitären Gründen ist eigentlich nichts einzuwenden. Aber sowohl für Gaza als auch für den Donbass gilt: Wer verhindert dann den Nachschub an Soldaten in der Ukraine und Terroristen in Gaza? Wer verhindert den Nachschub mit Waffen und Munition? Was wäre gewonnen, wenn nach der Feuerpause der Krieg umso erbitterter geführt wird und umso länger dauert? Nichts wäre gewonnen.
Dass die Europäische Union einen erbärmlichen Eindruck hinterlässt, gilt als ausgemacht. Warum entsteht fast zwangsläufig dieses Bild in Krisen und Kriegen?
Weil sich die EU nicht vom Prinzip der Einstimmigkeit verabschieden konnte. Sie verhandelt in grotesker Kleinstaaterei wie im 19. Jahrhundert. Wir brauchen neben der wirtschaftlichen Integration eine zweite Idee für Europa – ein Europa, das schützt, wie Emmanuel Macron sagt, ein wehrhaftes Europa.
Ob sich der Krieg in Gaza zu einem großen Krieg ausweitet, hängt auch von der erwarteten Bodenoffensive ab. Momentan bleibt sie aus, weil die Hamas immer mal einige wenige Geiseln freilässt.
So ist es, aber vielleicht ist die Bodenoffensive gar nicht im strategischen Interesse Israels, denn militärisch könnte es in die Falle der Hamas tappen. Die Hamas hofft auf möglichst blutige Bilder aus Gaza, das ist nach dem genozidartigen Terror am 7. Oktober natürlich der Gipfel des Zynismus. Vergeltung allein aber macht noch keinen strategischen Sieg aus. Die Führung der Hamas kann vielleicht liquidiert werden, aber der Hydra wachsen sicherlich neue Köpfe, wenn dem Krieg kein politisches Konzept folgt.
Die Hamas kann noch wochenlang immer einige wenige Geiseln freigeben. Wie lange, glauben Sie, macht Israel dieses Geduldsspiel noch mit?
Hoffentlich so lange, bis alle Geiseln frei sind. Mir ist sehr wohl bewusst, wie viel Mäßigung und Zurückhaltung Israel abverlangt wird, fast zu viel. Das alles ist nach dem Hamas-Massaker vor allem für die Angehörigen der zahllosen Terroropfer unendlich bitter.
Reichen die täglichen Luftschläge in Gaza, die Zerstörung der Tunnel und die Tötung von Hamas-Kommandeuren als Vergeltung für den Mord an so vielen israelischen Zivilisten aus?
Nichts, aber auch gar nicht reicht aus, um Vergeltung zu üben. Aber bestimmte Maßnahmen wie die Zerstörung des Tunnelsystems sind vermutlich zwingend notwendig, um die Wiederholung eines solchen Massenmordes zu verhindern. Israel darf, kann und muss seine Bevölkerung schützen. Da gibt es nichts zu relativieren. Dem Argument, dass sich Israel nicht an UN-Resolutionen gehalten hat, ist entgegenzuhalten, dass Terrororganisationen wie die Hamas die totale Auslöschung Israels zum Ziel haben. Mit Terroristen verhandelt man nicht. Eine Ausnahme kann es allenfalls zum Zweck der Befreiung der Geiseln geben.
In Amerika kursiert der Vorschlag, dass Israel die Bodenoffensive mit dem Vorschlag zur Rückkehr über die Zweistaatenlösung begleiten sollte. Eine gute Idee?
Wann wäre ein klug gewählter Zeitpunkt für einen neuen Friedensplan? Im Prinzip je früher, desto besser. Aber mit schnellem Vorpreschen ist niemandem gedient. Ein Friedensplan muss sehr sorgfältig mit vielen Akteuren abgestimmt sein, wenn daraus kein Rohrkrepierer hervorgehen soll. Denn was am 7. Oktober 2023 geschehen ist, so hat es Richard Chaim Schneider geschrieben, erschüttert Israel grundsätzlicher und nachhaltiger als alles, was Juden seit 1945 widerfahren ist. Schlagartig macht sich wieder das Gefühl der Schutzlosigkeit breit.
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Benjamin Netanjahu macht sich den Vorschlag wohl kaum zu eigen. Wer dann?
Ob Netanjahu diesen Epochenbruch übersteht, bleibt abzuwarten. Viele Israelis machen ihn persönlich dafür verantwortlich, dass er mehr an den Erhalt seiner Macht als an die Zukunft seines Landes gedacht hat.
Wie beurteilen Sie das Verhalten des amerikanischen Präsidenten Joe Biden in diesen Tagen?
Fehlerlos. Gott sei Dank haben wir in Joe Biden einen erfahrenen Kenner des Nahen Ostens und Europas. Kein Anzeichen von Senilität!
Im Irak, im Libanon und in Syrien hat sich der amerikanische Einfluss dezimiert. Wie viel Gewicht bleiben den USA im Nahen Osten?
Immer noch sehr viel. Im Falle des Falles wären die USA die einzige Macht in der Region, die militärisch glaubwürdig abschrecken und intervenieren könnte. Russland ist wegen des verfehlten Krieges gegen die Ukraine militärisch geschwächt und politisch angeschlagen.
Zugleich bleibt Amerika in alten Konfliktzonen gefangen, obwohl es sich seit vielen Jahren auf den Systemwettbewerb mit China konzentrieren will, auch militärisch. Ist das nicht ein ziemlich großes Dilemma?
Ja, das ist es. Es entsprach sicherlich nicht dem Kalkül der USA, ihre militärische Präsenz im Nahen Osten und in Europa zu verstärken. Es rächt sich eben, das ist das Fazit, Konflikte ungelöst vor sich hindämmern zu lassen in der Hoffnung, sie erledigten sich allmählich von selber. Tun sie aber nicht, siehe Nahost, siehe aber auch Kosovo oder Nagorny-Karabach.
Hegen Sie, wie so viele, die Befürchtung, dass Donald Trump ins Weiße Haus zurückkehrt und die amerikanische Außenpolitik auf den Kopf stellt?
Ich bleibe Optimist und sehe Trump eher vor Gericht als im Weißen Haus.
Herr Ischinger, danke für dieses Gespräch.
- Gespräch mit Wolfgang Ischinger