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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Waffenruhe im Kaukasus? Was den Armeniern in Bergkarabach nun droht
Nach nur einem Tag ist in Bergkarabach vorerst eine Waffenruhe eingekehrt – unter Einfluss Russlands. Doch was bedeutet sie nun für die Armenier in der Region?
Sie verbrachten die Nacht in dunklen Kellern und Bunkern: Zahlreiche Armenier mussten sich in der Kaukasusregion Bergkarabach am Dienstagmorgen in Sicherheit vor Angriffen durch Aserbaidschan bringen. Die aserbaidschanische Regierung in Baku ließ die Region, in der mehr als 100.000 Armenier wohnen, durch ihre Armee mit Artillerie, Kampfflugzeugen, Bodentruppen und Drohnen angreifen.
Auch Zivilisten wurden bei den Angriffen getötet oder verletzt. Nun, einen Tag später, ruhen die Waffen.
Wie die Behörden von Bergkarabach in der Hauptstadt Stepanakert erklärten, hätten sie den Forderungen Aserbaidschans nach Vermittlung durch die in der Region stationierten russischen Truppen nachgegeben. "Die Armenier in Bergkarabach hatten militärisch keine Chance", erklärt Stefan Meister, Südkaukasus-Experte von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, diesen Schritt im Gespräch mit t-online. In die Waffenruhe einzuwilligen und damit die Forderungen Aserbaidschans zu erfüllen, sei der einzige Weg gewesen, um weitere Tote und Verletzte zu verhindern.
Am Donnerstag nun wollen Vertreter des angegriffenen Bergkarabach mit der aserbaidschanischen Seite in Verhandlungen treten. Doch was ist dabei zu erwarten? Und: Welche Bedeutung hat die Waffenruhe jetzt für Russland?
Welche Vereinbarung haben Bergkarabach und Aserbaidschan getroffen?
Die Armenier in der angegriffenen Region Bergkarabach sind den Forderungen Aserbaidschans für eine Waffenruhe gänzlich nachgekommen und haben sich ergeben. Sie erklärten, sie seien international im Stich gelassen worden und beugten sich der Übermacht der aserbaidschanischen Streitkräfte. Ab Mittwoch um 11 Uhr gilt so nun eine Waffenruhe für die umstrittene Kaukasusregion. Die Kämpfer vor Ort müssen ihre Waffen niederlegen.
Aus der aserbaidschanischen Präsidialverwaltung hieß es, nach der Kapitulation der Armenier sollten "Fragen der Wiedereingliederung" Bergkarabachs besprochen werden. Unklar blieb zunächst, ob sich auch die Armenier in Bergkarabach mit der aserbaidschanischen Zentralregierung in Baku arrangieren oder ob große Bevölkerungsteile nach Armenien auswandern.
Armenien hatte Aserbaidschan zuletzt am Dienstag den Versuch "ethnischer Säuberungen" vorgeworfen, was die Regierung in Baku zurückgewiesen hat. In einer UN-Resolution aus dem Jahr 2020 wurde das Gebiet, auf dem mehr als 100.000 Armenier leben, bis zu einer endgültigen Lösung des Konflikts zwar Aserbaidschan zugesprochen. Bergkarabach sieht sich jedoch als unabhängig an und bezeichnet sich als Republik Arzach. Mehr zu den Hintergründen des Konflikts lesen Sie hier.
Was ist von den Verhandlungsgesprächen zu erwarten?
Die Armenier in Bergkarabach sind der aserbaidschanischen Armee militärisch unterlegen. Aserbaidschan wird in dem Konflikt von der Türkei unterstützt, auf Bergkarabachs Seite hatten sich jedoch weder Armenien noch Russland bereit gezeigt, die Region militärisch zu verteidigen, im Gegenteil:
In ihrer Vermittlung der Waffenruhe kamen die russischen Soldaten vor Ort den aserbaidschanischen Forderungen gänzlich nach. Von der Regierung in Armenien hieß es, man sei nicht an dem Beschluss beteiligt gewesen, lediglich die Behörden in Bergkarabach hätten mitgesprochen.
Auch von den Verhandlungen am Donnerstag ist nicht zu erwarten, dass die Behörden von Bergkarabach Forderungen an Aserbaidschan stellen können. Das bedeutet: "Im Endeffekt werden die Armenier bei allem zustimmen müssen, was die Aserbaidschaner ihnen vorschlagen", sagt Meister. Die Frage sei, ob Aserbaidschan dann mit den Angriffen aufhöre, oder ob die Regierung in Baku wieder einen Vorwand suche, um die Menschen in Bergkarabach in Richtung Armenien zu vertreiben oder gar zu töten.
Welche Zukunft haben die Armenier in Bergkarabach?
Die Zukunft der Armenier in Bergkarabach hängt davon ab, was Aserbaidschan nun tut – auch nach den Verhandlungen. Vorerst werde sich Aserbaidschan sicher an die Vereinbarungen halten, die nun geschlossen werden sollen. An einer langfristigen Duldung von Armeniern in Bergkarabach aber zweifelt Meister. "Kein Armenier ist mehr sicher in Bergkarabach, ob nun mit oder ohne Waffenruhe", sagt er. "Die Armenier werden Bergkarabach verlassen müssen oder es geht um ihr Leben. Ich sehe keine Alternative."
In Aserbaidschan herrsche ein autoritäres Regime, das aufgrund des verlorenen Kriegs Anfang der 1990er-Jahre und ethnischen Säuberungen auf beiden Seiten eine tiefe Rachsucht gegenüber den Armeniern hege. "Es wird eine ethnische Säuberung geben", glaubt der Experte daher. Aserbaidschan werde armenische Kulturdenkmäler in Bergkarabach, wie Kloster oder Kirchen, zerstören.
Mit einer solchen Aussicht für die armenische Bevölkerung in Bergkarabach hat die aserbaidschanische Regierung so ihr Ziel erreicht – auch ohne den Angriff auf die Region fortzusetzen.
Welche Bedeutung hat Russlands Vermittlung?
Russland hat seit dem Jahr 2020 nach einem kurzen Krieg zwischen den beiden früheren Sowjetrepubliken sogenannte "Friedenstruppen" in der Region stationiert und gilt als Schutzmacht Armeniens. Nach dem Beschuss Bergkarabachs durch Aserbaidschan präsentierte sich Russlands Präsident Wladimir Putin sogleich als vermeintlicher Friedenstifter. Bereits kurz nach Beginn des Angriffs forderte er eine friedliche Beendigung des Konflikts im Kaukasus. Auch teilte das russische Verteidigungsministerium Videos, in denen zu sehen sein soll, wie russische Soldaten Zivilisten vor Ort evakuieren.
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Kurz nach dem Waffenstillstand am Mittwoch aber bezeichnete der Kreml die aserbaidschanischen Angriffe auf Stellungen in Bergkarabach offenbar de facto als innerstaatliche Angelegenheit. "De jure sprechen wir über Aktionen Aserbaidschans auf seinem Territorium", zitierte das russische Exilmedium "Meduza" am Mittwoch Kremlsprecher Dmitri Peskow.
Stefan Meister
ist Leiter des Programms Internationale Ordnung und Demokratie der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Zuvor leitete er zwei Jahre lang das Südkaukasus-Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Tbilisi, Georgien. Meister studierte Politikwissenschaft und Osteuropäische Geschichte und ist Experte für Politik, die politische Ordnung und die Beziehungen der Staaten in Osteuropa, Russland und dem Südkaukasus.
Auch nach der Waffenruhe will der Kreml seine "Friedenstruppen" in der Region lassen. "Russland hat die Region unter Kontrolle und kann Bergkarabach als Verhandlungsmasse nutzen, wenn Moskau das will", sagt Südkaukasus-Experte Meister. Dafür habe Russland jedoch auch massiv an Ansehen in Armenien eingebüßt. "Für Armenien hat Russland als Schutzmacht komplett versagt", so der Experte.
Das aber tritt hinter dem Gewinn, den der Ausgang für Russland nun hatte, offenbar zurück: Russland hat ein Interesse an einem Korridor zum Iran und nach Indien über aserbaidschanisches Gebiet. Darüber könne Moskau neue Handelswege erschließen und die Sanktionen, die die EU infolge des russischen Angriffskrieges gegen das Land verhängt hat, besser umgehen, auch mit Blick auf die Türkei. "Das scheint Moskau wichtiger zu sein als die Existenz von Bergkarabach und der Armenier vor Ort", so Meister.
Kann der Westen den Armeniern in Bergkarabach helfen?
Der Westen könnte Aserbaidschan laut Meister unter Druck setzen, mit Sanktionen drohen oder auch Friedenstruppen schicken. Bemühungen dahingehend gibt es allerdings nicht – denn zumindest in Deutschland besteht kein Interesse daran, mit der Regierung in Baku auf Konfrontationskurs zu gehen. "Aserbaidschan ist für Deutschland und die Europäische Union ein Partner von wachsender Bedeutung", konstatierte Bundeskanzler Olaf Scholz noch im März bei einem Treffen mit Ilham Alijew, dem Präsidenten Aserbaidschans. Denn: Das Land habe "das Potenzial, einen wichtigen Beitrag zur Diversifizierung der deutschen und europäischen Energieversorgung zu leisten, wenn es um Öl und Gas geht", so Scholz.
Vonseiten der Bundesregierung blieb es darum bei verbalen Verurteilungen des Angriffs. Und auch in den vergangenen Monaten hatte sich diese zurückhaltend gezeigt, als Aserbaidschan die Armenier in Bergkarabach durch eine Blockade des Latschin-Korridors von der Außenwelt abschnitt. Der Korridor gilt als einzige Zufahrtsstraße zu Bergkarabach, mit ihrer Blockade kamen in den vergangenen Monaten weder Lebensmittel noch Medikamente in die Region. Hier lesen Sie mehr dazu.
"Der Westen hat versagt", sagt Meister darum. Trotz diplomatischer Bemühungen habe Aserbaidschan den Angriff auf Bergkarabach sichtbar gut vorbereitet und verübt. "Das ist ein Bankrott für westliche Diplomatie", so der Experte. "Man wird sich weiter mit Lippenbekenntnissen abgeben", kritisiert Meister. Was nun bleibe, sei, dass die EU humanitäre Hilfe für die Armenier in Bergkarabach zur Verfügung stellen könne. Angekündigt ist diese bislang nicht.
- Interview mit Stefan Meister am 20. September 2023
- sueddeutsche.de: "Öl und Gas vom autoritären Regime in Baku"
- Mit Material der Nachrichtenagenturen Reuters, AFP und dpa