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Blockade von Bergkarabach: "Schuld ist Aserbaidschan, verantwortlich Russland"


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Krise im Kaukasus
"Er nutzt die Schwäche Russlands aus"


29.12.2022Lesedauer: 6 Min.
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Polizei an einem Checkpoint zum Latschin-Korridor: Die Strecke wird von den Karabach-Armeniern auch "Straße des Lebens" genannt. (Quelle: IMAGO/Alexander Patrin)

Seit mehr als zwei Wochen ist Bergkarabach bereits von der Außenwelt abgeschnitten – mit verheerenden Folgen. Im Fokus steht auch der Kreml.

Zu wenig Lebensmittel, Medikamente, Treibstoff. In Bergkarabach droht 120.000 Menschen eine humanitäre Katastrophe. Die Region gehört völkerrechtlich zu Aserbaidschan, wird aber hauptsächlich von Armeniern bewohnt. Aserbaidschan blockiert mit dem Latschin-Korridor die einzige Verbindung Bergkarabachs zu Armenien – und damit zur Außenwelt. Eine Lösung ist nicht in Sicht.

Nelli Aghayan ist Ärztin in Bergkarabachs Hauptstadt Stepanakert. "Es sind schon Menschen wegen der Blockade gestorben", sagt sie im Gespräch mit t-online. Normalerweise würden Schwerstkranke in die armenische Hauptstadt Eriwan gebracht, um dort behandelt zu werden. Das geht nun nicht mehr – nur eine einstellige Zahl an Patienten konnte unter Vermittlung des Internationalen Roten Kreuzes nach Armenien transportiert werden.

Patienten mit chronischen Erkrankungen wie Diabetes oder Krebs bekämen kaum noch Medikamente in den Apotheken. Auch für Herzoperationen fehlten Arzneimittel.

(Quelle: Nelli Aghayan)

Nelli Aghayan

ist Ärztin am Republikanischen Medizinischen Zentrum in der Hauptstadt Bergkarabachs, Stepakanert. Die 44-Jährige spricht Deutsch und war bereits mehrfach für Hospitanzen an deutschen Krankenhäusern zu Gast.

Seit dem 12. Dezember dauert die Blockade nun schon. Vermeintliche Umweltaktivisten aus Aserbaidschan versperren die Straße, die für die Versorgung der Region so essenziell ist. Ihr Vorwurf: In zwei Minen in Bergkarabach werde illegaler Bergbau betrieben.

"Aserbaidschan schert sich nicht um Umweltfragen"

Der Südkaukasus-Experte Stefan Meister von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik glaubt daran nicht. "Aserbaidschan schert sich bisher auf dem von ihm kontrollierten Staatsgebiet überhaupt nicht um Umweltfragen. Und das soll in diesem Fall nun plötzlich anders sein?" Für ihn ist klar: Es handelt sich um einen Vorwand. "Schaut man sich an, wie sich diese Personen bewegen und wie sie agieren, ist offensichtlich, dass das keine Umweltaktivisten sind, sondern Personen mit militärischer Ausbildung", sagt er t-online.

Dass es überhaupt zu der Blockade gekommen ist, lasten die Armenier auch Russland an – der vermeintlichen Schutzmacht. Die Region Bergkarabach ist eine der am stärksten umkämpften der Neuzeit. Immer wieder kam es in der Vergangenheit zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. Der letzte Krieg dauerte 44 Tage und endete im November 2020 mit einem Abkommen für einen Waffenstillstand. Teil des Abkommens ist der nun blockierte Latschin-Korridor – und dessen Überwachung durch russische Friedenstruppen.

Der Konflikt um Bergkarabach

Der Konflikt ist einer der ältesten der Neuzeit. Die Führung der Sowjetunion sprach das überwiegend armenisch bewohnte Gebiet 1921 Aserbaidschan zu. Dagegen gab es in Bergkarabach immer wieder Proteste, bis Ende der 1980er-Jahre ein blutiger Konflikt ausbrach, in den schließlich auch Armenien einstieg und gemeinsam mit der Armee Bergkarabachs die Region unter ihre Kontrolle brachte. 2020 startete Aserbaidschan eine Offensive, um die Region zurückzuerobern. Bergkarabach selbst bezeichnet sich als unabhängig, in einer UN-Resolution wurde das Gebiet bis zu einer endgültigen Lösung des Konflikts Aserbaidschan zugesprochen.

"Schuld ist Aserbaidschan, aber verantwortlich ist Russland", sagt deswegen Nelli Aghayan. Doch der Kreml hält sich zurück. Bei einem inoffiziellen Treffen der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), einem Bündnis aus Ex-Sowjetstaaten, trafen der aserbaidschanische Präsident Ilham Aliyev, der armenische Ministerpräsident Nikol Paschinjan und der russische Präsident Wladimir Putin zwar für Gespräche zusammen. Öffentliche Ergebnisse gab es jedoch nicht.

"Putin will sich keine blutige Nase holen"

"Russland hat eigene Interessen, die nicht unbedingt mit den Interessen der Armenier oder der Aserbaidschaner überlappen", erklärt Experte Meister. Putin wolle zwar ein zentraler Akteur in dem Konflikt bleiben – "weil er damit eine Machtressource hat". Gleichzeitig hat sich Moskau jedoch der Türkei zugewandt, um Sanktionen aufgrund des Ukraine-Krieges zu umgehen – und in Ankara steht man klar aufseiten Aserbaidschans.

Zudem nutzt Russland nicht zuletzt auch Aserbaidschan für seine ökonomischen Interessen. Es gehe auch um russisches Gas, so Meister, das möglicherweise über Aserbaidschan nach Europa fließe. Und um Transportkorridore, die Russland kontrollieren möchte. So sei Moskau offenbar bereit, Kompromisse zu machen, auf Kosten der Armenier. "Putin will sich keine blutige Nase holen zwischen diesen beiden Konfliktparteien, führt er doch einen anderen blutigen Krieg in der Ukraine", sagt Meister.

(Quelle: DGAP)

Stefan Meister

ist Leiter des Programms Internationale Ordnung und Demokratie der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Zuvor leitete er zwei Jahre lang das Südkaukasus-Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Tbilisi, Georgien. Meister studierte Politikwissenschaft und Osteuropäische Geschichte und ist Experte für Politik, die politische Ordnung und die Beziehungen der Staaten in Osteuropa, Russland und dem Südkaukasus.

"Es hat nicht für alle gereicht"

Die Leidtragenden sind die Menschen in Bergkarabach: "Die Läden sind leer", berichtet Nelli Aghayan. Fleisch und Milchprodukte gebe es noch – aber keinen Käse. "Gestern gab es eine lange Schlange vor einem Geschäft, das Obst und Gemüse hatte. Aber es hat nicht für alle gereicht." Auch Babynahrung sei knapp. Die meisten Lebensmittel wurden bisher aus Armenien importiert, rund 400 Tonnen Ware waren es vor der Blockade jeden Tag.

Auch Treibstoff gebe es nun zu wenig, die Folge sei ein Verkehrschaos. In den ersten Tagen habe Aserbaidschan zudem das Gas abgedreht. Tausende Karabach-Armenier konnten nicht mehr heizen, erzählt die Ärztin. "Und das bei unter null Grad!"

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Die vier Ziele Aserbaidschans

Die Bewohner Bergkarabachs werden so instrumentalisiert. Politologe Stefan Meister identifiziert vier Ziele, die Aserbaidschan mit der Blockade verfolge:

  • Erstens wolle Baku den Zugang zu Bergkarabach selbst kontrollieren, schließlich führe der Korridor über aserbaidschanisches Gebiet. Das widerspricht aber dem Waffenstillstandsabkommen, wonach dafür die russischen Friedenstruppen zuständig sind.
  • Zweitens wolle Aserbaidschan die Friedenstruppen vertreiben – "und austesten, wie Russland reagiert."
  • Drittens wolle Aserbaidschan die Errichtung des sogenannten Zangezur-Korridors durch Erpressung erreichen. Dabei handelt es sich um eine von Aserbaidschan geforderte Transitstrecke vom Kernland zur Exklave Nachitschewan – über armenisches Gebiet. Die Regierung Paschinjans lehnt das ab.
  • Viertens wolle Aserbaidschan die Karabach-Armenier verängstigen und mittelfristig aus der Region vertreiben, sagt Experte Meister. "Mit solchen Aktionen macht man das Leben der Leute dort unmöglich."

Trotz des Waffenstillstandes befinden sich Armenien und Aserbaidschan de facto noch immer im Kriegszustand, erklärt Meister. Seit zwei Jahren sei es die Taktik des aserbaidschanischen Präsidenten Aliyev, über militärischen Druck zu einer Verhandlungslösung in seinem Sinne zu kommen. "Aserbaidschan nutzt jetzt die Schwäche Russlands und Armeniens aus", sagt er. Daher sei das Eskalationspotenzial hoch – sowohl an der armenisch-aserbaidschanischen Grenze, wo es im September nach einem aserbaidschanischen Angriff auf armenisches Kernland insgesamt 300 Tote gab, vor allem aber in Karabach. Dort könne es jederzeit zu einer Attacke Aserbaidschans kommen. "Die Angst der Leute vor einem neuen Krieg ist groß."

Das bestätigt auch Nelli Aghayan aus Stepanakert. "Natürlich haben wir Angst, dass es wieder Krieg geben könnte", sagt die Ärztin. "Wir haben schon viel in unserem Leben gesehen – und viel verloren."

Zurückhaltung in der EU – trotz rhetorischer Eskalation

Die Sorgen der Armenier werden dabei durch jüngste Äußerungen des aserbaidschanischen Präsidenten befeuert. Armenien gehöre historisch zu Aserbaidschan, sagte dieser. Sein Land habe Eriwan, Armeniens Hauptstadt, 1918 an Armenien "gespendet". "Ein unverzeihlicher Schritt, es war Verrat und es war ein Verbrechen", so Aliyev in einer Rede am Sonntag. Armenien sei heute eine faktische Diktatur – dabei ist es Aserbaidschan, das als harte Autokratie gilt, während Armenien als defizitäre Demokratie gelistet wird.

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Trotz dieser rhetorischen Muster, die man auch von Putin mit Blick auf die Ukraine kennt, halten sich die EU und Deutschland bislang zurück. Am deutlichsten wurde bislang Frankreich, das sich bereits in der Vergangenheit klar auf die Seite von Armenien gestellt hat. In einem Telefonat forderte Präsident Emmanuel Macron seinen aserbaidschanischen Amtskollegen auf, den Latschin-Korridor freizugeben. Dieser leugnete hingegen, dass es überhaupt eine Blockade gibt. Am Verhandlungstisch akzeptiert Aliyev Macron ohnehin nicht mehr.

Als neutraler Vermittler hatte sich in der Vergangenheit vor allem EU-Ratspräsident Charles Michel versucht. "Meine These ist: Die EU hält sich zurück, um diese Rolle als ehrlicher Makler beizubehalten", sagt Politologe Stefan Meister. Aus Armenien kam harsche Kritik an der EU, vor allem für den Gasdeal mit Aserbaidschan. Dass dieser in der aktuellen Situation eine große Rolle spiele, glaubt der Experte jedoch nicht, dazu seien die Mengen zu klein. Klar sei jedoch: "Ab irgendeinem Punkt muss man den Druck erhöhen, um eine erneute Eskalation zu verhindern."

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"Statements bringen am Ende nicht viel"

In Deutschland scheint man dazu im Moment nicht bereit zu sein. Das Auswärtige Amt teilt auf t-online-Anfrage mit, die Bundesregierung verfolge zusammen mit ihren Partnern in der EU die Lage "sehr aufmerksam". "Dabei steht die Bundesregierung sowohl mit Vertretern Armeniens als auch Aserbaidschans in stetigem Kontakt und ruft zu einer raschen friedlichen Einigung und zur Unterlassung aggressiver Rhetorik auf", so ein Sprecher.

Stefan Meister von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik positioniert sich eindeutiger. Derzeit sei der Aggressor eher Aserbaidschan, auch wenn es in der Vergangenheit eher Armenien gewesen sei, sagt er. Jetzt gelte es, eine dauerhafte Lösung zu finden. "Dafür bringen Statements am Ende nicht viel."

Auch Nelli Aghayan aus Bergkarabach reicht das nicht. Mit ihrer ganzen Familie sei sie auf Demonstrationen gewesen, erzählt sie, aber eine Lösung sei nicht in Sicht. Daher appelliert sie an Deutschland und die EU. "Mein Aufruf, und der aller Ärzte hier, ist: Ergreifen Sie scharfe Maßnahmen! Handeln Sie, um die humanitäre Katastrophe abzuwenden!"

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