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Iran | Expertin: "Das scheuen die Menschen wie der Teufel das Weihwasser"


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"Iran ohne Islam"
Abkehr vom Glauben

  • Marianne Max
InterviewVon Marianne Max

Aktualisiert am 21.03.2023Lesedauer: 6 Min.
Eine junge Frau stellt sich den Regimekräften des islamischen Regimes ohne Hidschab entgegen: Im Iran riskiert sie damit verschleppt, gefoltert oder gar getötet zu werden.Vergrößern des Bildes
Eine junge Frau stellt sich den Kräften des islamischen Regimes ohne Hidschab entgegen: Im Iran riskiert sie damit, verschleppt, gefoltert oder gar getötet zu werden. (Quelle: Twitter/@1500tasvir)
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Unter dem Deckmantel eines vermeintlich "wahren Islams" geht das islamische Regime brutal gegen die Menschen im Iran vor. Was macht das mit dem Glauben in der Bevölkerung?

Seit sechs Monaten tönt es von den Straßen Irans: "Tod dem Diktator!", "Nieder mit Chamenei!" oder: "Jin, Jiyan, Azadi!" (zu deutsch: Frau, Leben, Freiheit). Die Menschen demonstrieren gegen das islamische Regime, das seine Herrschaft auf eine rigorose Auslegung des Islams stützt und versucht, sich mit aller Gewalt an der Macht zu halten: Laut der Human Rights Activists News Agency (HRANA) wurden seit Beginn der Proteste im September 2022 mindestens 530 Menschen getötet. Darunter 71 Minderjährige. Fast 20.000 Menschen wurden in Foltergefängnisse des Regimes verschleppt, viele von ihnen in willkürlichen Prozessen zum Tode verurteilt.

Zahlreiche Iraner und Iranerinnen haben sich deshalb nicht nur von der Islamischen Republik, sondern auch vom Islam als Religion abgewandt, sagt Katajun Amirpur. Mit t-online hat die Islamwissenschaftlerin und Iran-Expertin an der Universität zu Köln darüber gesprochen, welche Bedeutung die aktuellen Proteste für die Religion des Landes haben und ob eine neu gegründete Exil-Opposition den Weg zur Freiheit für die iranische Bevölkerung ebnen könnte.

t-online: Frau Amirpur, Ihr Vater kommt aus dem Iran und Sie selbst beschäftigen sich seit Jahren in Ihrer Forschung mit den Entwicklungen in dem Land. Wie blicken Sie auf die Proteste?

Katajun Amirpur: Es ist ein revolutionärer Prozess, der schon vor langer Zeit, spätestens aber seit den Protesten um die Präsidentschaftswahl 2009 angefangen hat. Wir beobachten seit vielen Jahren, dass sich die Menschen immer stärker von dem herrschenden islamischen Regime abwenden und dass die Abneigung, die Wut und der Frust gegen das Regime zunehmen.

Ihr Buch trägt den Titel "Iran ohne Islam. Der Aufstand gegen den Gottesstaat". Müssen wir im Kontext der Proteste also auch über den Islam an sich sprechen?

Nein, über die Religion an sich nicht. Aber die Bilder von jungen Frauen, die ihre Kopftücher verbrennen, hatten natürlich einen großen, sichtbaren Effekt. Und ich glaube, dass sich im Ausland so wenige Menschen mit dem Iran solidarisiert haben, liegt auch daran, dass sie Angst haben, als islamophob wahrgenommen zu werden, wenn sie sich mit Menschen solidarisieren, die das Kopftuch verbrennen. Die "Black Lives Matter"-Bewegung beispielsweise barg diese Gefahr nicht. Aber es geht nicht um das Kopftuch an sich, sondern um das Kopftuch als Symbol für die Unterdrückung in der Islamischen Republik. Und die sieht sich selbst als Verkörperung des "wahren Islams".

Wofür steht das Kopftuch also konkret, wenn Sie von Unterdrückung sprechen?

Es steht dafür, dass Frauen aus Sicht des Regimes als Bürgerinnen zweiter Klasse gelten, aber auch für religiöse und ethnische Minderheiten, denen eine Religion aufgezwungen wird, an die sie nicht glauben. Dafür, dass etwa die Bahá'í (Anm. d. Red.: Anhänger der Bahá'í-Religion, die im Iran systematisch verfolgt und unterdrückt werden) ihre Religion im Iran nicht ausleben dürfen. Im weiteren Sinne steht es auch dafür, dass Menschen, die homosexuell sind, ihre Sexualität nicht ausleben dürfen. Für all das steht das Kopftuch, das der Hälfte der Bevölkerung aufgezwungen wird. Und dementsprechend ist das Vom-Kopf-Reißen und Verbrennen eines Kopftuchs ein symbolischer Akt gegen das Regime. Denn wenn das Kopftuch nicht mehr da ist, verliert das Regime einen wichtigen Pfeiler seiner Identität. Und das ist ja genau das, was die Menschen wollen: Dass der Staat seine Identität verliert, die darauf fußt, eine rigorose, reaktionäre Interpretation des Islams durchzusetzen.

In Ihrem Buch schreiben Sie deshalb, dass die Unterdrückung der Frauen nicht auf einem "koranistischen", sondern auf einem gesellschaftlichen Problem beruht. Sie meinen die patriarchalen Strukturen in der iranischen Gesellschaft?

Ja, auf jeden Fall. Das islamische Rechtssystem und das Patriarchat gehen im Iran Hand in Hand. Selbst die Leute, die nicht besonders religiös sind, nutzen das vermeintlich islamische Recht, um ihr Patriarchat auszuleben. Also auch, wenn sie gegen die Zensur der Medien sind und trotzdem ihrer Frau die Ausreise aus dem Iran verweigern. Die Protestierenden kämpfen gegen das islamistische Rechtssystem und gegen das Patriarchat.

Viele Iraner haben sich in diesem Zuge ganz vom Islam abgewandt. Einige fühlen sich, wie Sie schreiben, jedoch zunehmend dem Zoroastrismus verbunden – einer Religion, die vor dem Islam im Iran vorherrschte. Sollten die Protestierenden mit ihren Forderungen nach Freiheit, Demokratie und Säkularität Erfolg haben – wie religiös wird das Land dann noch sein?

Das ist schwer zu sagen. Viele Iraner könnten dem Islam wieder mehr abgewinnen, wenn es ihre persönliche Entscheidung ist, diese Religion auszuüben, und nicht die der Regierung. Denn natürlich ist der Islam unglaublich prägend gewesen für den Iran. Die gesamte iranische Literatur, die Poesie, all das, was Iranern wirklich wahnsinnig wichtig ist, ist ohne den Islam nicht denkbar. Aber viele werden künftig wahrscheinlich gar keine Religion mehr haben. Weil sie sagen, dass die Religion sich als Konzept nicht als sinnvoll erwiesen hat. Das versuche ich auch in meinem Buch zu beschreiben: Das Regime hat den Leuten die Religion ausgetrieben. Die Unfreiheit, die schlechte Wirtschaftslage, die Zensur, all das verbinden die Menschen stark mit dem rigorosen Islamverständnis des Regimes und wenden sich ab. Viele von ihnen werden also wohl, so wie in Deutschland die "Heiligabend-Katholiken", nur noch traditionellen Feiertagen nachgehen.

Der Zorastrismus ist ein monotheistischer, vorislamischer Glaube, der noch heute tief in der iranischen Kultur verwurzelt ist. So feiern viele Menschen etwa am Abend vor dem iranischen Neujahrstag das Feuerfest (Tschaharschanbe Suri).

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Auf die Politik geblickt, sticht in Ihrem Buch besonders ein Name hervor: Shirin Ebadi. Sie nennen die iranische Friedensnobelpreisträgerin als eine Person, die den Iran aus dem Exil heraus in eine Demokratie führen und als Ansprechpartnerin für westliche Politiker gelten könnte. Nun hat die Menschenrechtsanwältin etwa mit der Aktivistin Masih Alinejad und dem Sohn des ehemaligen Schahs Reza Pahlavi ein Bündnis gegründet. Was halten Sie davon?

Es ist gut, dass sich Iraner und Iranerinnen im Ausland zusammenfinden, wo ganz andere Redemöglichkeiten herrschen als im Iran. Ich nenne konkret Shirin Ebadi, weil sie sehr integer ist und ich sie sehr schätze. Sie hat etwa Bahá'í oder Frauenrechtsaktivisten im Iran vertreten. Dass man den Sohn des letzten Schahs in ein solches Bündnis einbezieht, finde ich in Ordnung, denn es gibt gerade im Ausland auch viele Iraner, die monarchistisch orientiert sind.

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Alliance for Democracy and Freedom in Iran (ADFI)

Die ADFI ist ein Zusammenschluss von Einzelpersonen und Organisationen. Sie wurde von Shirin Ebadi, Masih Alinejad, Reza Pahlavi sowie der Schauspielerin Golshifteh Farahani, dem Generalsekretär der kurdischen Komalah-Partei, Abdullah Mohtadi, und dem Menschenrechtsaktivisten Hamed Esmaeilion gegründet. Ihre Charta trägt den Titel "Mahsa Charta", angelehnt an den Namen der getöteten Kurdin Jina Mahsa Amini. Darin formulieren sie das Ziel eines gewaltlosen Umsturzes der Islamischen Republik. Zudem wollen sie die Grundlagen einer säkularen Demokratie im Iran schaffen. Sowohl Masih Alinejad als auch Reza Pahlavi nahmen etwa bereits an der Münchener Sicherheitskonferenz 2023 teil.

Wie ist das im Iran?

Das kann man nicht genau sagen. Aber auch da gibt es pro-monarchistische Stimmen. Und wenn alle zusammenkommen und sich überlegen, wie eine solche Transition zu einem demokratischen Iran funktionieren kann, dann finde ich das in Ordnung, solange nicht wieder ein starker Mann daraus hervorgeht.

Aber widerspricht die pro-monarchistische Einstellung einiger Menschen nicht den Zielen der Freiheitsbewegung?

Nein, die können da schon mitsprechen. Nur sollte sich in dem Austausch nicht nur auf eine Person fokussiert werden. Denn das ist eben das, was die Menschen im Iran nicht wollen.

Auf den ehemaligen Schah Reza Pahlavi hatten sich zunächst auch viele westliche Medien fokussiert.

Ja. Die Iraner scheuen es wie der Teufel das Weihwasser, dass wieder eine so starke Person aus dem jetzigen Prozess hervorgeht, wie damals Revolutionsführer Ayatollah Chomeini, weil sie mit ihm so schlechte Erfahrungen gemacht haben. Und es heißt hier im Westen zwar immer wieder, dass das nichts wird mit der Revolution im Iran, weil sie eben keine führende Persönlichkeit hat, aber ich muss sagen: Es ist schon gut so, dass es die nicht gibt.

Ruhollah Musawi Chomein: Er war seit der Revolution 1979 bis zu seinem Tod geistliches und politisches Oberhaupt im Iran.
Ruhollah Chomeini: Er war seit der Revolution 1979 bis zu seinem Tod geistliches und politisches Oberhaupt im Iran. (Quelle: Mohammad Sayyad/Wikipedia)

Ayatollah Ruhollah Chomeini (✝1989)

Ruhollah Chomeini kehrte mit der Revolution 1979 in den Iran zurück. Aus dem Exil heraus hatte er der iranischen Bevölkerung eine säkulare Demokratie versprochen, basierend auf der Achtung der Menschenrechte und Glaubensfreiheit. Doch die Hoffnung der Iraner wurde bitter enttäuscht: Chomeini ergriff die Macht und errichtete die Islamische Republik. Oppositionelle und ethnische und religiöse Minderheiten galten fortan als Ungläubige. Sie wurden gewaltsam unterdrückt und gefoltert.

Das heißt, Reza Pahlavi hat als Einzelner in dem Bündnis aus mehreren Exil-Iranern zu viel Aufmerksamkeit bekommen?

Ich finde zumindest, dass ihm hier, im Westen, keine so große Bühne geboten werden sollte. Natürlich, auch die Aktivistin Masih Alinejad wurde interviewt und war bei Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Aber es ist gut, ihn kritisch zu sehen, zumal er sich nicht von der Regierungszeit seines Vaters distanziert hat. Er hat gesagt, man könne die Kinder nicht für die Taten der Eltern verantwortlich machen, aber die Revolution 1979 geschah ja nicht ohne Grund, denn die Schah-Herrschaft war eben eine Diktatur. Insofern ist seine fehlende Distanzierung bedenklich, und ich frage mich, woher die Geschichtsvergessenheit der Menschen kommt, die auf Demonstrationen die monarchistische Flagge schwenken.

Verwendete Quellen
  • Telefoninterview mit Katajun Amirpur am 15. März 2023
  • instagram.com: HRANA
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