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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Deutschlands Rolle im Ukraine-Krieg "Damit unterwirft sich Scholz Putins Spiel"
Deutschland hilft der Ukraine nur zögerlich. Warum? Weil Putin die größte Schwäche der Deutschen kennt, erklären Marieluise Beck und Ralf Fücks.
Der russische Vorstoß gen Kiew ist gescheitert, der Krieg gegen die Ukraine geht unerbittlich weiter. Nichts benötigen die Verteidiger dringender als Waffen und Munition. Deutschland aber helfe weniger, als es könne und müsse, kritisieren die Osteuropaexperten Marieluise Beck und Ralf Fücks, die kürzlich in Kiew und Charkiw waren. Warum sich Deutschland von Wladimir Putins Drohungen nicht schrecken lassen sollte, die Angst vor einem Atomkrieg übertrieben ist und wie Russlands Aggression gestoppt werden könnte, erklären die beiden im Gespräch.
t-online: Frau Beck, Herr Fücks, unterstützt Deutschland die Ukraine eigentlich ausreichend im Krieg gegen die russischen Invasoren? Bundeskanzler Olaf Scholz scheint den russischen Präsidenten eher auf keinen Fall reizen zu wollen.
Ralf Fücks: Deutschland kann und muss der Ukraine mehr helfen, insbesondere mit schweren Waffen, um die russische Offensive zu brechen. Es ist paradox, dass bei uns in Deutschland die Furcht vor einer Eskalation des Konflikts größer ist als in den Ländern, die davon direkt betroffen wären, etwa Polen und die baltischen Staaten. Es fehlt uns an Entschlossenheit, Putin aufzuhalten.
Die deutsche Achillesferse besteht zweifelsohne in der Angst vor einer Ausweitung des Krieges durch Russland.
Marieluise Beck: Putin kennt die Schwachstellen der deutschen Psychologie genau, insbesondere die Mischung aus Furcht und dem Wunsch nach Aussöhnung mit Russland. Dazu kommt noch die Abhängigkeit von russischem Gas und Öl. Das nutzt er gezielt aus, zumal es in Deutschland ja Netzwerke von ganz rechts bis ganz links gibt, die das Geschäft des Kremls besorgen.
Nun hat der russische Präsident immer wieder gezeigt, dass er ausschließlich Stärke respektiert. Warum sendet die Bundesregierung mit der Lieferung schwerer Waffen an die ukrainische Armee nicht ein solches Signal an den Kreml?
Fücks: Es mangelt an Klarheit, was auf dem Spiel steht. Am 24. Februar 2022, dem Tag des russischen Überfalls auf die Ukraine, hat Putin unmissverständlich erklärt, dass die USA und die Nato seine eigentlichen Gegner sind. Europa betrachtet er ohnehin lediglich als Vasall der Vereinigten Staaten. Uns sollte bewusst sein, dass es in diesem Krieg auch um unsere Sicherheit geht. Ein Sieg Russlands wäre nicht nur eine Katastrophe für die Ukraine. Die gesamte europäische Sicherheitsstruktur läge in Trümmern.
Ralf Fücks, Jahrgang 1951, ist gemeinsam mit seiner Frau Marieluise Beck Gründer des Thinktanks Zentrum Liberale Moderne in Berlin. Zuvor war er unter anderem Senator in Bremen und 21 Jahre lang Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, die der Partei Bündnis 90/Die Grünen nahesteht. Fücks ist Autor mehrerer Bücher und unter @fuecks auf Twitter aktiv. Marieluise Beck, Jahrgang 1950, zog 1983 mit der ersten grünen Fraktion in den Bundestag ein, dem sie mit einer Unterbrechung bis 2017 angehörte. Sie war Parlamentarische Staatssekretärin, Migrationsbeauftragte der Bundesregierung und ist langjährige Osteuropa-Politikerin.
Vor allem wäre ein russischer Erfolg eine Ermutigung für jedes aggressive Regime auf dem Erdball.
Beck: China beobachtet unsere Reaktionen auf den russischen Angriff sehr genau. Wenn der Westen Schwäche zeigt, wird das die autoritären Machthaber rund um den Globus ermutigen. Es gibt genug Konflikte auf diesem Planeten, die schnell noch brenzliger werden können. Furcht hat gegenüber Despoten noch nie geholfen.
Aber Furcht zu verbreiten, ist wiederum Putins beste Waffe.
Fücks: Die er hervorragend einzusetzen weiß. Solange wir uns von Angst beherrschen lassen, diktiert der Kreml die Spielregeln. Dann bleibt es Putin überlassen, wie weit er noch gehen will. Wir sollten den Spieß umkehren und klare Forderungen an seine Adresse stellen. Russland braucht ein deutliches Signal: Bis hierher und nicht weiter!
Nun hat Olaf Scholz immerhin ein deutsches Interesse festgelegt: und zwar, dass Russland die Ukraine nicht zu einem Diktatfrieden zwingen dürfe.
Beck: Das ist nur die halbe Wahrheit. Wir Europäer haben doch einen entscheidenden Einfluss darauf, welche Art der Verhandlungen die Ukraine mit Russland eingehen muss. Damit Selenskyj aus einer Position der Stärke verhandeln kann, müssen wir die Ukraine konsequenter unterstützen. Sonst wird der Kreml am Ende die Bedingungen für einen Waffenstillstand diktieren.
Nun bekommt die Ukraine allerhand Ratschläge aus dem Westen. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg merkte bereits an, dass die Ukraine möglicherweise Gebietsabtretungen akzeptieren müsse, um einen Frieden zu erreichen.
Fücks: Wenn von westlicher Seite Druck auf die Ukraine ausgeübt werden sollte, "territoriale Kompromisse" einzugehen, wäre das eine politische und moralische Bankrotterklärung. Wir würden den Ukrainern damit in den Rücken fallen. Gleichzeitig wäre es der Sargnagel für die europäische Friedensordnung und für das Völkerrecht gleich mit. Ein Angriffskrieg, wie ihn Russland führt, darf nicht mit territorialen Gewinnen belohnt werden. Sonst ist die Büchse der Pandora weit offen.
Sie haben die Ukraine in der letzten Woche besucht. Wie ist die Stimmung bei den Menschen dort?
Beck: Die Moral der Ukrainerinnen und Ukrainer ist ungebrochen, trotz oder wegen der Brutalität der russischen Kriegsführung: Wohnquartiere werden bombardiert, mehr als eine Million Menschen wurde bereits nach Russland deportiert, darunter rund 200.000 Kinder. In Butscha und anderen von Russland besetzten Gebieten gab es Massenexekutionen an Zivilisten, Vergewaltigungen und Folter. Das alles hat die Qualität eines Völkermords. Den Ukrainern ist bitter bewusst, dass es um die Existenz ihrer Nation geht.
Sie sind auch in die vor kurzer Zeit noch schwer umkämpfte Stadt Charkiw im Osten des Landes gefahren. Wie sah es dort aus?
Beck: Charkiw hat durch wochenlange Bombardierungen schwere Zerstörungen erlitten – vor allem in Wohnquartieren und bei der Infrastruktur. Was uns besonders beeindruckt hat, ist das gesellschaftliche Engagement vieler Menschen. Es gibt mehr als 100 Freiwilligeninitiativen, die humanitäre Hilfe für Zivilisten leisten und Lebensmittel, Medikamente und Ausrüstung für die Soldaten an der Front beschaffen.
Wie sieht die ukrainische Öffentlichkeit die Rolle Deutschlands?
Fücks: Es gibt Dankbarkeit, aber auch zunehmende Irritationen. Die russische Armee hat sich auf eine klassische Materialschlacht verlegt, sie setzt Distanzwaffen wie Artillerie und Raketen ein und greift mit Kampfflugzeugen und Panzern an. Waffentechnisch ist die ukrainische Armee klar unterlegen. Wie viele schwere Waffen hat die Ukraine aber bislang aus Deutschland erhalten? Nach 115 Tagen Krieg sind jetzt die ersten Panzerhaubitzen eingetroffen. Die Bundeswehr hat 109 Exemplare dieses Waffensystems, wir senden sieben. Und nach wie vor keine Panzer, obwohl sie die Ukraine dringend angefordert hat.
Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht hat mittlerweile ausgesagt, der Ukraine statt ursprünglich vier nur drei Mars-2-Raketenwerfer liefern zu wollen.
Beck: Das alles ist kaum nachvollziehbar. Das deutsche Zögern kostet Menschenleben. Jeden Tag fallen zwischen 100 und 200 ukrainische Soldaten im Kampf, die Zahl der Verwundeten ist entsprechend höher. Der Ukraine gehen Waffen und Munition aus. Diese Dringlichkeit scheint im Kanzleramt nicht anzukommen. Dort scheint man sich mehr um das künftige Verhältnis zu Russland zu sorgen.
Kehren wir noch einmal zur Ursprungsfrage zurück: Warum agiert Kanzler Scholz gegenüber Russland weiterhin derart vorsichtig? Immerhin hat er bei seinem Ukraine-Besuch mit eigenen Augen die Auswirkungen des Krieges gesehen.
Fücks: Scholz fürchtet offenbar einen russischen Präsidenten, der mit dem Rücken zur Wand steht. Für den Bundeskanzler kommt die Ukraine erst an zweiter Stelle, sein oberstes Ziel besteht darin, dass Deutschland auf keinen Fall Kriegspartei werden darf. Damit unterwirft sich Scholz aber Putins Spiel. Wir verzichten in einer Art vorauseilendem Gehorsam darauf, die Ukraine so auszurüsten, dass sie den Krieg gewinnen kann, weil Putin dies als feindseligen Akt interpretieren könnte.
Putin droht immer wieder mit der russischen Atommacht. Wird es seitens der Bundesregierung tatsächlich für möglich gehalten, dass Russland zu diesem Schritt greifen könnte?
Beck: Der Bundeskanzler hat die Furcht vor einem Atomkrieg ohne Not hochgespielt. Putin würde die Existenz Russlands gefährden, wenn er sich mit der gesamten militärischen Macht der Nato anlegt. Putin hat bereits große Schwierigkeiten mit der Ukraine, er wird zurzeit kaum einen weiteren Konflikt mit dem Westen riskieren. Schon gar keinen nuklearen.
Nun hat Scholz seine Unterstützung für das Vorhaben erklärt, der Ukraine den Status einer Beitrittskandidatin zur Europäischen Union zu verleihen. Was halten Sie davon?
Fücks: Das ist ein wichtiges Signal. Aber wenn wir die Ukraine nicht konsequent bewaffnen, bleibt der Kandidatenstatus ein Placebo. Aus Deutschland kommen doppelbödige Signale. Wir verkünden, dass Russland nicht siegen darf und die Ukraine bestehen bleiben muss. Dann verweigern wir aber kriegsentscheidende Waffen im nötigen Tempo und Umfang. Wir haben in Kiew mit Regierungsmitgliedern und Parlamentariern gesprochen. Dort herrscht fast Verzweiflung über die Zweideutigkeit der deutschen Politik. Zum Glück hängt die Verteidigung der Ukraine nicht allein von uns und Frankreich ab.
Nun bleibt die deutsche Untätigkeit auch unseren Partnerstaaten nicht verborgen, vor allem im Osten Europas. Wie wirkt sich dies aus?
Beck: Deutschlands Glaubwürdigkeit ist schwer beschädigt. Was das Kanzleramt bislang nicht sieht oder sehen will, ist die Tatsache, dass sich die politischen Gewichte innerhalb von Nato und der EU verschieben: Es bildet sich eine neue Achse heraus, bestehend aus Polen, den baltischen Staaten, Skandinavien, Großbritannien und den USA. Das sind die Staaten, die Russlands expansiver Politik wirklich Einhalt bieten wollen.
Wie ließe sich die von Russland ausgehende Gefahr denn endgültig eindämmen?
Fücks: Russland braucht eine militärische Niederlage in der Ukraine, damit sich das Land endlich von seinem imperialen Wahn lösen kann. Putin führt einen klassischen Kolonialkrieg gegen die Ukraine, das Land soll wieder in das Russische Reich gezwungen werden. Er will wieder ins 19. Jahrhundert zurück: Eine Handvoll Großmächte beherrscht die Weltpolitik, die an keinerlei Regeln gebunden sind. In einer solchen Welt zu leben, wäre der reine Horror.
Frau Beck, Herr Fücks, vielen Dank für das Gespräch.
- Telefonisches und schriftliches Gespräch mit Marieluise Beck und Ralf Fücks