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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Geflohene aus Butscha "Mein Mann wurde vor meinen Augen erschossen"
Hanna Polonska ist der Hölle von Butscha entkommen. In der Stadt meuchelten Putins Truppen Hunderte Zivilisten. Polonska verlor ihren Mann und ihr ungeborenes Kind. Besonders an Deutschland richtet sie einen eindringlichen Appell.
Eine eigene Wohnung, ein Job als Deutschlehrerin, ein kleiner Hund: Vor drei Monaten noch lebten Hanna Polonska und ihr Mann Anton ein normales Leben. Dann überfielen Putins Truppen die Ukraine. In Hannas Heimatstadt Butscha mordeten, vergewaltigten und bestahlen sie Zivilisten in einem zuvor nicht gesehenen Ausmaß.
Nun ist Anton tot, die Wohnung zerstört, Hanna noch immer schwer verletzt. Selbst das Sitzen falle ihr schwer, sagt die 32-Jährige, es koste unfassbar viel Kraft. Doch Polonska hat eine Mission: Sie will die Welt aufklären, über das, was in Butscha geschah. Die Menschen sollen erfahren, wie Putins Truppen meuchelten – auf dass es nie wieder geschehe.
Deswegen gibt Hanna Polonska aus ihrem Krankenzimmer in Kiew Interviews. Geduldig erklärt und schildert sie, nur manche Fragen kann sie nicht beantworten, will sie nicht beantworten, weil die Erinnerungen zu schmerzhaft sind. Ein Gespräch über Angst, Tod, Heimkehr und die besondere Rolle Deutschlands in diesem Krieg.
t-online: Frau Polonska, Sie sind aus Butscha geflohen, das inzwischen Synonym für Putins grausame Kriegsführung ist. Was haben Sie erlebt?
Hanna Polonska: Viel Angst, viel Grauen, viel Leid. In Kiew, wo ich zurzeit bin, ist es manchmal auch nicht ruhig, ab und an hört man Sirenen. In Butscha hat es keinen Sinn mehr ergeben, Sirenen heulen zu lassen, weil wir jeden Tag rund um die Uhr bombardiert wurden.
Wie lange wurde Butscha schon beschossen, als Sie sich zur Flucht entschieden haben?
Die Stadt stand ab Tag eins des Krieges unter Beschuss, also ab dem 24. Februar. Wir sind am 4. März geflohen.
Neun Tage Bombardement also.
Meine Wohnung liegt im zehnten und elften Stockwerk. Die Aussicht war grausam. Ich habe zu viel gesehen. Die Straßen waren schon mit Körperteilen bedeckt. Ein Fuß, ein Bein, eine Hand, ein Arm. Wir haben gesehen, wie ein Panzer ein Auto überrollte – mit einem Fahrer am Steuer. Die Russen patrouillierten um unser Haus. Wir hatten schreckliche Angst, dass sie in unserer Wohnung leben wollen.
Das ist vielen Bewohnern in Butscha passiert, die Berichte sind grausam.
Nach meiner Flucht haben die Russen fünf Tage lang in unserem Wohnkomplex gelebt. Sie haben alles Mögliche gestohlen, erzählen meine Nachbarn: den Fernseher, die Kaffeemaschine, Schmuck, meine Kleidung, Kosmetik, Shampoo, sogar meine Unterwäsche. Wozu brauchen Soldaten benutzte Unterwäsche? Ich verstehe das nicht.
Sie haben alles mitgenommen – und wenn sie in der nächsten Wohnung etwas fanden, was ihnen besser gefiel, haben sie das genommen und den Rest dagelassen. Was sie nicht gestohlen haben, haben sie zerstört: Fotos haben sie zerrissen, Porzellan zertrümmert. Sie haben nicht die Toilette besucht, sondern verrichteten ihr Geschäft einfach in der Wohnung oder in einem Schrank. Verhalten sich so zivilisierte Menschen?
Wann war der Punkt erreicht, an dem Sie sich zur Flucht entschieden haben?
Als es unerträglich wurde und unsere Angst immer weiterwuchs, in den oberen Stockwerken getroffen zu werden. Da haben mein Mann Anton und ich entschieden: Wir wagen es, wir nehmen unser kleines Hündchen Mia und versuchen, aus Butscha zu entkommen. Das erforderte sehr viel Mut.
Wie lief die Flucht ab?
Wir sind nur fünf Minuten mit dem Auto gefahren und wurden dann unter Beschuss genommen. Mein Mann wurde vor meinen Augen erschossen. Er war sofort tot. Es ging so schnell … Ich denke nicht, dass er verstanden hat, was passiert. Ich wurde durch Minensplitter schwer verletzt. Ich war schwanger, auch das Kind habe ich verloren. In wenigen Sekunden wurde meine gesamte Familie ausgelöscht.
Noch heute, mehr als zwei Monate später, sind Sie im Krankenhaus in Kiew. Wie lief die Versorgung im Kriegszustand ab?
Es ging mir sehr, sehr schlecht. Die Ärzte wussten nicht, wo sie anfangen sollten. Ich hatte Probleme mit allem, war Patientin in allen Abteilungen. Erst wurde ich in ein Militärkrankenhaus in Irpin gebracht und operiert. Aber weil auch Irpin massiv beschossen wurde, wurde ich evakuiert. Am Tag nach der Evakuierung wurde dieses Krankenhaus zerstört. Ich hatte wirklich großes Glück.
Wie funktioniert der Transport von Krankenhaus zu Krankenhaus?
Zwischen Irpin und Kiew wurden alle Brücken zerstört. Man hat mich mit einem Rettungswagen bis zu einer zerstörten Brücke gebracht, dort haben vier Männer mich in ihren Armen durch einen Fluss getragen. Auf der anderen Seite wurde ich in einen anderen Rettungswagen gelegt. Auch innerhalb von Kiew wurde ich noch einmal verlegt, weil es mir so schlecht ging. Dass ich überhaupt überlebt habe, dass ich wieder sitzen und inzwischen sogar wieder gehen kann: Das seien gleich drei Wunder, sagen die Ärzte.
Sie arbeiten sogar wieder, geben Online-Unterricht aus dem Krankenhaus heraus.
Ich habe mich von Anfang an beschäftigt, habe Texte gelesen, interessante Videos geschaut. Ich unterrichte Englisch und Deutsch und hatte wahnsinnige Angst, die Sprachen zu verlieren, geistig abzubauen.
Können Sie sich eine Rückkehr nach Butscha vorstellen?
Butscha war eine der schönsten Städte in der Ukraine. Sie wird gereinigt und wieder aufgebaut, viele Menschen arbeiten gerade daran. Aber ich will nicht nach Butscha zurückkehren. Ich habe zu viele schreckliche Erinnerungen. Ich möchte nicht mehr in meiner Wohnung leben, ich möchte nicht jeden Tag die Straße passieren, in der mein Mann starb. Die Ukraine aber will ich nicht verlassen. Ich will in Kiew bleiben.
Was bedeutet das finanziell?
Es ist bitter – ich habe mein ganzes Leben gearbeitet und gespart, um diese Wohnung zu kaufen. In der Einrichtung steckt viel Liebe, die Möbel habe ich selbst entworfen. Nun werde ich höchstens zurückkehren, um sie zu renovieren und zu verkaufen.
Sie kommen aus einer ukrainisch-russischen Familie. Wie blickt man da auf die russische Invasion und die anhaltende russische Propaganda, dass Russland die Ukraine von Nazis befreie?
Meine Mutter kommt aus der Ukraine, mein Vater wurde in Russland geboren, meine Oma lebt in Russland. Wir haben immer russisch gesprochen. Jetzt aber sprechen wir aus Prinzip ausschließlich ukrainisch – auch mein Vater. Er kann nicht akzeptieren, was hier gerade passiert. Es ist verrückt. Was in Russland erzählt wird, dass man uns befreien will, das ist lächerlich, vollkommen lächerlich.
Sehen Sie eine Chance darauf, Gerechtigkeit zu erfahren, dass die Toten und all das Leid irgendwie gesühnt werden?
Man kann diese Menschen nicht zurückholen, man kann sie nicht wieder lebendig machen. Man kann Städte wiederaufbauen – aber für all die Toten, für all die zerstörten Familien, für all die Verletzten kann es keine Gerechtigkeit geben. Das Einzige, das Beste, wofür man sorgen kann, ist, dass so etwas nie wieder passiert.
Wie geht es Ihnen zurzeit mental?
Die Erinnerungen holen mich immer wieder ein, wie jeden, der aus Butscha kommt. Ich habe einen Arzt, der auch aus Butscha geflohen ist. Wenn wir in einer Runde zusammensitzen und ein ungewöhnliches Geräusch ertönt, und sei es noch so klein, dann schrecken wir auf, dann blicken wir uns in die Augen und wissen: Das sind die Erinnerungen, das ist Butscha. Sogar die Tiere sind traumatisiert. Mein kleines Hündchen liebte früher das Autofahren. Jetzt lebt sie bei einer meiner Krankenschwestern, die erzählt: Mia hat nun schreckliche Angst vor Autos.
Sie haben angekündigt, gerne im Bundestag sprechen zu wollen. Wie nehmen Sie die Rolle Deutschlands im Krieg wahr?
Deutschlands Stimme ist sehr, sehr, sehr, sehr wichtig in diesem Krieg, in der Welt. Deutschland ist eines der entwickeltsten Länder in Europa, es hat eine einzigartige Stellung.
Die Bundesregierung steht immer wieder schwer in der Kritik. Bei der Entscheidung für die Lieferung schwerer Waffen in die Ukraine hat sie gezögert. Sind Sie persönlich enttäuscht davon?
Ich verstehe, warum diese Entscheidung so schwerfällt. Die Vertreter jedes Landes müssen für ihr Land, ihre Bevölkerung sorgen. Jede Entscheidung muss abgewogen und gut durchdacht werden. Ich bin nicht enttäuscht, ich verstehe es.
Wenn Sie im Bundestag sprechen könnten, was würden Sie den Abgeordneten, was würden Sie Deutschland gerne sagen?
Mein Ziel ist, dass man in Deutschland weiß, was hier passiert. Ich kann nachvollziehen, dass nicht alle Leute verstehen, wie grausam die Lage in manchen ukrainischen Städten ist. Das ist auf die Entfernung schwer zu fassen. Ich würde mich außerdem gerne für die Hilfe bedanken, die Deutschland bereits gestellt hat. Und betonen, wie wichtig die allseitige Unterstützung auch jetzt und in der Zukunft ist. Sie ist zentral, sie ist außerordentlich notwendig.
Wie sehen die Prognosen für Sie aus? Gibt es eine Aussicht darauf, dass Sie das Krankenhaus bald verlassen können?
Ich habe sehr, sehr großes Glück, überhaupt am Leben zu sein. Deswegen gibt man mir keine Prognosen – und ich bitte um keine. Ich genieße, dass ich mich wieder bewegen, in der Sonne sitzen, selbstständig trinken und essen kann. Das ist die vielleicht wichtigste Botschaft, die ich für alle Menschen habe: Genießen Sie jede Minute ihres Lebens! Genießen Sie sogar, in den Supermarkt zu gehen, den Haushalt zu machen, zu arbeiten – Dinge, die viele Menschen als lästige Pflichten betrachten. Ich verstehe jetzt erst, wie glücklich ich war.
Vielen Dank, Hanna Polonska, für das Gespräch und Ihren Mut!
Hinweis der Redaktion: Das Interview wurde per Video geführt, die Antworten für die schriftliche Version im Anschluss gerafft, editiert und Hanna Polonska zur Autorisierung vorgelegt.
- Video-Telefonat mit Hanna Polonska