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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Politiker-Reise ins Kriegsgebiet "Scholz hat recht – das war ein Fehler der Ukraine"
Als erster Politiker des Bundestags besucht Friedrich Merz Kiew, der Kanzler bleibt derweil in Deutschland. Ein Gespräch mit Osteuropa-Experte Alexander Libman über Druck, diplomatische Fehltritte und große Symbole.
Ursula von der Leyen, Karl Nehammer, Nancy Pelosi und Boris Johnson: Sie alle waren in den vergangenen Wochen in Kiew. Nun zeigt als erster deutscher Politiker auch CDU-Chef Friedrich Merz seine Unterstützung in der ukrainischen Hauptstadt. Einer aber widersetzt sich standhaft dem Trend – und erntet dafür viel Kritik: Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD).
Ist das ein Fehler? Ein Gespräch mit dem Osteuropa-Experten Alexander Libman, Professor für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin, über diplomatische Affronts, das richtige Timing und gescheiterte PR-Auftritte.
t-online: Herr Libman, Friedrich Merz reist als erster deutscher Politiker seit Kriegsbeginn nach Kiew. Wem hilft das mehr: Merz oder der Ukraine?
Alexander Libman: Merz. Besuche von ausländischen Politikern sind für die Ukraine deswegen aber nicht sinnlos. Als Solidaritätsbekundungen, als Symbole, dass Europa an der Seite der Ukraine steht, sind sie sehr wichtig.
Für die Merz-Reise scheint das aus Ihrer Sicht nicht zu gelten. Warum?
Es waren inzwischen schon sehr viele Politiker in der Ukraine, auch Staatsoberhäupter und Entscheidungsträger, aus Europa wie den USA. Ich bezweifle, dass die Reise von Merz für die Ukraine noch einen Unterschied macht.
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Liegt das daran, dass Merz keine Regierungsmacht besitzt – oder kommt er schlicht zu spät?
Solche Reisen sind symbolische Entscheidungen – und dabei ist das Timing absolut entscheidend. Vor einigen Wochen noch hätte auch eine Reise von Merz mehr Bedeutung für die Ukraine gehabt. Jetzt folgt Merz einem Trend. Für ihn selbst kann der Besuch aber immer noch eine große Rolle spielen.
Kritiker werfen Merz genau das vor: rein egoistische Motive sowie eine Instrumentalisierung der Ukraine kurz vor den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen.
Selbstverständlich denken Politiker bei solchen Aktionen immer auch darüber nach, welche Wirkung sie damit innenpolitisch erzielen. Diese Form der Instrumentalisierung ist aber ganz normal.
Mit Merz lässt sich als Erstes der deutsche Oppositionsführer in Kiew blicken, auch eine Delegation der Linken will in den nächsten Tagen durch die Ukraine reisen. Ist das peinlich für die Bundesregierung?
Bundespräsident Steinmeier wollte schon viel früher in die Ukraine reisen. Dass er nicht gereist ist, war nicht seine Entscheidung. Er wurde von der Ukraine ausgeladen. Ohne klare Erklärung, warum.
Scholz hat gerade unter Verweis auf die Ausladung von Steinmeier gesagt, sie stehe einer Kanzler-Reise in die Ukraine "im Weg". Hat er recht?
Wer als Repräsentant der Bundesregierung reist, entscheidet Deutschland, nicht die Ukraine. Das Vorgehen der Ukraine im Fall Steinmeier ist keine gängige diplomatische Praxis. Es hat berechtigte Fragen aufgeworfen und einiges unmöglich gemacht. Ich würde sagen: Es war ein Fehler der Ukraine.
Wen würden Sie statt Scholz schicken?
Aus meiner Sicht wäre die beste Lösung, wenn die Ukraine jetzt Steinmeier einladen und er dann das Land besuchen würde.
Ist das Vorgehen der Ukraine bei der Zögerlichkeit der Bundesregierung in manchen Punkten seit Beginn des Krieges nicht nachzuvollziehen?
Deutschland war bereits vor dem Krieg einer der größten Unterstützer der Ukraine. Die Bundesrepublik war im zivilen Bereich einer der größten Geldgeber, sie hat auch mehrere Sanktionsrunden gegen Russland unterstützt – mit erheblichen Kosten für die deutsche Wirtschaft. Dass Deutschland ein Land ist, das im Vergleich zu anderen besonders russlandfreundlich agiert, entspricht nicht den Fakten.
Verteidiger von Steinmeiers Ausladung führen die Vergangenheit und den Kuschelkurs der Bundesregierungen Merkel und Schröder mit Moskau an.
Unter Schröder war die Lage eine ganz andere. Putin war in den frühen Nullerjahren kein dezidierter Gegner des Westens. Er hat damals auf wirtschaftliche und politische Kontakte mit dem Westen gesetzt. Es war rational, diese Kontakte einzugehen, und das haben viele Regierungen in Europa gemacht. Deutschland war hier keine Ausnahme. Man versucht zurzeit ständig, Politik von damals mit dem Wissen von heute zu beurteilen. Das aber ergibt keinen Sinn.
Blicken wir auf jene, die die Reise nach Kiew schon gewagt haben: Die Ersten waren Regierungsvertreter aus Polen, Tschechien und Slowenien. Die Reaktion aus dem westlichen Europa war damals sehr zurückhaltend, sogar skeptisch. Inzwischen waren von Boris Johnson über Ursula von der Leyen bis Karl Nehammer viele dort. Wie ist da der Knoten geplatzt?
Die Sicherheitslage hat sich verändert: Der Krieg hat sich Richtung Osten verlagert, er läuft jetzt vor allem im Donbass ab. Die Risiken einer Reise nach Kiew sind deswegen jetzt geringer. Es gibt bei solchen Reisen außerdem große Kaskaden-Effekte. Man folgt, wie Merz, einem Trend. Das gilt nicht nur für Politiker, sondern auch für andere Prominente. Angelina Jolie war beispielsweise auch gerade in Lwiw.
Welche Rolle spielte diese erste Reise der osteuropäischen Regierungschefs?
Kiew war noch belagert, Russland hat die Ukraine aus drei Richtungen angegriffen. Die Regierungschefs aus Polen, Tschechien und Slowenien haben in dieser gefährlichen Lage gezeigt, dass sie unbedingt an der Seite der Ukraine stehen. Sie haben außerdem gezeigt, dass ihre Länder eine klare und eigenständige Politik in Bezug auf die Ukraine verfolgen, auch unabhängig von Rest-Europa.
Welche Signale haben andere Politiker in Kiew gesendet?
Das wichtigste Ergebnis für Politiker bei solchen Reisen ist eine Schlagzeile in den Medien und ein möglichst gutes Foto oder Video, das um die Welt geht. Da versuchen sie das Bestmögliche herauszuholen. Das ist nicht per se verwerflich, es ist Teil des politischen Geschäfts. Dieses Spiel beherrschen einige gut, andere weniger gut.
Wer hat das Spiel schlecht gespielt?
Ursula von der Leyen. Sie war in Butscha, man hat ihr dort die Leichen von Zivilisten gezeigt. In dem Moment, als sie die Toten gesehen hat, hat von der Leyen einen Gesichtsausdruck gemacht, der … Ich weiß gar nicht, wie man ihn beschreiben soll …
... Fake war?
Ja, das trifft es, so habe ich es wahrgenommen. Das kann man definitiv besser machen.
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Wie bewerten Sie Boris Johnsons Besuch in der Ukraine? Auch er stand wegen Instrumentalisierung scharf in der Kritik.
Boris Johnson hat ein gutes Bild von sich in den Medien generiert. Er war früher als andere Staatsoberhäupter in der Ukraine, hat einen Spaziergang durch Kiew gemacht und direkt mit Selenskyj gesprochen. Was mich eher überrascht hat: dass Johnson von der Ukraine als größter Unterstützer des Landes gefeiert wurde. Deutschland hat vor dem Krieg deutlich mehr Geld in die Ukraine investiert.
Kann Scholz vor diesem Hintergrund auch einfach nicht nach Kiew reisen?
Scholz muss es nicht zwingend tun, er kann es einfach lassen. Die handfeste Unterstützung aus Deutschland kommt, das ist unumstritten. Ob eine Reise stattfindet oder nicht, ist inzwischen eher ein Thema für Deutschland, aber nicht entscheidend für die Außenpolitik oder für die Entwicklung des Krieges.
- Telefonat mit Alexander Libman