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Ukraine-Krieg | Historiker: "Dieser Schritt würde Putin richtig wehtun"


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Krieg gegen die Ukraine
"Dieser Schritt würde Putin richtig wehtun"

InterviewVon Marc von Lüpke

Aktualisiert am 30.03.2022Lesedauer: 8 Min.
Wladimir Putin: Ein deutscher Importstopp für russisches Gas würde sich als fatal für Russland erweisen, sagt Historiker Adam Tooze.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin: Ein deutscher Importstopp für russisches Gas würde sich als fatal für Russland erweisen, sagt Historiker Adam Tooze. (Quelle: Mikhail Metzel/TASS/imago-images-bilder)
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Die Ukrainer bitten um Hilfe, doch Deutschland zögert. Welche Gründe das Zaudern hat und wie die Scholz-Regierung Putin richtig hart treffen könnte, erklärt der Historiker Adam Tooze im t-online-Interview.

t-online: Professor Tooze, Wladimir Putin hat anscheinend geglaubt, die Ukraine ohne größere Konsequenzen für Russland angreifen zu können. Doch der Westen hat bislang einmalige wirtschaftliche Strafmaßnahmen verhängt. Reicht das aus? Oder müssten wir noch mehr gegen die russische Aggression unternehmen?

Adam Tooze: Deutschland befindet sich in der absurden Situation, dass es militärisch über keinerlei Optionen verfügt. Selbst wenn es sich in dieser Hinsicht engagieren wollte, was aber brandgefährlich wäre. Im Ukraine-Konflikt stolpert Deutschland von einem Offenbarungseid zum nächsten, es ist zurzeit einfach kein Machtfaktor.

Wie ließe sich dieser Missstand beheben?

Den Deutschen täte ein wenig Mut gut. Um für ihre eigenen Überzeugungen einzustehen. Blicken wir auf die Tatsachen: Deutschland verfügt derzeit über keine einzige voll einsetzbare Kampfbrigade. Das ist doch ein völliger Irrwitz für ein Land mit 83 Millionen Einwohnern. Wenn die Bundeswehr ein Unternehmen wäre, müssten wir aus betriebswirtschaftlicher Sicht von einem vollkommenen Versagen sprechen.

Weil der Verteidigungsetat im Haushaltsjahr 2021 trotz der militärischen Bedeutungslosigkeit der Bundeswehr mehr als 45 Milliarden Euro betragen hat?

Genau. Die Bundesrepublik gibt hohe Milliardensummen für ihre Verteidigung aus – zweimal so viel wie zum Beispiel Israel – und ist trotzdem nahezu wehrlos. Das Geld könnte sich Deutschland also getrost sparen. In dieser Krise stellt sich nun die Frage: Wollen die Deutschen ein ernstzunehmender sicherheitspolitischer Akteur in Europa und der Welt sein? Dann müssen sie die Milliarden für die Bundeswehr endlich gezielter und effektiver investieren. Oder sich eben dafür entscheiden, in Sachen Verteidigung weiterhin vollkommen von den Nato-Partnern abhängig zu sein. Ob Frankreich, Großbritannien und vor allem die USA dieses Spiel allerdings lange mitspielen werden, wage ich zu bezweifeln. Hoffen wir, dass die nun 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr sinnvoll angelegt werden.

Die USA haben ihrerseits frühzeitig bei der Eskalation der Ukraine-Krise erklärt, sich nicht militärisch in diesen Konflikt einmischen zu wollen.

Und daran hält Joe Biden wohlweislich fest, denn Wladimir Putin ist gefährlich. Russland ist nach wie vor eine Atommacht, das sollten wir nicht vergessen. So hat Biden stattdessen erklärt, dass die Vereinigten Staaten den Ukrainern weiter Waffen liefern und nachrichtendienstliche Informationen bezüglich des russischen Aufmarsches teilen werden. Aber ein direktes Eingreifen Washingtons vor Ort ist ausgeschlossen, egal, wie stark die Ukraine, Polen und andere dafür auch Stimmung machen.

Adam Tooze, Jahrgang 1967, ist einer der führenden Wirtschaftshistoriker der Gegenwart. Seine Bücher "Ökonomie der Zerstörung" und "Crashed. Wie zehn Jahre Finanzkrise die Welt verändert haben" sind Standardwerke. Tooze lehrt an der Columbia University in New York und ist zugleich Direktor des dortigen European Institute. Im letzten Jahr erschien Toozes neuestes Buch "Welt im Lockdown. Die globale Krise und ihre Folgen". Seinen Newsletter, "Chartbook", können Sie bei Substack lesen.

Der Preis dafür ist hoch.

Letztendlich zahlen die Ukrainer in Blut. Das ist auch Biden und den Amerikanern bewusst. Biden ist sicherlich von den Bildern bombardierter Städte in der Ukraine entsetzt, weiß aber auch, dass jeder weitere Schritt der USA noch weit schlimmere Folgen haben könnte. Insofern folgt sein Handeln einer Logik.

Wie effektiv sind denn eigentlich die vom Westen gegen Putin & Co. verhängten Sanktionen?

Sanktionen ist ein schwacher Ausdruck für die gegenwärtige Situation, wir befinden uns schlichtweg im Wirtschaftskrieg gegen Russland. Besagte Sanktionen verhängt man, um einen Übeltäter, der einen Rechtsbruch begangen hat, im Nachhinein zu bestrafen. Das wäre die Situation gewesen, wenn, wie von vielen erwartet, Kiew innerhalb weniger Tage gefallen wäre. Diese Ebene haben wir bereits hinter uns gelassen. Um aber Ihre Frage zu beantworten: Ja, die Strafmaßnahmen sind für Putin sehr, sehr schmerzhaft.

Aber auch schmerzhaft genug? Militärisch mag Deutschland ein Zwerg sein, wirtschaftlich ist es durchaus mächtig. Was wäre, wenn wir die Pipelines dichtmachen und kein russisches Erdgas mehr kaufen würden?

Dieser Schritt würde Putin richtig wehtun. Manche Experten rechnen mit einem Einbruch der russischen Wirtschaftsleistung von bis zu 30 Prozent. Es stellt sich auch nur eine einzige Frage: Ist Deutschland bereit, die Kosten dafür in Kauf zu nehmen?

Wie hoch wären diese denn?

Darüber streiten sich die Ökonomen zurzeit heftig. Solche hypothetischen Fragen können sinnvollerweise nur mit Modellen diskutiert werden. Wenn Substitutionseffekte wirksam greifen, was bedeutet, dass man leicht Ersatz für russische Energie findet, dann fallen die Kosten niedrig aus: weniger als ein Prozent der Wirtschaftsleistung. Das klingt vielen unplausibel. Selbst die pessimistischsten Schätzungen belaufen sich auf vier bis fünf Prozent des Bruttosozialprodukts.

Manchen Politikern kommt dabei sicherlich das Wort "Rezession" in den Sinn, das niemand gerne hört.

Ein Rückschlag von vier bis fünf Prozent wäre in der Tat herb, das wären Ausmaße wie bei der Corona-Krise. Aber Deutschland stünde keineswegs vor dem Kollaps. Das ist kein Einbruch wie in den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts, oder nach dem Ersten oder Zweiten Weltkrieg. Die Corona-Krise haben wir durch geeignete Maßnahmen abgefedert.

Nun ist in der Europäischen Union nicht allein Deutschland auf das Erdgas aus Russland angewiesen. Auch nach Italien fließen große Mengen.

Das ist richtig. Deutschland ist der größte Abnehmer, gefolgt von Italien. Tschechien, die Slowakei und andere beziehen ihr Erdgas ebenfalls von Moskau. Aber auch angesichts dieser Tatsache stellt sich trotzdem die Frage, ob Europa die Pipelines nicht dichtmachen sollte. Es gibt gute Gründe dafür: Die Ukrainer wüssten diese Geste der Solidarität etwa sicher zu würdigen. Immerhin fließen Milliardenbeträge aus dem Westen in die russische Kasse.

Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck hat nun einen Plan vorgestellt, Deutschland bis Jahresende aus der Abhängigkeit von Erdgas, Öl und Kohle aus Russland zu führen. Halten Sie das für realistisch?

Bis 2024 braucht es, bis man fast komplett auf Importe aus Russland verzichten kann. Das ist durchaus denkbar – und Habecks Pläne sind aus deutscher Sicht auch absolut konsequent, sie passen zur ökologischen Energiewende. Aber im Krieg ist alles eine Frage der Zeit und für die Ukrainer kommt das viel zu spät.

Wäre Putin denn gezwungen, bei einem sofortigen deutschen Importstopp für Gas, Öl und Kohle die Kampfhandlungen zu beenden?

Nein. Die russische Wirtschaft würde zweifellos einen weiteren schweren Schlag erleiden. Aber würde Putin seinen Krieg deswegen stoppen? Das würde ich nicht erwarten. Putin braucht vor allem etwas, das er den Russen als Sieg verkaufen kann. Dann erst kommen die wirtschaftlichen Fragen.

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Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte Putin den Krieg längst für sich entscheiden wollen.

Putin wendet nun brutale Gewalt an, es handelt sich um die primitivsten militärischen Mittel. Darin scheint sein Plan B zu bestehen. Es ist in gewisser Weise auch eine Konsequenz dessen, dass sich die westliche Seite verkalkuliert hat.

Wie meinen Sie das?

Der Westen hat die Ukraine strategisch sich selbst überlassen. Einerseits im Irrglauben, dass Putin schon nicht dreist genug sei, sie mittels einer konventionellen Invasion anzugreifen. Andererseits aber unter Hinnahme der Möglichkeit, dass die russische Armee die Ukrainer im Konfliktfall in wenigen Tagen besiegen würde. Wie wir nun hören, scheute man sich in Berlin nicht, es dem ukrainischen Botschafter ins Gesicht zu sagen.

Nun wehren sich die Ukrainer aber auf bewundernswerte Weise gegen die Angreifer.

Und bringen den Westen damit mächtig in Verlegenheit. Den Europäern bleibt aus politischen Gründen gar nichts anderes übrig, als sich auf die Seite der Ukraine zu stellen. Der italienische Regierungschef Mario Draghi hat neulich erst seine Unterstützung für einen Beitrittsantrag der Ukraine zur Europäischen Union signalisiert. Das wäre vor wenigen Monaten undenkbar gewesen.

Zugleich hat Wladimir Putin verkünden lassen, dass etwa Deutschland russisches Erdgas nur noch gegen Rubel erhalten würde.

Das war ein geschickter Schachzug. Dadurch würden die Russen eine strukturelle Nachfrage nach Rubel erzeugen, die westlichen Abnehmer müssten sich entsprechend an die russische Zentralbank wenden.

Entsprechend haben die G7-Staaten, darunter Deutschland, dieses Ansinnen auch zurückgewiesen. Die russische Zentralbank ist zudem überaus hart sanktioniert.

Das kann man wohl sagen. Die westlichen Finanzmaßnahmen gegen Russland haben ein nie dagewesenes Ausmaß erreicht. Sanktionen gegen einen Staat, Unternehmen oder Personen sind eine Sache, aber mit der Zentralbank schlagen wir auf die Spitze der russischen Finanzpyramide ein. Putin kann dem nichts Ebenbürtiges entgegensetzen. Sein Griff zur atomaren Drohung war absehbar.

Warum ist der Westen aber dieses Risiko eingegangen?

Nicht kleckern, sondern klotzen – das war die Devise. Es ging nicht mehr darum, welche Banken aus dem Swift-System ausgeschlossen werden. Sanktionen gegen die Zentralbank lösen eine massive Entwertung des Rubels aus, worauf die Russen auch entsprechend durch Abkoppelung reagiert haben.

Russland hat sich durch viele Hundert Milliarden Dollar an Devisenreserven nahezu unverletzlich geglaubt. Hätten wir über dieses Geld nicht schon vor dem Angriff auf die Ukraine Druck auf Putin ausüben können?

Das viele Geld hat Putin nicht unverwundbar gemacht. Denn mit dem Angriff auf die russische Zentralbank kann er einen großen Teil dieser Devisen nicht nach Hause holen. Aber vor Kriegsbeginn mit einem solchen Schritt auch nur zu drohen, wäre die nukleare Option in Sachen Finanzpolitik gewesen. Allein die Erwähnung der "Zentralbank" hätte den Rubel abstürzen lassen – und der russische Gegenschlag hätte nicht auf sich warten lassen.

Nun werden die Strafmaßnahmen gegen Russland immer wieder mit denen gegen Iran verglichen ...

... wobei viele nicht den entscheidenden Unterschied zwischen Iran und Russland sehen. Iran will die Atombombe, Russland hat sie. Und nicht nur eine. Das russische Arsenal reicht ohne Weiteres aus, um das menschliche Leben, wie wir es kennen, auf unserem Planeten unmöglich zu machen.

Nun ließe sich die Diskussion in Deutschland und Europa über einen Importstopp von Erdgas aus Russland geradezu als eine Luxusdebatte bezeichnen. Denn viele, insbesondere ärmere Länder, sind stark auf Getreidelieferungen aus der Ukraine und Russland angewiesen.

Diese Tatsache ist vielen Leuten erst reichlich spät aufgefallen. "Verdammt, aus Russland kommen ja nicht nur Gas und Öl", so ließe sich die zentrale Erkenntnis zusammenfassen. Die Lieferstörungen für Getreide etwa aus der Ukraine sind schon schlimm genug, aber das Problem ist noch größer. Und hat wiederum mit Öl zu tun. Nehmen wir das Beispiel Indien, das für seine Landwirtschaft auf Diesel und Dünger angewiesen ist. Wenn deren Nachschub stockt, droht ein schwerer Einbruch in der Weltversorgung. Sie sehen, wie komplex die weltweiten Auswirkungen des Krieges sind. Und dabei ist der russische Lebensmittelsektor nicht einmal sanktioniert.

Nicht zuletzt sind die meisten Hafenstädte im Süden der Ukraine, wo das Getreide verschifft wird, Kriegsgebiet.

Es wird sehr darauf ankommen, wie sich die Lage zur Erntezeit hin entwickeln wird. Aber auch der Transport per Schiff wird unerschwinglich teuer werden, weil die Versicherungsprämien durch den Status als Kriegsgebiet exorbitant hochgeschraubt werden.

Mit Ägypten liegt ein Land, das auf Getreideeinfuhren angewiesen ist, gar nicht einmal so fern.

Das ist ein gutes Beispiel. Der Arabische Frühling 2011 hatte eine seiner Ursachen in hohen Lebensmittelpreisen, die Folge war die Destabilisierung einer ganzen Region mit einem blutigen Bürgerkrieg in Syrien.

Bestünde eine Lösung darin, Lebensmittel stärker von staatlicher Seite zu subventionieren?

In wohlhabenderen Ländern ist das möglich, in ärmeren, vom Import abhängigen Staaten kann es zu schwerwiegenden fiskalpolitischen Problemen führen. Es ist die Summe von steigenden Lebensmittelpreisen, hohen Energiekosten und Zinssteigerungen, die sich als echtes Problem erweisen könnte. Für manche Staaten braut sich gerade ein perfekter Sturm zusammen.

Weltweites Chaos, das die Aufmerksamkeit der westlichen Staaten bindet, ist sicher in Putins Sinn.

Mit Sicherheit. Bisweilen erweist es sich als hilfreich, den Konflikt aus der Vogelperspektive zu betrachten. Putin hat den Westen mit exorbitanten Sicherheitsgarantien konfrontiert, mit seinem Ukraine-Krieg will er die Grenze zu den USA neu abstecken. Nuklearmacht gegen Nuklearmacht, die Europäer interessieren ihn dabei weniger. Nebenbei gesagt: Wenn eine fremde Macht ihren Einfluss so weit vor die Haustür der Amerikaner erweitern würde, wie es die USA in Richtung Russlands getan haben, wäre die amerikanische Reaktion auch heftig.

Glauben Sie aber, dass die Ukraine tatsächlich einmal Mitglied der Nato werden könnte?

Ich gehe nicht davon aus. Die Krise hat auf der einen Seite die Bedeutung der Nato-Mitgliedschaft und des gemeinsamen Schutzes unter Artikel 5 unterstrichen, aber auf der anderen Seite die Grenze des Machbaren auch klar abgesteckt.

Professor Tooze, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Adam Tooze via Videokonferenz
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