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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Krieg in der Ukraine "Für die russische Armee wird es langsam knapp"
Die russische Armee beißt sich in der Ukraine die Zähne aus. Die ukrainischen Streitkräfte greifen Konvois an, auch russische Flugzeuge werden abgeschossen. Hat Präsident Putin noch genug Kräfte für den Sturm auf Kiew?
Es ist eine Aussage aus Moskau, die zumindest etwas Hoffnung auf einen Waffenstillstand im Ukraine-Krieg weckt: Russland wolle keine Absetzung der ukrainischen Regierung, erklärte der Kreml am Mittwoch. Das steht im Widerspruch zu früheren Aussagen des russischen Präsidenten Wladimir Putin, der den Angriff auf das Nachbarland mit einer "Entnazifizierung" rechtfertigte und die Regierung stürzen wollte. Ist die russische Regierung wirklich zu ernst gemeinten Verhandlungen bereit oder ist es der nächste Bluff? Das lässt sich aktuell noch nicht sagen.
Fest steht, dass Putin immer mehr unter Druck gerät. Die Invasion in der Ukraine ist mit viel höheren Kosten verbunden, als Russland offenbar eingerechnet hatte. Es gibt mehr tote russische Soldaten, mehr zerstörtes militärisches Gerät, scharfe Sanktionen und es ist auch noch keine Strategie in Sicht, wie Russland die Ukraine kontrollieren will, selbst wenn die Eroberung irgendwann erfolgreich sein sollte.
Trotzdem finden in der Ukraine weiterhin schwere Kämpfe statt, die Zivilbevölkerung leidet unter dem russischen Bombenhagel. Aber hat Putin überhaupt noch genügend Kräfte, um seine Kriegsziele zu erreichen? Gustav Gressel, Russland- und Militärexperte bei der internationalen Denkfabrik "European Council on Foreign Relations", gibt im Interview mit t-online einen Überblick zur aktuellen Lage.
t-online: Herr Gressel, Russland hat überraschend angekündigt, die ukrainische Regierung nicht stürzen zu wollen. Woher kommt der plötzliche Strategiewechsel?
Gustav Gressel: Russland bahnt sich damit den Weg zu offiziellen Gesprächen auf Ministerebene. Vorher hatte man immer gesagt, dass die ukrainische Regierung kein Ansprechpartner sei. Putin rückt damit von einer Maximalforderung ab.
Gustav Gressel ist Senior Policy Fellow beim European Council On Foreign Affairs in Berlin. Seine Schwerpunkte sind Russland, Osteuropa und bewaffnete Konflikte.
Ist es das Eingeständnis, dass sich die politischen Ziele Putins in seinem Ukraine-Krieg nicht mehr erfüllen lassen?
Putin hat sich den Realitäten in der Ukraine ergeben und das war ein wichtiger Schritt. Aber wir müssen abwarten, wie die Gespräche in der Substanz laufen – viele Schweinereien passieren im Detail.
Ist mittlerweile eine Einnahme der ganzen Ukraine vom Tisch?
Zumindest diskutiert man wahrscheinlich in Moskau, die unrealistischen Kriegsziele herunterzuschrauben. Sie wollten eine Marionettenregierung einsetzen, aber selbst die Opposition in der Ukraine hat den Krieg verurteilt. Die Amerikaner haben im Irak immerhin die Kurden und schiitische Gruppen gehabt, die ihnen zugejubelt haben. Aber die Russen haben in der Ukraine niemanden. Mit wem wollen sie das Land beherrschen?
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Es gibt auf jeden Fall schon viele Proteste der ukrainischen Bevölkerung.
Die ukrainische Bevölkerung protestiert und will keine russische Herrschaft. In Cherson und anderen Gebieten mehren sich die Berichte, dass der russische Geheimdienst FSB die Organisatoren der Demonstrationen verhaften und erschießen lässt. Aber das wird die Menschen auch nicht ruhiger stimmen. Man kann den Terror bis zum Äußersten treiben, aber dann herrscht Putin über einen Friedhof.
Hängt das mögliche Umdenken in Russland auch damit zusammen, dass die russische Armee in der Ukraine kaum vorankommt?
Der schnelle Sieg ist ausgeblieben und jetzt geht es für die russische Armee sehr langsam voran. Die Lage ist insgesamt sehr unübersichtlich. Die Ukraine reagiert auf russische Vorstöße und versucht beispielsweise eine Einkesselung von Kiew zu verhindern. Die russische Armee will Verteidigungspositionen der Ukrainer umgehen und das bringt die ukrainische Armee teilweise in Bedrängnis.
Warum?
Die Ukraine ist ein großes Land und sie hat zu wenig Verteidiger für das ganze Territorium. Die mechanisierten Reserven der ukrainischen Armee sind knapp und wenn sich die Verbände bewegen müssen, dann sind sie einfach von der russischen Luftwaffe zu attackieren. Trotzdem schaffen es die Ukrainer, das ganz gut zu managen und beispielsweise russische Versorgungslinien anzugreifen.
Im Donbass gab es zumindest keine großen Geländegewinne der russischen Armee.
Dort muss die ukrainische Armee langsam zurückgehen. Die Russen versuchen sie einzukesseln und einzelne Verbände abzuschneiden. Bisher gab es im Donbass für die Ukraine keine großen militärischen Katastrophen.
Das russische Hauptkriegsziel scheint immer noch Kiew zu sein. Wie ist die Lage um die ukrainische Hauptstadt?
Vom Westen her hat die russische Armee versucht, Kiew zu umschließen. Im Norden wird sehr zäh um Vororte gekämpft und im Osten muss die russische Armee erst mal über den Fluss Dnipro drüber. An beiden Fronten hat die Ukraine gutes Gelände und starke Verteidigungslinien. Es kann sich noch lange hinziehen, bis es zu einer Einkesselung Kiews kommen könnte.
Hat Russland denn überhaupt genug Soldaten, um Kiew anzugreifen?
Die russische Armee will nun neue Kräfte für den Krieg mobilisieren, weil sie nicht mehr so viele haben. Deshalb läuft in Russland eine große Propagandakampagne an und es gibt das Gerücht, dass in ländlichen Gegenden schon Mobilmachungen ausgerufen wurden. Ohne eine Mobilisierung und mehr Soldaten wird es für die russische Armee langsam knapp in der Ukraine.
Die russischen Kräfte reichen bislang aber nicht einmal aus, um eine ukrainische Großstadt im Norden zu erobern.
Ja, sie haben auch nicht die Kräfte, um ihre Nachschublinien zu sichern. Da kommt es ständig zu ukrainischen Überfällen auf russische Konvois. Wenn die russische Armee das wirklich sichern wollen würde, dann bräuchte man noch einmal mehr Kräfte. Solange Städte wie Sumy – ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt – nicht gefallen sind, wird es für Russland nicht einfacher. Das erklärt, warum russische Vorstöße stecken bleiben.
Wie könnte die russische Armee vorgehen, um mit den vorhandenen Kräften die Städte anzugreifen, wenn diese eingekesselt sind?
Das würde sehr viel Zeit kosten, denn die Russen müssten Schwerpunkte auf eine Stadt legen und wenn diese erobert ist, die Kräfte zur nächsten Stadt verlagern. Gleichzeitig würde das nicht funktionieren. Bei den Städten wie Kiew oder Charkiw, die nicht eingekesselt sind, ist Zeit auch für den Angreifer ein kritischer Faktor. Denn so hat der Verteidiger immer mehr Zeit, sich einzurichten und bessere Stellungen auszuheben. Aus russischer Sicht ist der aktuelle Zeitverlust ein großes Problem.
Warum hat Russland den riesigen Konvoi überhaupt schon in die Ukraine fahren lassen? Das ist doch ein gewaltiges Ziel für ukrainische Partisanenkämpfer.
Das ist eine gute Frage. Ich kann nicht wirklich sagen, warum dieser Konvoi nicht vorankommt – es gibt zerstörte Brücken und immer wieder Angriffe auf diesen Konvoi, auch mit Drohnen. Klar ist: Es ist auf jeden Fall kein großes Ruhmesblatt für die russische Armee. Der Konvoi ist ein stehendes Ziel und durch die Ausdehnung auch schwer zu verteidigen.
Wir sind auch eigentlich davon ausgegangen, dass Russland die Lufthoheit über der Ukraine hat. Trotzdem wurden in den vergangenen Tagen immer wieder russische Kampfjets und Hubschrauber abgeschossen. Wie passt das zusammen?
Die russische Luftwaffe schlägt sich schlechter als erwartet. Sie bekommt es nicht hin, die ukrainischen Luftabwehrsysteme zu stören und auszuschalten. Wir haben gestern wieder den Einsatz eines ukrainischen Buk-Systems gesehen, was bemerkenswert ist. Hinzu kommt, dass Russland relativ wenig Präzisions- und Abstandswaffen einsetzt, selbst teure Kampfflugzeuge werden mit herkömmlichen Bomben bestückt, die im Tiefflug eingesetzt werden müssen. Da sind sie verwundbar, auch gegen schultergestützte Flugabwehr.
Hat denn die russische Armee noch viele Waffensysteme in der Hinterhand, die noch nicht eingesetzt wurden?
Es ist unklar, ob sich Russland seine Präzisionswaffen aufspart oder ob man schlichtweg zu wenig davon hatte. Drohnen und elektronische Kampfmittel wurden bislang von russischer Seite auch kaum eingesetzt. Das verwundert mich, besonders wenn man sich anschaut, wie die russische Armee in Syrien gekämpft hat.
Eigentlich sollten auch Soldaten aus Belarus bei der Invasion helfen. Doch auch das ging offenbar schief, weil belarussische Offiziere zuvor desertiert sind?
Sogar der Chef des Generalstabs ist deshalb zurückgetreten. Die belarussische Armee hat generell ein Mannschaftsproblem. Bei den Protesten gegen Alexander Lukaschenko haben sich auch viele Soldaten angeschlossen und bei den Manövern mit Russland waren die belarussischen Verbände stets unterbesetzt. Lukaschenko steht unter dem Druck Putins, von Brest aus eine weitere Front in der Ukraine zu eröffnen. Aber das kann er sich eigentlich kaum leisten, weil die eigenen Soldaten den Einsatz infrage stellen.
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Zu wenig Truppen, schlechte Versorgung und nicht ausreichend Material: Das kann ja alles damit zusammenhängen, dass der Kreml dachte, dass ein Krieg in der Ukraine in zwei Wochen vorbei wäre.
Absolut. Russland wäre nicht das erste Land, das immer mehr Material in einen Krieg schickt, der nicht zu gewinnen ist. Das kann man eine Zeit lang machen, aber die langfristige Beherrschbarkeit der Ukraine ist noch immer eine Frage, auf die ich von russischer Seite keine Antwort sehe.
Gehen Sie davon aus, dass Putin einen Plan B hat oder eine Exit-Strategie?
Nein, Putin hat keinen Plan B. Erst jetzt fängt er wahrscheinlich an, darüber nachzudenken. Vergangenen Sonntag war im orthodoxen Kalender der "Sonntag der Versöhnung" und Russland wollte bis zu diesem Tag die Besetzung der Ukraine abgeschlossen haben. Da sind wir nun weit von entfernt.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Gressel.
- Interview mit Gustav Gressel