Wegen angeblicher Staatsfeindlichkeit Pro-kurdische Partei in Türkei vor Verbot?
Die türkische Regierung setzt die Oppositionspartei HDP seit Längerem unter Druck, zahlreiche Mitglieder sind festgenommen worden.
Der Generalstaatsanwalt des Obersten Gerichtshofs in der Türkei will die pro-kurdische Oppositionspartei HDP auf dem Klageweg vom Verfassungsgericht verbieten lassen. Eine entsprechende Anklageschrift sei an das Gericht in Ankara geschickt worden, meldete die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu am Mittwoch. Zur Begründung hieß es unter anderem, HDP-Mitglieder hätten mit ihren Aussagen und Handlungen beabsichtigt, die Integrität des Staates zu untergraben.
Die HDP verurteilte die Pläne als "politischen Putsch" verurteilt und kündigte "Widerstand" an. "Wir rufen alle demokratischen Kräfte, alle gesellschaftlichen und politischen Oppositionskräfte und unser Volk auf, gemeinsam gegen diesen politischen Putsch zu kämpfen", erklärten die HDP-Vorsitzenden Pervin Buldan und Mithat Sancar.
Erdoğan sieht HDP als verlängerten Arm der PKK
Die türkische Führung übt seit Langem Druck auf die HDP aus, Tausende Mitglieder sitzen in türkischen Gefängnissen. Der ehemalige Co-Vorsitzende der Partei, Selahattin Demirtaş, ist seit 2016 inhaftiert. Erst vor wenigen Wochen wurden erneut zahlreiche Mitglieder unter Terrorvorwürfen festgenommen. Seit den Kommunalwahlen von 2019 ist zudem ein Großteil der ursprünglich 67 HDP-Bürgermeister abgesetzt worden.
Üblicherweise setzt die AKP-Regierung Zwangsverwalter aus den eigenen Reihen ein. Präsident Recep Tayyip Erdoğan wirft der HDP vor, der verlängerte Arm der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK zu sein. Die HDP weist das zurück. Dieser Vorwurf fand sich Anadolu zufolge auch in der nun eingereichten Anklageschrift. Die PKK gilt in der Türkei, Europa und den USA als Terrororganisation.
Nach einer gescheiterten Befreiung von Geiseln aus der Gewalt der PKK im Nordirak im Februar hat sich der Druck auf die Partei aber noch einmal verschärft. Besonders der Chef der ultranationalistischen MHP, Devlet Bahçeli, agitiert immer wieder gegen die Partei. Im Februar etwa sagte er: "Ohne mit der HDP abzurechnen, können wir nicht sagen, dass wir mit der PKK aufgeräumt, sie vernichtet und ausgerottet haben. Mit diesem Ruf ist die Auflösung der HDP unentbehrlich". Die MHP steht in einem Wahlbündnis mit der islamisch-konservativen AKP Erdoğans.
HDP-Abgeordneten wird Mandat entzogen
Nur wenige Stunden vor der Nachricht über das Verfahren war dem HDP-Politiker Ömer Faruk Gergerlioğlu das Mandat als Parlamentsabgeordneter aufgrund eines rechtskräftigen Urteils entzogen worden. Der Schritt, durch den Gergerlioğlu auch seine Immunität verlor, stieß auf scharfe Kritik. Ob der Politiker nun ins Gefängnis muss, war zunächst unklar.
Den Weg zur Aufhebung der Immunität Gergerlioğlus ebnete die Bestätigung einer zweieinhalbjährigen Haftstrafe wegen Terrorpropaganda im Februar. Hintergrund war ein Tweet aus dem Jahr 2016. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) hatte das Urteil als politisch motiviert kritisiert. Gergerlioğlu hat Beschwerde beim Verfassungsgericht gegen das Urteil eingelegt und betont, dass das Parlament dazu verpflichtet sei, diese Entscheidung abzuwarten.
HDP ist derzeit zweitgrößte Oppositionspartei
Gemäß der türkischen Verfassung kann ein Parlamentsmandat aufgehoben werden, wenn der Träger eine Straftat begangen hat, die eine Kandidatur von vornherein ausgeschlossen hätte. Der Sitz wird aberkannt, wenn das Parlament von einem solchen letztinstanzlichen Urteil informiert wird.
In der aktuellen Legislaturperiode wurde nach Parteiangaben drei HDP-Abgeordneten das Mandat aberkannt. Die HDP, die 2012 gegründet wurde, ist mit aktuell noch 55 Sitzen die zweitgrößte Oppositionspartei in der Türkei.
Die Türkei-Vertreterin von Human Rights Watch, Emma Sinclair-Webb, nannte die Entscheidung zu Gergerlioğlu eine "absolut schockierende Entwicklung". Es sei eine "Vergeltung für Gergerlioğlus Einsatz für Menschenrechte und dafür, dass er der türkischen Führung jeden Tag den Spiegel vorhalte, für deren schwache Bilanz in Menschenrechtsfragen, sagte sie der dpa. "Dieser Fall ist der lebende Beweis dafür, dass die EU keinem Menschenrechtsaktionsplan Glauben schenken sollte." Erdoğan hatte erst Anfang März einen "Aktionsplan" angekündigt, um die Menschenrechtslage im Land zu verbessern und den Rechtsstaat zu stärken.
- Nachrichtenagenturen dpa und AFP