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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Erdogan verliert die Städte Die kommenden Tage werden noch aufregender
Erst Ankara, dann Izmir – und jetzt wahrscheinlich auch noch Istanbul: Der türkische Präsident Erdogan und seine Partei AKP sind die Großstädte los. Doch Lücken der Macht werden sie nicht zulassen wollen.
"Wir sind immer noch die stärkste Partei", kündigt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan in Ankara nach Mitternacht vor Tausenden Anhängern an – doch nicht prahlend, nicht überzeugt oder gar siegessicher. Eher aufmunternd und enttäuscht. Er ahnte wahrscheinlich, dass ihm das Volk einen Denkzettel für die miserablen Umstände im Land verpasst hat: Die wirtschaftliche Krise, die zerstörten Landstriche, zubetonierten Städte und Ungerechtigkeiten in allen Bereichen des Lebens rächen sich.
Meşale Tolucoremedia:///cap/blob/content/85471718#data, geboren 1984, ist Journalistin. In Folge des gescheiterten Putsches in der Türkei wurden sie und ihr kleiner Sohn 2017 als politische Gefangene inhaftiert. Auch ihr Mann wurde verhaftet. Noch immer schreibt sie über die Politik in der Türkei. Am 23. April erscheint ihr Buch: "Mein Sohn bleibt bei mir!" – Als politische Geisel in türkischer Haft – und warum es noch nicht zu Ende ist.
In 81 Provinzen der Türkei wurde gestern zeitgleich abgestimmt. Nach der aggressiven Stimmung während der Wahlkampagne begann auch der Wahltag angespannt. Trotz unzähligen Meldungen über Unrechtmäßigkeiten, Behinderungen und sogar Todesfällen ging der Tag spannend und doch ohne endgültige Ergebnisse dem Ende zu. Sowohl die islamistisch-konservative AKP, als auch die nationalistisch-kemalistische CHP lieferten sich mit ihren gegründeten Bündnissen in den wichtigsten Metropolen wie Istanbul, Ankara und Izmir ein Kopf-an-Kopf-Rennen.
Gespannte Stunden in Istanbul
Nach den verkündeten Siegen in der Hauptstadt Ankara und der Großstadt Izmir hielten alle förmlich die Luft an und erwarteten die Siegesverkündung für die Millionenmetropole Istanbul: Doch sie erhielten gleich zwei. Beide Kandidaten, der ehemalige Premier und stärkste Kandidat der AKP, Binali Yıldırım, und Ekrem Imamoglu, Bürgermeisterkandidat der CHP und quasi der gesamten Opposition, gingen nacheinander vor die Presse und verkündeten ihren Sieg.
Währenddessen schwieg die Hohe Wahlbehörde (YSK), ja sogar die staatlich treue Nachrichtenagentur AA – die sonst in weniger als drei Stunden die kompletten Ergebnisse liefert – kam genau bei 98,8 Prozent der ausgezählten Stimmen für Istanbul zum stoppen, verfiel in den Winterschlaf. Dabei hofften viele am 1. April auf das Frühlingserwachen, das vielleicht auf sich warten lässt, aber nicht vollkommen verhindert werden konnte. Denn heute zeichnet sich deutlich ab: Auch Istanbul geht an die Opposition – Erdogan verliert die großen Städte.
Die Konkurrenz der Bündnisse
Wenn man sich vor Augen hält, dass in der Türkei die Wahlen weder frei noch unter fairen Umständen abliefen, ist es erstaunlich festzustellen, dass 84 Prozent der Stimmberechtigten dennoch diese letzte Möglichkeit der Mitbestimmung in Anspruch genommen und somit Erwartungen ausgesprochen haben. Nicht zuletzt wegen der Aufforderungen der Parteien, ein letztes Mal die Urnen als Stimmungsbarometer zu nutzen.
Im Mittelpunkt der Kommunalwahlen stand die unerbittliche Konkurrenz der Bündnisse. Auf der einen Seite die "Volksallianz" der AKP und MHP, auf der anderen Seite das "Bündnis der Nation" der CHP und IYI-Parti, das in den westtürkischen Städten durch die HDP unterstützt wurde.
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Die Regierungspartei AKP hat zwar wieder im Gesamtergebnis den höchsten Stimmenanteil (ca. 44 Prozent) erhalten, aber ist zugleich die Partei, die die meisten Bürgermeisterposten abgeben musste. Sie hat sowohl gegen die CHP als auch gegen ihren Verbündeten MHP kritische Städte verloren. Vor allem die Wähler in den bevölkerungsstärksten Großstädten wie Istanbul, Ankara und Izmir haben Erdogan und seiner Partei einen Denkzettel verpasst. Es war für Erdogan eine "Überlebensfrage" – weshalb er bis Stunden vor dem 31. März persönlich noch den Wahlkampf auf der Straße anführte. Während die ländlichen Städte seine Partei wiederbelebten, kehrten ihm die Großstädte den Rücken zu.
Die Erfolge der AKP sind keine Erfolge
Die wenigen Stadtverwaltungen, die AKP und MHP von der HDP übernommen haben, sind keineswegs ein Erfolgsergebnis. Es ist bekannt, dass Tausende Menschen aus den zerstörten Städten im Südosten, allen voran aus Şırnak, vertrieben wurden. Anstelle der Bevölkerung rückten Sicherheitskräfte und Soldaten nach, denen sie nun das Wahlergebnis in Şırnak (über 60 Prozent für die "Volksallianz") zu verdanken haben.
Die seit 25 Jahren von der AKP regierte Hauptstadt Ankara ging bereits nach wenigen Stunden der Auszählung an den Kandidaten der Oppositionspartei CHP über. Dieses wichtige Ergebnis hat der neue Bürgermeister Mansur Yavaş einerseits dem "Bündnis der Nation" als auch der HDP zu verdanken. Ohne die taktische Entscheidung der HDP, auf eigene Kandidaten zugunsten der CHP in den westtürkischen Großstädten zu verzichten, wären manche Siege nicht so eindeutig möglich gewesen.
Auch Izmir, die Hochburg der CHP, war heiß umstritten. Doch die Loyalität der CHP-Wähler in Izmir konnte auch bei diesen Wahlen nicht gebrochen werden. Tunç Soyer gewann, wie erwartet, haushoch das Bürgermeisteramt. Besonders aber Istanbul, wo Erdogan den stärksten Kandidaten seiner Partei aufgestellt hatte und dennoch vermutlich verlor, zeigt, dass seine Überheblichkeit keineswegs gerechtfertigt war. Die 17-jährige Herrschaft der AKP unter Erdogan fängt vielleicht das erste Mal an zu bröckeln.
Die Taktik der HDP, in den westtürkischen Städten die CHP-Kandidaten zu unterstützen und im Südosten die eigenen Kandidaten aufzustellen, hat größtenteils das Rennen bestimmt. Trotz Verleumdung und Verdrängung, Repressionen und Festnahmen hat sich die drittgrößte Partei des türkischen Parlaments erneut durchgesetzt. Zum einen hat sie gezeigt, dass sie in der politischen Mitbestimmung eine entscheidende Schlüsselrolle spielt, und zum anderen immer noch hohen Zuspruch von der eigenen Wählerschaft erhält.
Dürfen die Wahlsieger ihr Amt ausüben?
Ihr Ziel, die staatlichen Zwangsverwalter durch eigene Bürgermeister abzulösen, hat sie größtenteils verwirklicht. Ob diese Bürgermeister jedoch ihr Amt leiten dürfen, wird sich in den nächsten Tagen und Wochen entscheiden. Erdogan hat bereits vor Wochen angekündigt, sie erneut durch Zwangsverwalter ersetzen zu lassen.
Das Gesamtergebnis zeigt, dass die wirtschaftlichen Bedenken, das Ausmaß der Repression, die Einschränkungen der Lebensweise und die aggressive Rhetorik die Menschen nicht unberührt lässt. Bereits in den Umfragen war zu vermuten, dass die wirtschaftliche Krise und die polarisierende Politik sich im Ergebnis widerspiegeln werde.
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Auch wenn die AKP in ihrem verflochtenen System keine Machtlücken zulassen wird, hat die gesamte Opposition gezeigt, dass mit der richtigen Taktik Erfolge erzielt werden können. Dass die kommenden Tage aufregender als die bisherigen sein werden, ist fast sicher.