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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Schicksals-Wahl in der Türkei Wer Erdogan am Sonntag gefährlich werden könnte
Die Türkei wählt Parlament und Präsidenten neu. Erdogan geht als Favorit ins Rennen, aber sein Wahlsieg ist keinesfalls sicher. Besonders ein Kandidat macht die Wahl spannend. Alle wichtigen Informationen zur Türkei-Wahl.
Die größten türkischen Oppositionsparteien schicken bei der Präsidentschaftswahl am 24. Juni drei Kandidaten gegen den islamisch-konservativen Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan ins Rennen.
Erdogan ist der Favorit, aber sein Sieg ist keinesfalls sicher.
Warum wird jetzt gewählt?
Die Wahlen waren eigentlich erst für den November 2019 geplant, Erdogan ließ sie um fast eineinhalb Jahre vorziehen. Hintergrund dürfte gewesen sein, dass die Wirtschaft in immer schwereres Fahrwasser gerät und Erdogan sich bessere Chancen bei einer früheren Wahl ausrechnete. Allerdings ist die wirtschaftliche Lage jetzt schon prekär, die Inflation ist hoch, die Lira verliert an Wert.
Was wird gewählt?
Der Präsident steht zur Wahl, neben Erdogan bewerben sich fünf Kandidaten von fünf Oppositionsparteien um den Posten. Umfragen zufolge ist der aussichtsreichste Herausforderer Muharrem Ince von der größten Oppositionspartei CHP. Auch die neuerdings 600 Abgeordneten im Parlament werden gewählt, bislang waren es 550. Erdogans AKP will ihre absolute Mehrheit im Parlament halten.
Wieso ist die Wahl so wichtig?
Mit der Abstimmung wird die Einführung des im vergangenen Jahr per Verfassungsreferendum beschlossenen Präsidialsystems abgeschlossen. Das neue System geht auf Erdogan zurück, es ist sein wichtigstes politisches Projekt. Der künftige Präsident wird deutlich mächtiger als bislang, er wird zugleich Staats- und Regierungschef. Das Amt des Ministerpräsidenten wird abgeschafft. Die Opposition befürchtet im Fall eines Erdogan-Sieges eine "Ein-Mann-Herrschaft".
Wird die Wahl frei und fair?
Beim Verfassungsreferendum im vergangenen Jahr - das Erdogans Lager gewann - prangerte die Opposition Wahlbetrug an. Bei der Wahl am Sonntag will die Opposition mehr als 600.000 Wahlbeobachter mobilisieren. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und die Parlamentarische Versammlung des Europarates entsenden eine kleinere Zahl internationaler Beobachter. Die türkische Regierung verweigerte zwei OSZE-Beobachtern die Einreise, darunter dem Linke-Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko. Hunko kritisierte: "Offensichtlich will die Erdogan-Regierung bei diesen für sie äußerst wichtigen Wahlen freie Hand haben."
Welche sind die größten Parteien in der Türkei?
AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) – islamisch-konservativ
CHP (Republikanische Volkspartei) – kemalistisch, sozialdemokratisch
HDP (Demokratische Partei der Völker) – demokratisch-sozialistisch, pro-kurdisch
İyi (Gute Partei) – nationalistisch, kemalistisch
MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung) – nationalistisch, rechtsextrem
Wer kandidiert für das Amt des Präsidenten?
Der amtierende Präsident Erdogan hat es mit drei aussichtsreichen Konkurrenten zu tun.
Recep Tayyip Erdogan (AKP)
Er regiert die Türkei seit 15 Jahren. 2003 wurde er erstmals zum Regierungschef gewählt, 2014 übernahm er das Präsidentenamt. Unter der Regierung seiner islamisch-konservativen AKP hat das Land einen Wirtschaftsboom erlebt, doch hat der 64-Jährige die türkische Gesellschaft mit seinem zunehmend autoritären und repressiven Kurs gespalten.
Für die Wahl ist Erdogan ein Bündnis mit der ultrarechten MHP des 70-jährigen Devlet Bahceli eingegangen, mit dem er seit dem Putschversuch von Juli 2016 kooperiert. Das Wahlbündnis soll der MHP den Einzug ins Parlament erlauben und Erdogan eine absolute Mehrheit in der ersten Runde der Präsidentenwahl sichern. Die MHP ist durch die Abspaltung der IYI-Partei geschwächt.
Muharrem Ince
Die größte türkische Oppositionspartei CHP hat in den vergangenen Jahren eine traurige Figur gemacht. Sie war kraftlos und verstaubt, eine Herausforderung für Staatspräsident Erdogan war sie sicher nicht. Mit dem Präsidentschaftskandidaten der CHP hat sich das geändert: Muharrem Ince (54) begeistert die Massen, zumindest jene, die nach mehr als 15 Jahren genug von Erdogan und seiner AKP haben. Sollte Erdogan bei der Präsidentenwahl am 24. Juni die absolute Mehrheit verfehlen – was Umfragen zufolge möglich ist –, dürfte Ince sein Herausforderer in der Stichwahl werden.
Im ersten Wahlkampfmonat trat Ince mehr als 70 Mal auf, so eine Taktung sind die Türken sonst nur vom Amtsinhaber gewöhnt. Ince gibt sich dabei als Gegenentwurf zu Erdogan: Er verspricht, ein unparteiischer Präsident zu sein, während Erdogan sich wieder an die AKP-Spitze hat wählen lassen. Ince hat den inhaftierten Präsidentschaftskandidaten der pro-kurdischen HDP, Selahattin Demirtas, im Gefängnis besucht – den Erdogan einen "Terroristen" nennt.
Die Krise mit Deutschland, das kündigt Ince in einem "Bild"-Interview an, will er beenden. Das Präsidialsystem, das auf Erdogan zurückgeht und dessen Einführung mit den Wahlen am 24. Juni abgeschlossen wird, möchte Ince wieder abschaffen. Den Ausnahmezustand – von Erdogan verhängt – will er aufheben. Bei seiner Nominierung kündigte Ince an, den von Erdogan errichteten Präsidentenpalast mit seinen mehr als 1150 Zimmern nicht zu seinem Amtssitz zu machen. Stattdessen will er den Palast in eine Bildungsstätte verwandeln.
Das passt zu Ince, der früher Physiklehrer und Schuldirektor war. Nach seinen Angaben schloss er sich bereits als Jugendlicher der CHP an, die Mitte-Links-Partei versteht sich als Bewahrer des Erbes von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk. Ince stammt aus Yalova am Marmarameer, ist verheiratet und Vater eines Sohnes. Im Parlament sitzt Ince seit 2002 – jenem Jahr, als Erdogans AKP an die Macht kam.
Meral Aksener
Die frühere Innenministerin hatte die ultrarechte MHP 2016 im Streit verlassen und im vergangenen Oktober mit anderen die IYI-Partei (Gute Partei) gegründet. Im Fall ihrer Wahl verspricht Aksener, den Wechsel zum Präsidialsystem rückgängig zu machen und inhaftierte Journalisten freizulassen.
Im Ausland wird Aksener oft mit der französischen Rechtspopulistin Marine Le Pen verglichen. Der 61-Jährigen wird zugetraut, Stimmen nationalistischer Wähler aus verschiedenen Lagern zu gewinnen. Für die meisten Kurden ist die nationalistische Hardlinerin dagegen nicht wählbar, da sie die Kurden nicht als eigenständige Volksgruppe anerkennt.
Selhattin Demirtas
Der Kurdenpolitiker tritt für die HDP an – obwohl er seit eineinhalb Jahren im Gefängnis sitzt. Im Juni 2015 hatte der 45-Jährige seine Partei erstmals ins Parlament geführt. Das kostete die AKP die Mehrheit und machte Erdogan zum Feind der HDP.
Im November 2016 wurden Demirtas und andere Abgeordneten wegen des Vorwurfs festgenommen, der verbotenen PKK-Guerilla nahezustehen. Heute ist die HDP durch die Inhaftierung Tausender Funktionäre und Mitglieder geschwächt. Die AKP diffamiert die prokurdische Partei regelmäßig als Terrorunterstützerin. Andere Oppositionsparteien scheuen die Kooperation.
Wie stehen Erdogans Chancen?
Erdogan dürfte bei der Wahl am Sonntag die mit Abstand meisten Stimmen gewinnen, Umfragen zufolge ist aber nicht gesichert, dass er in der ersten Runde die absolute Mehrheit holt. Sollte er diese verfehlen, müsste er am 8. Juli in die Stichwahl.
Was passiert bei einer Stichwahl?
Das Siegerimage Erdogans – der seit 16 Jahren keine Wahl verloren hat – wäre zumindest angekratzt, würde die Opposition ihn in die Stichwahl zwingen. Er müsste dann gegen den Zweitplatzierten antreten, aller Wahrscheinlichkeit nach Ince. Ince könnte auf die Unterstützung vieler Anhänger der Opposition zählen, die wenig eint - bis auf ihre ausgeprägte Abneigung gegenüber Erdogan.
Selbst die pro-kurdische HDP – die der CHP zwar kritisch gegenübersteht, die AKP aber noch stärker ablehnt – hat eine Unterstützung Inces in der Stichwahl angekündigt. Dennoch ginge Erdogan auch in eine Stichwahl als Favorit.
Was passiert, wenn Ince doch gewinnt?
Dann müsste Erdogan das Amt an ihn übergeben. Wie seine Anhänger darauf reagieren würden, ist ungewiss. Es wäre nach 16 Jahren Erdogan eine Zäsur für das Land. Ince will das Präsidialsystem wieder abschaffen und zum parlamentarischen System zurückkehren, wobei das weder einfach wäre noch schnell ginge: Dafür müsste erneut die Verfassung geändert werden. Ince hat ebenfalls angekündigt, den nach dem Putschversuch im Juli 2016 von Erdogan verhängten Ausnahmezustand wieder aufzuheben. Überraschenderweise hat das inzwischen auch Erdogan für den Fall seiner Wiederwahl versprochen.
Wie sieht es denn bei der Parlamentswahl aus?
Sollte die pro-kurdische HDP über die Zehn-Prozent-Hürde kommen, könnte Erdogans AKP die absolute Mehrheit im Parlament verlieren. Das wäre für Erdogan – der zugleich AKP-Chef ist – ein Problem: Sein Präsidialsystem ist nicht darauf ausgelegt, dass die Opposition im Parlament die Mehrheit hat. Er kann dann zwar per Dekret regieren, und das Parlament muss den Dekreten nicht zustimmen. Das Parlament kann aber Gesetze erlassen, die diese Dekrete wieder ungültig machen. Im schlimmsten Fall würden sich Präsident und Parlament gegenseitig blockieren, die Türkei wäre politisch gelähmt.
Was könnte dann passieren?
Entweder könnte Erdogan versuchen, Kompromisse mit der Oppositionsmehrheit im Parlament zu finden – wobei Kompromissbereitschaft keine Eigenschaft ist, für die er bekannt ist. Theoretisch könnte der Präsident das Parlament auch jederzeit auflösen und Neuwahlen ausrufen. Sein Verbündeter, MHP-Chef Devlet Bahceli, hat eine solche Möglichkeit bereits angedeutet. Das hätte aus Erdogans Sicht allerdings einen großen Haken: Nach dem neuen System muss der Präsident sich dann auch wieder zur Wahl stellen.
Was bedeutet die Wahl für Deutschland und Europa?
Erdogan hat seit Jahren ein angespanntes Verhältnis zur EU. Im vergangenen Jahr gab es eine schwere Krise mit Deutschland, die immer noch nicht vollständig ausgeräumt ist: Weiterhin sind Deutsche in der Türkei nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes aus politischen Gründen inhaftiert. Ince hat angekündigt, den Streit mit Deutschland zu beenden, im (unwahrscheinlichen) Falle seines Wahlsieges die europäischen Hauptstädte zu besuchen und den EU-Beitrittsprozess des ewigen Kandidaten Türkei voranzutreiben.
Wann wird gewählt - und wann kennen wir das Ergebnis?
Die Wahllokale öffnen um 7 Uhr (MESZ) und schließen um 16 Uhr (MESZ). Erste Teilergebnisse werden noch am Abend erwartet. Bei früheren Wahlen stand der Sieger noch in der Nacht fest. 59,33 Millionen Stimmberechtigte dürfen wählen. Davon sind 3,05 Millionen im Ausland registriert, wovon wiederum die Türken in Deutschland mit 1,44 Millionen die größte Gruppe stellen. Im Ausland wurde bereits abgestimmt, dort endete die Wahl am Dienstag. An Grenzübergängen, Häfen und Flughäfen der Türkei können Auslandstürken aber noch bis zum Wahltag am Sonntag ihre Stimme abgeben.
- Eigene Recherche
- AFP, dpa