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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Deutsch-Türken wählen in Berlin "Erdogan-Wähler haben Angst"
Die Türkei-Wahl bringt die Konflikte einer tief gespaltenen türkischen Gesellschaft nach Deutschland. Vor einem Berliner Wahllokal treffen Anhänger und Kritiker Erdogans hitzig aufeinander.
"Immer den bunten Bäumen nach", sagt mir ein älterer Herr, den ich am U-Bahnhof nach dem Weg zum türkischen Konsulat frage. Als ich in die Berliner Heerstraße einbiege, verstehe ich seine kryptische Wegbeschreibung. Die prokurdische Partei HDP hat den Bürgersteig auf dem Weg zum Wahllokal mit bunten Bäumen bemalt.
Die Wahlwerbung richtet sich offenbar an bis zuletzt Unentschlossene oder an die Wähler, die den Weg zur Wahlurne nicht finden. Hier können türkische Staatsbürger bis zum 19. Juni den Präsidenten und ein neues Parlament wählen. Der eigentliche Wahltermin in der Türkei ist der 24. Juni.
Selfies vor Türkei-Flagge
Die Sicherheitsvorkehrungen am Konsulat sind enorm. An einer Straßenecke vor dem Vordereingang stehen zwei Polizisten, die gerade einen Falschparker ermahnen. Vor der Einfahrt zum Hinterhof versammeln sich acht Mitglieder einer Security-Firma. Absperrgitter markieren einen Ein- und Ausgang auf das Gelände. Im Hinterhof des Konsulats hat man mithilfe von einigen Containern kleine Wahlkabinen errichtet.
"Gegen Erdogan stimmen"
Vor dem Ausgang stehen viele Wähler in kleinen Gruppen und unterhalten sich über die Türkei, das Präsidialsystem und natürlich über Erdogan. So wie Savas aus Berlin: "Man muss wählen gehen und seine Stimme gegen Erdogan abgeben. Ich habe Muharrem Ince von der CHP gewählt, weil er vor allem die Jugend und Frauen fördern möchte", sagt der 49-Jährige. "Außerdem hoffe ich, dass er die Kriminalität bekämpfen kann."
Die Gräben zwischen den Parteien werden auch hier deutlich. Mit Argwohn betrachten besonders die Anhänger der sozialdemokratischen CHP und prokurdischen HDP die AKP-Wähler. Beide Parteien mobilisieren gegen die zunehmende Islamisierung der Türkei und gegen Erdogans Präsidialsystem. Von zwei Männern, die auf einer kleinen Mauer sitzen, kommen gehässige Kommentare, als sie eine Gruppe angeblicher AKP-Wähler ausgemacht haben. Ihr Kriterium dafür scheint aber nur das Tragen eines Kopftuchs zu sein.
Alle Oppositionsparteien, ausgenommen die rechte MHP, verbündeten sich kürzlich gegen Erdogans AKP. "Erdogan soll endlich verschwinden. Er hat mit dem Präsidialsystem die ganze Demokratie in der Türkei kaputt gemacht. Ich habe die CHP gewählt, weil sie zumindest die Tradition von Atatürk nicht ablehnt", sagt der 56-jährige Ali. Die CHP ist eine sozialdemokratische Partei, die in jüngster Vergangenheit einen zunehmend nationalistischen Kurs eingeschlagen hat. Ihrem Spitzenkandidaten Ince werden unter den Oppositionsparteien die besten Chancen gegen Erdogan ausgerechnet.
Der Spitzenkandidat der prokurdischen HDP, Selahattin Demirtaş, sitzt wegen angeblicher Terrorunterstützung im Gefängnis. HDP-Anhänger werben auch vor dem Wahllokal offensiv für die Inhalte der Partei. Die 47-jährige Mehtap: "Die HDP ist die einzige Partei, die für die Minderheiten da ist. Erdogan ist ein Diktator. Wir hoffen, dass wir ihn stürzen können, sodass in der Türkei wieder Demokratie und Frieden unter den Völkern herrscht." In anschließenden Gesprächen mit HDP-Wählern begründen sie ihre Wahlentscheidung oft mit dem Streben nach Demokratie und Gleichberechtigung. "Die HDP sind für Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen und für die Akzeptanz von Homosexuellen", sagte der 36-jährige Kenan, der sich aus Furcht vor Racheaktionen nicht fotografieren lassen will.
In mehreren Stunden vor dem Wahllokal finde ich lange Zeit keinen gesprächsbereiten AKP-Wähler. Auch Frauen und junge Wähler äußern sich kaum. "Viele haben Angst, erneut im Zentrum der öffentlichen Kritik in Deutschland zu stehen. Ich kann auch nichts sagen und möchte nicht fotografiert werden. Ich komme aus Wedding", sagt B., der anonym bleiben will. "Ihr steht nicht hinter eurer Wahl, weil ihr sie nicht rechtfertigen könnt", ruft Ali. In Reaktion darauf macht sich B. hastig in Richtung U-Bahn auf. Für weitere Fragen hat er keine Zeit mehr, für eine Konfrontation fehlt ihm offensichtlich die Lust.
In diesem Konflikt fühlen sich AKP-Wähler offensichtlich auch von den deutschen Medien verraten. Eine ältere Frau flüstert mir im Vorbeigehen zu, dass sie den Medien nicht mehr trauen würden. Ganze Familien gehen mit gesenktem Kopf, geben vor, kein Deutsch zu verstehen. Es ist erstaunlich, dass so lange kein AKP-Sympathisant zu einem Gespräch bereit ist. Immerhin wählt eine deutliche Mehrheit der Türken in Deutschland Erdogan – aber die schweigende Mehrheit hält sich spätestens seit den Eklats um Nazi-Vergleiche und Wahlkampfauftritte zurück.
Angst bei AKP-Wählern
Nach intensivem Vorgespräch ist schließlich ein AKP-Wähler bereit zu einem kleinen Interview. "Ich habe Erdogan gewählt, weil ich zufrieden mit seiner Arbeit bin. Ich bin mir sicher, dass er auch bei dieser Wahl 55 bis 60 Prozent bekommen und die Türkei weiter voran bringen wird", sagt Cem (33). "Erdogan ist kein Faschist." Der AKP-Wähler hat keine Angst vor den Reaktionen der türkischen Opposition – aber mit der Stimmung in der deutschen Öffentlichkeit und mit dem fehlenden Vertrauen in die Medien kommt er nur schwer zurecht.
Andere Männer kommen dazu. Ein AKP-Wähler, der ebenfalls anonym bleiben möchte, regt sich auf: "Ich bin Erdogan-Fan. Er wird die Türkei voranbringen, wenn Europa nicht kommt und wieder alles kaputt macht. Europa hat Angst vor dem Islam, aber Muslime haben Respekt verdient", sagt er. "Wir sollten endlich Respekt bekommen. Die Deutschen machen immer mehr Druck auf AKP-Wähler. Was soll das? Ich bin für Erdogan. Wenn sie wollen, können sie mich abschieben." Er redet sich weiter in Rage und plötzlich geht es um Özil und Gündogan und das Foto, das beide mit Erdogan aufnahmen. "Lass sie doch ein Foto mit Erdogan machen, ist doch egal. Ich könnte auch ein Foto mit einem Nazi machen, wenn ich will."
"Sehe auch die Fortschritte"
Die Stimmung heizt sich weiter auf. Ein weiterer Anhänger der AKP mischt sich ein: "Ich habe die Stimme Herrn Erdogan gegeben, weil ich in den deutschen Medien immer wieder gehört habe, dass er ein Despot und Diktator ist. Ich bin der Meinung, dass wir nur durch einen Diktator regiert werden können", sagt der 36-jährige Achmed. "Ich sehe auch die Fortschritte in der Türkei in den letzten 15 Jahren. Es gab Verbesserungen in der Wirtschaft und bei der Krankenversicherung. Das Präsidialsystem ist gut, denn die Türkei braucht einen Alleinherrscher. Deswegen habe ich einen gewählt."
Nun haben mein wütender Gesprächspartner von vorhin und ich etwas gemeinsam: Wir sind beide baff. Er schaut Achmed verdutzt und ungläubig an. Auch ich weiß nicht, ob er mit seiner Vorliebe für Diktatoren scherzt. Im Ton werden sie nun immer lauter. Jetzt streiten vor meinen Augen zwei AKP-Wähler auf der Straße darüber, ob Erdogan ein Diktator ist. Der vorherige Groll auf die Medien und auf mich ist für einen Moment vergessen. "So viel Koalitionsdisziplin bei der SPD und die Partei stünde wahrscheinlich besser da", scherzt ein älterer Mann mit Gehstock und zwinkert mir zu.
Die Gespräche vor dem Konsulat sind geprägt von Ängsten und Emotionen. Auch wenn es um die wichtigsten Inhalte bei dieser Wahl geht. Die Befragten greifen, unabhängig von der jeweiligen Parteienpräferenz, zwei Themen besonders häufig auf: Sie machen sich Sorgen über die aktuelle wirtschaftliche Entwicklung und den Absturz der Lira. Außerdem hadern immer noch viele mit dem knappen Ausgang des Referendums und den damit verbundenen Umstieg auf ein Präsidialsystem. "Das Präsidialsystem ist gut für die Türkei. Erdogan ist ein sehr fleißiger Mensch und er arbeitet hart für die Türkei", meint der 39-jährige Serbst.
80.000 Wähler in Berlin
Diese Frage spaltet immer noch das Land und alle Befragten. Der 57-jährige Ibrahim: "Erdogan und sein Präsidialsystem schaden der Türkei. Ich habe die iYi-Partei gewählt, weil sie für Demokratie und das parlamentarische System steht." Die iYi unter der Ex-Innenministerin Meral Aksener ist laut aktuellen Umfragen die drittstärkste Kraft im Land.
Am Ende eines intensiven Nachmittags leert sich die Straße vor dem Konsulat etwas. Zwei Wahlbeobachter, die große weiße Ausweise um den Hals tragen, unterhalten sich am Ausgang des Wahllokales bei einer Zigarette. Auf Nachfrage beteuern sie, dass bislang alles mit rechten Dingen zugegangen sei. Der große Ansturm auf die Wahllokale sei heute ausgeblieben. "Dies liegt vielleicht am Ramadan und an der Hitze", sagt einer der beiden. "Wir erwarten in der gesamten Zeit aber insgesamt 80.000 Wähler hier in Berlin." Es dürfte eine spannende Wahl werden – bei der die 1,4 Millionen wahlberechtigten Türken in Deutschland über Sieg oder Niederlage entscheiden könnten.
- Eigene Recherche