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Aachener Vertrag: Was Angela Merkel den Atem raubt


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Historisches Experiment
Was Merkel den Atem raubt

Von Jonas Schaible, Aachen

22.01.2019Lesedauer: 6 Min.
Macron, Merkel und der Aachener Vertrag: Ein trotziges, mutiges Wagnis.,Vergrößern des Bildes
Macron, Merkel und der Aachener Vertrag: Ein trotziges, mutiges Wagnis., (Quelle: reuters)

Deutschland und Frankreich wollen mehr Einheit. Das Ziel ist nicht strittig, der Weg ist es aber. So sehr, dass sogar ein Freund mahnende Worte findet.

Der letzte Akt dauerte genau eine Minute. Angela Merkel und Emmanuel Macron saßen im Krönungssaal des Aachener Rathauses an einem Tisch. Vor ihnen lag jeweils ein Dokument. Um exakt 11.37 Uhr setzten sie ihre Stifte auf das Papier, unterschrieben, warteten, bis die Dokumente ausgetauscht waren. Unterschrieben wieder. Um exakt 11.38 Uhr waren sie fertig. Der Aachener Vertrag über die Zusammenarbeit und Integration von Deutschland und Frankreich war unterzeichnet.

Früher fanden in diesem Raum Festakte nach Königskrönungen statt. Heute kamen sich hier zwei Staaten so nahe, wie sich wahrscheinlich souveräne Staaten noch nie waren. Was in dem Vertrag steht, ist in Teilen unerhört, ganz sicher historisch und noch sicherer ein Experiment. Akademisch formuliert, handelt es sich bei dem Vertrag um einen bilateralen, intergouvernementalen Versuch des Supranationalismus. Weniger akademisch formuliert, sollen Deutschland und Frankreich sich nicht nur absprechen, sondern manchmal auch verschmelzen.

Was das alles bedeutet, weiß noch niemand genau. Hoffnungen gibt es viele, Befürchtungen auch. Vielleicht geht es nicht anders, wenn etwas Neues anbricht.

Protest vor dem Rathaus

Auf dem Platz vor dem Aachener Rathaus standen in zwei Reihen Demonstranten. Vorne diejenigen, die den Vertrag bejubeln, mit blauen Luftballons und gelben Sternen darauf. Hinter ihnen diejenigen, die protestieren wollten, gegen Macron, Frankreich, vielleicht auch gegen den Vertrag. Sie trugen gelbe Warnwesten, riefen "Demission Macron", frei übersetzt: Macron muss weg. Manchmal schwappte Lärm von draußen in den Krönungssaal.

Drinnen spielte ein Streichquartett. Schüler waren da, Journalisten natürlich, viele Ehrengäste, Abgeordnete der Parlamente beider Länder, Vertreter der Stadt. Aus Deutschland war die Kanzlerin gekommen, der Außenminister, der Kanzleramtschef, zahlreiche andere Minister, der Bundesratspräsident, der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Ministerpräsidenten. Auch Frankreich hatte eine hochrangige Delegation entsandt. Und dann waren da die Vertreter der EU: Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, Ratspräsident Donald Tusk und Klaus Iohannis, der rumänische Präsident, als Vertreter des Staates, der gerade den Ratsvorsitz hat.

Die Sorge der Europäer

Dass sie geladen waren, ist nicht unbedingt selbstverständlich. Immerhin ging es um einen Vertrag zwischen zwei Staaten. Aber alle drei durften sogar eine Rede halten. Warum, das machte besonders Donald Tusk deutlich: "Liebe Angela, lieber Emmanuel, wir sind zu gut befreundet, als dass ich Zweifel an euren Motiven haben könnte", sagte er. "Aber ich möchte euch zugleich warnen, als überzeugter Europäer, warnen vor Zweifeln an der EU." Frankreich und Deutschland brauchten die EU ebenso sehr, wie Litauen oder Bulgarien die EU brauche, sagte er: "Denkt bitte daran. Ich werde euch stets daran erinnern."

Für einen solch feierlichen Anlass waren das außergewöhnlich klare Worte, in zweifacher Hinsicht. Außergewöhnlich ist, dass sie so offen gesagt wurden. Außergewöhnlich ist auch, dass sie niemanden störten. Tusk machte deutlich, dass in Europa bei aller Freude über die deutsch-französische Partnerschaft die Sorge verbreitet ist, die beiden könnten sich des Restes der EU entledigen – oder den anderen ihren Weg aufzwingen.

Angst vor Mittelgroßmachtspolitik ist nicht verschwunden

Es passte, dass der Pole Tusk als einziger nicht auf Deutsch oder Französisch vortrug, sondern auf Polnisch. Kommissionspräsident Juncker, der Luxemburger, spricht fließend Deutsch und Französisch. Klaus Iohannis gehört der deutschen Minderheit in Rumänien an und redete Deutsch. Deutschland und Frankreich spielen eine dominante Rolle in der EU, so war es immer. Die EU hat daher nicht alle Befürchtungen vor nationalen Alleingängen und Mittelgroßmachtspolitik verschwinden lassen können. Sie hat allerdings einen Rahmen geschaffen, in dem sich Partner das auch sagen können – selbst auf der Party der anderen.

In der EU zerbricht man sich schon lange den Kopf darüber, was es bedeutet, wenn einzelne Staaten vorangehen. Wolfgang Schäuble schlug bereits in den Neunzigern ein "Kerneuropa" vor, mit Deutschland und Frankreich im Kern des Kerns. Allgemeiner spricht man von einem Europa der zwei Geschwindigkeiten – und letztlich ist es das, was der Aachener Vertrag bedeutet. Aber eben auf eine neue Art.

Man will künftig das Recht angleichen, die Wirtschaften anpassen, es zulassen, dass im Grenzgebiet Ausnahmen gelten und deutsche und französische Gemeinden zusammen Kitas verwalten oder den Nahverkehr. Aber es soll eine Fusion nach innen sein, die nach innen zielt, nicht nach außen. Tobias Hans, der saarländische Ministerpräsident, saß ebenfalls im Publikum. Er formuliert es so: Das Saarland und Lothringen sind jeweils Grenzregionen. Aber denkt man Deutschland und Frankreich zusammen, sind sie in der Mitte.

Polen muss dadurch nicht weiter weg rücken. Merkel und Macron wetten jedenfalls, dass das nicht passieren wird.

Der trotzige Mut des Projekts

Ohnehin haftet dem ganzen Vorhaben etwas Trotziges an. Trotz, aus dem Mut entstehen kann. Die EU, die Nato, die Unesco, der Internationale Strafgerichtshof, die Chemiewaffenkonvention, der Atomwaffensperrvertrag, all diese Übereinkommen werden aktiv zersetzt. Täglich mehrt sich das Chaos in Großbritannien, ein Brexit ohne Plan rückt näher. Die EU wird erstmals ein Mitglied verlieren. Zwischen den herabfallenden Trümmern der alten Ordnung nehmen sich Merkel und Macron erst in den Arm und schaffen dann neue Ordnung.

Macron, der Forsche, hat es vorgeschlagen. Merkel, die Reservierte, ließ sich schnell ein, weil die Ordnung der Welt ihr so wichtig ist wie wenig sonst. "Wir sind Teil Europas und als Teil wollen wir zu seinem Gelingen beitragen", sagte sie jetzt.

Was damit gemeint sein könnte, versteht man besser, wenn man sich im Krönungssaal umsieht, dessen Wände Fresken zieren. Gemälde, die den Sieg Karls des Großen über die Sarazenen bei Córdoba im Jahr 778 zeigen. Karl der Große, der sich im Jahr 800 zum Kaiser krönen ließ, errichtete ein europäisches Reich, große Teile lagen auf dem Gebiet Deutschlands und Frankreichs. Er wurde Vater Europas gerufen, Aachen war seine Hauptstadt. Der Karlspreis, jedes Jahr verliehen für Verdienste um die europäische Einigung, ist nach ihm benannt. Merkel und Macron sind Preisträger.

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Ein Reich, geeint in Gewalt

Karl ist der Grund dafür, dass Aachen als Europastadt gilt. Vor allem deshalb wurde Aachen zum Ort der Unterzeichnung, und damit namensgebend für den Vertrag, dabei liegt es nicht einmal an der Grenze zu Frankreich. Andere Städte waren im Rennen. Man hätte sich in Freiburg treffen können, keine 30 Kilometer von der Grenze entfernt. In Kehl, das so sehr mit Straßburg verschmilzt, wie es der Rhein zulässt. Vielleicht in Saarlouis und damit im Saarland, dessen Bewohner erst 1955 entschieden, zu Deutschland gehören zu wollen.

Stattdessen: Aachen. Wo einst ein Reich begründet war, etwa so groß wie Deutschland und Frankreich. Man könnte das, bei genauem Nachdenken, als Missgriff sehen. Als Bestätigung, dass sich da ein neues Reich formen soll, als richtig mieses Omen. Die Fresken zeigen viele Schwerter und Lanzen, und damit zeigen sie, was Grundlage des alten Reiches war: Siege auf dem Schlachtfeld. Letztlich Gewalt und Zwang.

So war Politik lange, aber so soll sie nicht mehr sein. Sie habe, erzählt Merkel in ihrer Rede, gemeinsam mit Macron am Jahrestag des Waffenstillstands von 1918 den Ort der Unterzeichnung besucht, und der Weg, den beide Länder seither gegangen seien, "ist nichts anderes als atemberaubend. Danke, dass wir ihn gehen durften." Unklar, bei wem genau sich die Kanzlerin bedankte, bei Macron, bei Adenauer und De Gaulle, die den Élysée-Vertrag 1963 unterzeichneten, beim Weltgeist, oder bei allen zugleich. Macron, der nach ihr sprach, führte aus, warum es schlüssig ist, die Richtung dieses atemberaubenden Weges ausgerechnet in der Karlsstadt auszumachen: "Europa ist kein Traum von einem Reich", sagte er, sondern "ein Projekt ohne Hegemon", tief demokratisch, "ein Projekt, das wir frei gewählt haben."

Den anderen für sich sprechen lassen

Nach der Vertragsunterzeichnung zogen Merkel und Macron weiter, in die Aula einer Schule in der Nähe des Rathauses, die Aula Carolina, eine frühere Kirche, benannt nach Karl dem Großen, natürlich. Dort beantworteten sie für eine Stunde Fragen von Auszubildenden, Studenten und Menschen aus Aachen und der Partnerstadt Reims. Ob man sich nicht darauf einigen könne, dass immer nur Merkel antworte oder Macron, fragte die Moderatorin irgendwann. Dann schaffe man mehr Fragen.


Beide sprachen also für sich, und sie sprachen über die Besonderheiten des anderen Landes – aber nur zwei Fragen lang. Dann fielen Merkel und Macron zurück ins alte Muster. Eine Frage, zwei Antworten. Immer öfter soll es künftig so sein, dass eine Frage gestellt wird, und Deutschland und Frankreich nur eine Antwort geben. Noch ist es ungewohnt. Aber nicht mehr undenkbar.

Korrektur: In einer früheren Version des Textes stand, Karl der Große sei im Krönungssaal zum Kaiser gekrönt worden. Das ist falsch. Er wurde am 25. Dezember 800 in Rom zum Kaiser gekrönt. Im Aachener Krönungssaal fanden einst Festmähler von Königen statt, die zuvor gekrönt worden waren. Wir bitten, diesen Fehler zu entschuldigen.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche vor Ort
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