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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Migration nach Europa "Eine sehr bedenkliche Entwicklung"
Einen Durchbruch meldete die EU am Mittwochmorgen: Die lang diskutierte Asylreform steht. Doch wie effizient ist sie wirklich?
Die EU hat sich auf eine Asylreform verständigt – nach Jahren der Diskussion. Die EU-Kommission sprach von einem Durchbruch, die Bundesregierung begrüßte die Einigung. Sie sei "von größter Bedeutung" für Europa, sagte etwa Bundesinnenministerin Nancy Faeser. Mehr dazu lesen Sie hier.
Constantin Hruschka ist Experte für europäisches Migrationsrecht und beriet den Europäischen Ausschuss der Regionen zur Asylreform. Von der Einigung aber hält er nicht so viel. Im Interview mit t-online erklärt er, weshalb die Reform das Problem nur verlagert, welche rechtlichen Fallstricke nun auf die Einigung zukommen könnten und warum er die Reform für ein bürokratisches Monster hält.
t-online: Herr Hruschka, die EU hat sich auf eine Asylreform geeinigt, der Jubel in der Bundesregierung ist groß. "Damit begrenzen wir die irreguläre Migration", sagt etwa Kanzler Olaf Scholz. Ist diese Reform die Lösung der großen Probleme?
Constantin Hruschka: Nein, sie wird nicht zu einer großen Veränderung führen. Zumindest nicht europaweit gesehen. Die Lasten werden nur anders verteilt. Für Deutschland könnte die Reform eine Entlastung bringen, weil sie in der Praxis den Druck wohl noch stärker an die Außengrenzen verlagert.
Wie das?
In der Theorie müsste das jetzt schon so sein, dass die EU-Außengrenzenstaaten die meisten Asylgesuche haben. Denn das sogenannte Dublin-System sieht vor, dass in der Regel für Asylgesuche der erste EU-Staat, in den Asylsuchende einreisen, für die Prüfung des Schutzbedarfs zuständig ist. In der Realität aber haben Staaten wie Deutschland, Österreich, Frankreich und die Niederlande sehr hohe Zahlen, weil Rücküberstellungen in die Staaten an den Außengrenzen nur in wenigen Fällen durchgeführt werden. Mit der Reform setzt die EU nun darauf, die Migration an den Außengrenzen aufzuhalten. Das bringt mehr Verpflichtungen für die Staaten dort mit sich.
Die EU hat sich auch auf einen Solidaritätsmechanismus geeinigt, der bei der Verteilung der Menschen helfen und so die Außenstaaten entlasten soll.
Um das Ungleichgewicht wieder auszugleichen, müsste dieser Mechanismus aber wirklich gut funktionieren. Aus der Erfahrung heraus aber gibt es momentan wenig Anlass, daran zu glauben. Auch das Dublin-System sollte ja bereits Zuständigkeiten nach bestimmten Kriterien verteilen, auf der praktischen Ebene aber funktioniert das eher schlecht.
Zur Person
Constantin Hruschka ist Experte für europäisches Migrationsrecht und forscht am Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik. Der Jurist hat zudem den Europäischen Ausschuss der Regionen zur aktuellen Reform des europäischen Asylsystems beraten. Zuvor hat er unter anderem für das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR gearbeitet.
Wenn Staaten wie Italien, Griechenland und Spanien nun besonders belastet werden, wieso haben sie der Reform dann zugestimmt?
Der Druck, eine Einigung zu erzielen, ist immens geworden. Auch diese Staaten haben ja ein Interesse daran, dass die Probleme an ihren Außengrenzen angegangen werden. Griechenland und Italien etwa haben ein riesiges Transitproblem, heißt: Viele Menschen reisen unerkannt durch das Land. Nun bekommen diese Staaten europäisches Geld dafür, um diese Menschen direkt an den Grenzen aufzuhalten. Davon profitieren sie auch innenpolitisch.
Es gibt mehrere Punkte, die Menschenrechtsorganisationen nun kritisieren. Einer davon ist, dass die Menschen für die Zeit der Überprüfung an der Grenze juristisch noch nicht als eingereist gelten, aber sich de facto schon auf EU-Boden befinden.
Das Prinzip kennt man von internationalen Flughäfen. Die EU versucht nun, das auf die Landesgrenzen zu übertragen. Das ist rechtskonform, solange man danach ein Verfahren anschließt, in dem überprüft wird, ob die Person ein Anrecht auf Asyl hat. Ich habe aber große Zweifel an der praktischen Umsetzung. Die EU macht sich sehr stark abhängig von Drittstaaten. An Flughäfen ist es so geregelt, dass die Fluggesellschaften die Personen zurückbringen müssen, die nicht einreisen dürfen. An der Landesgrenze aber ist das schwierig. Da müsste sich der Drittstaat, über den die Menschen in die EU eingereist sind, schon bereit erklären, die Menschen zurückzunehmen.
Die EU will ja auch mehr Drittstaaten als sicher deklarieren. Es sollen künftig auch diese Staaten als sicher gelten können, die die Genfer Flüchtlingskonvention nicht unterschrieben haben. Will man so dem von Ihnen skizzierten Problem begegnen?
Das wurde für die Türkei dort hineingeschrieben. Sie hat die Flüchtlingskonvention unter dem Vorbehalt unterzeichnet, dass sie nur für europäische Flüchtlinge gelten. Heißt: Nicht für die Menschen aus Syrien oder Afghanistan, die die Regelung ja betreffen wird. Gerade für Bulgarien und Griechenland ist es also relevant, dass sie von ihrer Außengrenze aus in die Türkei abschieben dürfen. Das ist allerdings eine sehr bedenkliche Entwicklung. Wir fingieren eine Sicherheit, obwohl keine besteht.
Hat das rechtlich denn Bestand?
Es gibt ein berühmtes Urteil zur Asylpolitik Australiens, das ja schon lange auf Drittstaaten setzt. Der oberste australische Gerichtshof hat geurteilt, dass ein Staat nicht als sicherer Drittstaat gelten kann, wenn er die Flüchtlingskonventionen nicht ratifiziert hat. Da hat es allerdings diese gerichtliche Klärung gebraucht, bevor das politisch umgesetzt wurde. In Europa wird das wahrscheinlich nicht anders laufen. Irgendwann wird das ein Gericht kassieren.
Es gibt noch weitere Kritik, etwa, dass die Ankommenden in haftähnliche Lager gesperrt werden sollen. Die Bilder von überfüllten Lagern auf griechischen Inseln wie Lesbos sind vielen noch präsent. Werden wir sie wieder sehen?
Allein schon "haftähnlich" zu sagen, ist ein Euphemismus. Damit das Verfahren ordentlich durchgeführt werden kann, wird den Personen die Freiheit entzogen. Das kann rechtmäßig sein, eine Freiheitsentziehung ist es dennoch. Das ist der erste Punkt. Der zweite ist, dass die Staaten sich im Juni 2023 auf eine Überlauffunktion geeinigt haben. Das heißt, wenn die Lager voll sind, können sie die Personen ohne Prüfung ins Land einreisen lassen. In der Theorie soll das überfüllte Lager verhindern ...
Aber?
Ich habe meine Zweifel, ob das politisch durchsetzbar ist. An dem Status quo der überfüllten Aufnahmelager an den Außengrenzen wird sich also nicht viel ändern. Man weiß ja derzeit nicht einmal, wo die zusätzliche Infrastruktur an den Grenzen überhaupt entstehen soll.
Sie haben eingangs gesagt, die Reform bringe keine große Veränderung. Was bräuchte es denn, um die zu erreichen?
Der entscheidende Schlüssel für eine besser gehandhabte Migration ist meiner Ansicht nach, die Asylverfahren von diesen ganzen Vorverfahren zu befreien. Die Grundfrage ist ja: Steht der Person Schutz zu oder nicht? In die Klärung dieser Frage müsste man Ressourcen stecken und in möglichst schnelle Verfahren investieren. Eine schnelle, klare Entscheidung führt auch dazu, dass die Zahl der unbegründeten Asylanträge zurückgeht. Meine Befürchtung ist nun aber, dass man diese Verfahren mit Screening und weiteren administrativen Vorverfahren überfrachtet und zu einem bürokratischen Monster entwickelt.
Warum ist das Ihrer Meinung nach geschehen?
Die Reform ist sehr stark davon getragen, dass man an die Abschreckung administrativer Verfahren glaubt und eben nicht daran, dass man mit einer schnellen Prüfung einen ähnlichen Effekt erzielen wird. Das ist aber nur ein Teil eines größeren Problems.
Welches?
Wir überschätzen unsere Möglichkeiten, Migration rechtlich zu steuern. Der Anstieg hat vor allem damit zu tun, dass es immer mehr Krisenherde gibt und immer mehr Menschen sich auf die Flucht begeben. Und das spüren wir in Europa noch gar nicht so stark wie in anderen Weltregionen.
Sie sagen also, dass die politischen Versprechen, die Migration einzudämmen, realitätsfern sind?
Ja, beziehungsweise die Zahlen sind einfach sehr stark von der Weltlage abhängig. Es wird kommuniziert, wir könnten die Fluchtbewegungen mit unserem europäischen Recht nach unserem Belieben steuern. Ein anderer Ansatz wäre, zu akzeptieren, dass es immer wieder größere Fluchtbewegungen gibt. Ich vermisse diesen pragmatischen Ansatz. Im Grunde haben wir den in Europa nur bei den ukrainischen Flüchtlingen gesehen.
- Gespräch mit Constantin Hrschuka am 20. Dezember