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Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Ursachen eines Alltagsgefühls Die unterschätzte Gefahr hinter harmlosen Symptomen
![Juckreiz nach dem Schlafen: Flöhe im Bett können dafür verantwortlich sein. Juckreiz nach dem Schlafen: Flöhe im Bett können dafür verantwortlich sein.](https://images.t-online.de/2024/06/4klCYe757sfV/0x209:4000x2250/fit-in/1920x0/juckreiz-nach-dem-schlafen-floehe-im-bett-koennen-dafuer-verantwortlich-sein.jpg)
Manchmal kann man nicht anders: Der Drang, sich zu kratzen, ist zu groß. Doch was löst eigentlich Juckreiz aus? Und wie gefährlich ist es, sich zu kratzen? Die Antworten von Hautärztin Yael Adler.
Juckreiz ist ein naher Verwandter des Schmerzes und mitunter nicht weniger quälend. Beide Sinneswahrnehmungen unterscheiden sich jedoch ganz wesentlich in einem Punkt: Schmerz löst einen Fluchtreflex aus, Juckreiz nötigt eher zu einer fast zwanghaften Hinwendung.
![Yael Adler Yael Adler](https://images.t-online.de/2023/10/9RbAMen2R1OF/0x0:2668x1779/fit-in/1920x0/image.jpg)
Zur Person
Dr. med. Yael Adler ist Fachärztin für Dermatologie, Venerologie, Phlebologie und Ernährungsmedizin (DGEM). Seit 2007 praktiziert sie in ihrer eigenen Praxis in Berlin. Ihr Talent, komplexe medizinische Sachverhalte anschaulich und unterhaltsam zu vermitteln, stellt sie seit Jahren in Vorträgen, Veranstaltungsmoderationen und den Medien unter Beweis. Über Prävention und Therapien spricht sie regelmäßig in ihrem Podcast "Ist das noch gesund?". Ihre Bücher "Haut nah" und "Darüber spricht man nicht" standen auf Platz 1 der "Spiegel"-Bestsellerliste. Mit ihrem letzten Buch "Genial vital! – Wer seinen Körper kennt, bleibt länger jung" durfte sich die leidenschaftliche Ärztin erneut über diese Spitzenplatzierung freuen.
Kommt ein Patient mit Läusen oder Krätze in die Arztpraxis, beginnt die gesamte Belegschaft umgehend, sich unwillkürlich zu kratzen – dabei kann in der Kürze der Zeit doch gar nichts übergesprungen sein. Grund dafür ist möglicherweise eine Art archaisches Spiegelungsverhalten: Wenn sich einst ein paar aus der Sippschaft kratzten, hat man sich, quasi präventiv, gleich mit gekratzt, um sich vor möglichen Parasiten zu schützen, denn die lassen sich durch Kratzen zumindest punktuell entfernen.
Juckt es allerdings irgendwo, kann man diese Missempfindung durch das Kratzen eher noch verstärken. Das kommt daher, dass die Gewebemastzellen in der Lederhaut durch unser Einwirken von außen verleitet werden, nur noch mehr vom Juckreiz-Botenstoff Histamin freizusetzen. Doch warum kann man trotzdem nicht anders und tut etwas, das eigentlich kontraproduktiv ist?
Manchmal masochistische Züge
Dieser Mechanismus ist Gegenstand psychologischer Untersuchungen. Ein psychoanalytischer Erklärungsansatz dafür ist, dass wir in manchen Momenten einfach zu schwach sind, um der Versuchung zu widerstehen. Wir kratzen uns. Und das, obwohl wir ja wissen, dass man sich damit eher schadet – Bakterien in die Haut kratzt, sich Wunden zufügt und Schmerzen erleidet. Das hat durchaus masochistische Züge, die, unterschiedlich dosiert, in jedem von uns schlummern. Kratzen birgt aber auch Genussaspekte – in dem Moment, wo kurz "Erleichterung" eintritt.
Viele Hauterkrankungen gehen mit Juckreiz einher. Die Informationen werden nicht über die akuten schnellen Notfall-Nervenfasern ans Gehirn geleitet, sondern über die langsamen. Vermutlich gibt es noch weitere separate Nervenfasern, die nur für die Weiterleitung von Juckreiz zuständig sind. Juckreiz kann durch Schmerz- oder Temperaturreize überdeckt werden: durch Druck, Hineinstechen, Hitze oder Kälte werden die Nervenfasern auf eine andere Fährte gelenkt. Gleiches erreicht man mit Capsaicin, das aus einer Paprikapflanze gewonnen wird und stark brennt.
Durch das Capsaicin wird der Nervenbotenstoff Substanz P ausgeschüttet. Therapeutisch macht man sich das zunutze, indem man Capsaicin-Creme gegen juckende Hautkrankheiten und auch bei Schmerzen nach einer Gürtelrose anwendet. Vielen ist der Wirkstoff Capsaicin auch als Creme oder Pflaster gegen schmerzhafte Muskelverspannungen bekannt. Das Zeug brennt höllisch, aber auf diese Weise fördert Capsaicin die Durchblutung und den Stoffwechsel vor Ort, was ein Wärmegefühl verursacht, Schmerzen und Entzündungen lindert und eben auch vom Juckreiz ablenkt.
Das Bedürfnis ist uralt
Der konkrete Juckreiz kann unterschiedliche Qualitäten haben, er wird auch durch unterschiedliche Botenstoffe ans Zentralnervensystem kommuniziert. Von kitzelnd über brennend, schneidend bis dumpf ist alles dabei. So unterschiedlich die Botenstoffe, so unterschiedlich die Maßnahmen, den Juckreiz zu stillen: Neurodermitispatienten scheuern eher, nach Mückenstichen oder bei einem Kontaktekzem wird gekratzt, bei stoffwechselbedingtem Juckreiz – also Diabetes, Leber- oder Nierenkrankheiten – wird mit dem Fingernagel gelöffelt und ein Loch in die Haut gekratzt; erst wenn es blutet, tritt dann auch die gefühlte Erleichterung ein. Bei Nesselsucht ist Kühlen beliebt, bei der Knötchenflechte eher vorsichtiges Reiben. Das Traktieren juckender Haut rührt aus dem vorzeitlichen Bedürfnis her, Juckreiz auslösende Parasiten mit dem Fingernagel aus der Haut herauszukratzen.
Schwerwiegende Gründe
Ich habe einmal eine ziemlich erschütternde Geschichte erlebt. Die Chefredakteurin einer Fachzeitschrift kam wegen massiven Juckreizes in meine Praxis: Alle bisherigen Therapien mit Kortison, Antiparasitenmitteln und Pflegecremes hatten nicht geholfen. Die Frau brachte mir in zahlreichen kleinen Döschen Insekten und Krümel mit, die sie an sich oder in ihrem Bett gefunden hatte. Sie ging davon aus, dass sie von diesen Tierchen befallen worden war und sie daher an diesem starken Juckreiz litt. Es handelte sich bei dem Getier aber nicht um fiese Parasiten, sondern um einfache Fliegen und Käfer. Und die Krümel waren wirklich nur Krümel, Bröckchen von Krusten, Schuppen und Schmutzpartikel. Alles Dinge, die auch in vielen anderen Wohnungen zu finden sind.
Spontan fiel mir die Krankheit Dermatozoenwahn ein, eine psychiatrisch-dermatologische Erkrankung, bei der die Betroffenen unter wahnhaft eingebildetem Ungezieferbefall leiden. Gleichwohl wirkte die Chefredakteurin nicht so, als leide sie unter Wahnvorstellungen. Da man an der Haut keine Erkrankung sah, die den Juckreiz hätte erklären können, machte ich mich auf die Suche, ob nicht eine Allergie, ein Stoffwechselleiden oder ein Tumor dahinterstecken könnte.
Chronische Infekte, Diabetes, Leber-, Nieren-, Schilddrüsenerkrankungen und Krebs können einen Pruritus sine materia auslösen, also einen "Juckreiz ohne Materie", ohne Hauterkrankung. Zur Sicherheit schickte ich sie also zu einem Radiologen. Das Resultat war erschütternd: Es stellte sich heraus, dass die Patientin unter einem sehr seltenen Krebs litt, einem sogenannten Sarkom, das vom Bauchraum auf die Lunge übergegriffen hatte. Dies war der wahre Grund für ihre Beschwerden – ein "paraneoplastischer" Juckreiz, der durch eine bösartige Neubildung, einen Tumor oder ein Lymphom (Krebs im lymphatischen System) ausgelöst wird. Die Überlagerung durch den Ungezieferwahn hatte über eineinhalb Jahre dazu geführt, dass eine frühzeitigere Diagnose der Erkrankung versäumt wurde. Der Patientin blieben nach Operation und Chemotherapie noch anderthalb Jahre zu leben. So viel zu medizinischen Extremverläufen.
Bleiben Sie also wachsam, ohne aber gleich mit dem Schlimmsten zu rechnen, und kommen Sie gesund durch die Zeit!
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
- Eigene Meinung