Autoimmunerkrankung Neu entdecktes Gen steigert MS-Risiko deutlich
Eine neu entdeckte Genvariante steigert das Risiko deutlich, an Multipler Sklerose zu erkranken. Forscher können jetzt besser verstehen, was die Krankheit verursacht und bessere Therapien entwickeln.
Träger dieser Mutation im Gen NR1H3 erkranken mit einer Wahrscheinlichkeit von etwa 70 Prozent, berichtet das Team um Carles Vilariño-Güell von der University of British Columbia in Vancouver.
Die Entdeckung fördere das Verständnis des Krankheitsmechanismus und auch die Suche nach Therapien, schreiben die Forscher im Fachblatt "Neuron".
Frauen erkranken häufiger
Weltweit haben etwa 2,5 Millionen Menschen die Autoimmunerkrankung Multiple Sklerose (MS). In Deutschland sind nach Angaben der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) etwa 200.000 Menschen betroffen, Frauen deutlich häufiger als Männer. Dabei zerstört das Immunsystem die schützenden Myelinhüllen, die die Nervenfasern umgeben. Zu den Symptomen zählen Missempfindungen, Sehstörungen oder Bewegungsprobleme. Zwar sind genetische Faktoren an der Erkrankung beteiligt, bislang hatten Forscher aber keine einzelnen Erbanlagen entdeckt, die das Krankheitsrisiko deutlich steigern.
Das Team um Vilariño-Güell wertete nun eine Datenbank mit genetischen Informationen zu fast 2000 kanadischen Familien aus, in denen die Krankheit auftrat. Dabei konzentrierten sie sich auf eine Familie, bei der in zwei Generationen fünf von neun Menschen MS entwickelten, durchweg Frauen. Bei der Analyse ihres Erbguts stießen sie auf eine Mutation (p.Arg415Gln) eines Gens, die sie danach auch bei zwei Patienten aus einer anderen Familie fanden.
Kontinuierliche Verschlechterung
Die Betroffenen haben die progrediente MS-Form, die sich in einer kontinuierlichen Verschlechterung äußert und gegen die es bislang keine Medikamente gibt. Sie erkrankten im Alter von durchschnittlich 34 (25 bis 48) Jahren. Das Gen trägt den Bauplan für das Protein LXRA, das an Entzündungsreaktionen, am Immunsystem und an der Regulierung von Fetten beteiligt ist.
"Die in dem Gen NR1H3 gefundene Mutation verursacht bei seinem Produkt, dem Protein LXRA, einen Funktionsverlust", wird Ko-Autor Weihong Song in einer Mitteilung der Zeitschrift zitiert. Mäuse ohne dieses Gen bekommen neurologische Probleme, dazu zählt auch eine Abnahme der Myelin-Produktion.
Einer von tausend
Insgesamt, so die Forscher, betrifft die entdeckte Genvariante etwa einen von 1000 MS-Patienten in der von ihnen untersuchten Kohorte. Die Mutation allein reiche jedoch nicht aus, um die Krankheit zu verursachen. Deren Träger seien zwar sehr anfällig für die Erkrankung, es müsse jedoch zusätzliche Faktoren geben, die etwa die Erbanlagen oder die Umwelt betreffen könnten. Allerdings steigerten auch andere, häufigere Varianten des Gens das Erkrankungsrisiko, jedoch weniger stark, schreiben die Forscher. "Auch wenn Patienten die seltene Mutation nicht haben, könnten ihnen Therapien, die auf diesen Mechanismus abzielen, wahrscheinlich helfen", sagt Vilariño-Güell.
"Wir vermuten, dass zu Beginn der Krankheit bei den Trägern der Mutation eine Schädigung der Myelin-Scheiden eine intensivere Entzündungsreaktion auslösen könnte, aufgrund der Unfähigkeit des Immunsystems, entzündungsfördernde Vermittler zu unterdrücken", schreiben die Autoren. Zusammen mit einer eingeschränkten Fähigkeit zur Erneuerung der Myelin-Scheiden könne dies zur progredienten Form der Erkrankung führen.
"Dieses Resultat ist für unser Verständnis von MS entscheidend", sagt Vilariño-Güell. "Bisher war wenig bekannt über die biologischen Prozesse, die zum Beginn der Krankheit führen. Diese Entdeckung hat enormes Potenzial dafür, neue Therapien zu entwickeln, die nicht nur die Symptome angehen, sondern die zugrundeliegenden Ursachen."
So könne man etwa Zellkulturen und Versuchstiere entwickeln, um daran Mechanismen und Medikamente zu prüfen - insbesondere gegen die progrediente Form, für die es derzeit keine spezielle Therapie gibt.
Wegweisende Studie
Manuel Friese vom Zentrum für Molekulare Neurobiologie am Hamburger Universitätsklinikum Eppendorf (UKE) spricht von einer "wegweisenden Arbeit": "Die Studie zeigt erstmals, dass es einzelne Mutationen gibt, die die Erkrankung verursachen", sagt der Neuroimmunologe, der an der Untersuchung nicht beteiligt war. "Daraus kann man auf wichtige Mechanismen schließen."
Derzeit stehen MS-Forscher laut Friese vor der Schlüsselfrage, ob die Erkrankung durch eine Fehlregulierung des Immunsystems ausgelöst wird oder durch eine Fehlregulierung des Gehirns, auf die das Immunsystem dann erst reagiere. Die weitere Erforschung der Genmutation könne Erkenntnisse zur eigentlichen Krankheitsursache liefern, von denen Patienten später profitieren könnten, hofft er. Auch bei anderen neurologischen Erkrankungen wie Alzheimer oder Parkinson habe die Entdeckung von familiären Risikogenen zum Verständnis der Krankheitsentstehung beigetragen.
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.