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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Zyste im Kopf "Die Diagnose der Ärzte hat mich umgehauen"
"Wenn die Zyste in dem Tempo weiter wächst, werden Sie nicht älter als 35 Jahre." Diese Diagnose traf Wolfgang* wie ein Faustschlag ins Gesicht. Der damals 28-Jährige hatte eine Frau und eine dreijährige Tochter. Nach jahrelangen Schmerzen und unzähligen Arztbesuchen wussten die Ärzte zwar endlich, woher die quälenden Schmerzen kamen, die "sechsmal schlimmer sind als ein starker Migräneanfall". Doch die Diagnose machte sein Leben nicht leichter.
Krampfartige Kopfschmerzen, Gliederschmerzen, Sehstörungen und Orientierungslosigkeit: Die Symptome treten mit 14 Jahren zum ersten Mal auf. Die Ärzte schieben das Leiden auf die Wachstumsphase und versichern Wolfgangs Mutter, dass ihr Sohn kerngesund sei. Doch die Beschwerden werden schlimmer. Starker Schwindel und Angstzustände kommen hinzu. Mit 16 Jahren geht Wolfgang zum ersten Mal in eine Klinik. Gefunden wird nichts. Die Ärzte unterstellen ihm sogar, zu simulieren. Auf die Idee, in den Kopf zu schauen, kommt niemand. Dann gibt es Phasen, in denen Wolfgang kaum laufen kann und seine Hände ihren Dienst versagen. Das Wissen, dass mit ihm etwas nicht stimmt, macht ihm Angst. Doch er versucht, mit den Schmerzen zu leben. Er nimmt Medikamente gegen Migräne, doch diese helfen ihm kaum.
Die Zyste schwimmt im Gehirnwasser
Mit 28 Jahren wird Wolfgang in eine Klinik eingewiesen, die endlich auch seinen Kopf untersucht. Die Ärzte sprechen von fehlstatischem Zervikalsyndrom und zystischer Raumforderung im Hirnbereich. Eine gutartige Zyste, also eine Art Blase im Gewebe, die allerdings auch entarten kann, hat sich in der Gehirn-Rückenmarks-Flüssigkeit, dem sogenannten Liquor, gebildet. Der Liquor zirkuliert zwischen dem Rückenmark und dem Gehirn. Dort, wo der Liquor das Gehirn erreicht, schwimmt die Zyste von Wolfgang. Die Stärke der Schmerzen ist abhängig davon, wo sie anstößt oder sich absetzt. An eine Operation ist nicht zu denken: "Die Ärzte haben gleich gesagt, dass die Stelle zu kritisch sei für einen Eingriff. Entweder werde ich blind, lande im Rollstuhl oder werde verrückt - oder alles auf einmal", sagt Wolfgang.
Die Diagnose trifft Wolfgang hart
"Es war ein Schock zu hören, dass ich eine Zyste im Kopf habe, die immer weiter wächst. Ich hatte eine Frau, meine Tochter war gerade drei Jahre alt. So eine Diagnose wirft einen völlig aus der Bahn", beschreibt der heute 57-Jährige die damalige Situation. "Besonders hart getroffen hat mich die Aussage einer Therapeutin, bei der ich Schwindeltraining gemacht hatte. Sie sagte mir knallhart, dass ich mit 35 Jahren tot sein werde, sollte die Zyste in dem Tempo weiter wachsen. Das hat mich umgehauen", erinnert er sich. "Meiner Frau habe ich das verschwiegen und erst Jahre später erzählt. Ich dachte mir, dass es reicht, wenn sich einer Sorgen macht."
Immer die Angst im Nacken
Die Kontrolluntersuchungen finden alle zwei Jahre statt. Und die Angst davor ist groß. "Ich hatte unglaubliche Angst vor dem Satz ‚Sie ist wieder gewachsen'", sagt Wolfgang. "Und oft musste ich genau das hören." Doch nicht nur die Angst vor dem Eindringling im Kopf verändert ihn. Die Ärzte verschreiben ihm Medikamente, die "so stark sind, dass nur Valium und Morphium das noch toppen können". Das erste Medikament hat enorme Nebenwirkungen: Wolfgang hat Aussetzer, wird aggressiv und aufbrausend. Oft erinnert er sich nicht, was am Tag zuvor geschehen war.
Harte Probe für die Ehe
Für seine Ehe ist diese Zeit eine harte Probe. "Ich hatte das Gefühl, zwei Männer zu haben. Einen, in den ich mich verliebt habe und der einfach wunderbar ist, und einen Kotzbrocken", beschreibt Wolfgangs Ehefrau Ruth* das Verhalten ihres Mannes. "Oft hat er Dinge gesagt, die mich tief getroffen haben. Er war einfach nicht mehr zu bremsen. Ich habe versucht, mir klar zu machen, dass die Medikamente schuld sind, doch so einfach ist das nicht immer." Wolfgang ergänzt: "Mit tut das total leid, aber man ist einfach wie ferngesteuert. Ein einziges Wort kann einen wütend machen. Es ist wie in einem Vollrausch, das Gehirn ist komplett ausgeschaltet."
Das zweite Medikament entspannt die Situation etwas
Oft findet sich Wolfgang an Orten wieder, ohne zu wissen, wie er dorthin gekommen ist. "Eines Nachts habe ich meine Frau angerufen, weil ich nicht wusste, wo ich war und wie ich dorthin gekommen bin." Und Ruth ergänzt: "Ich hatte total Panik und konnte ihm doch nicht helfen." Mit der Einnahme eines neuen Medikaments wird es etwas besser: "Es war eine Wohltat, er war endlich nicht mehr so schnell auf 180. Die ganzen Streitereien wurden weniger", sagt Ruth.
Doch einfach sei es heute immer noch nicht. Sie habe nach wie vor das Gefühl, mit zwei Männern verheiratet zu sein. "Je mehr Medikamente ich nehmen muss, desto kritischer ist es", sagt Wolfgang. Ohne die Mittel komme er aber nicht aus, ganz schmerzfrei sei er nie. "Wenn man das Gefühl hat, der Kopf zerbricht in 1.000 Teile, will man nur noch, dass es aufhört. Da erhöht man automatisch die Dosis des Medikaments, auch wenn man um die Nebenwirkungen weiß."
Zyste hat aufgehört zu wachsen
Mittlerweile hat die Zyste aufgehört zu wachsen, doch Entwarnung gibt es nicht: "Sie kann jederzeit größer werden", sagt Wolfgang. "Hoffen wir, dass sie Ruhe gibt." Wolfgang und Ruth haben gelernt, mit der Ungewissheit zu leben. Ihre Liebe hilft den beiden, die belastende Situation zu meistern. 35 Jahre sind sie verheiratet und wollen noch viele Jahre gemeinsam durchs Leben gehen. "Wir haben so viel geschafft, dann packen wir den Rest auch noch", sagt Wolfgang. Und wenn die beiden sich anstrahlen, ist für einen kurzen Moment der Untermieter im Kopf vergessen.
*Namen von der Redaktion geändert
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.