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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Geschädigter erzählt "Ich habe mit Wirecard-Aktien 118.000 Euro verloren"
Der Bilanzskandal bei Wirecard hat Tausende Aktionäre um ihr Geld gebracht. Viele von ihnen fühlen sich betrogen. Mehrere Anleger streben jetzt eine Klage an. Sie pochen auf Schadenersatz.
Drei Jahre war sie der hellste Stern am deutschen Börsenhimmel, gelobt von Experten, geliebt von Anlegern auf der Jagd nach Renditen. Inzwischen steht sie für das, was bis zuletzt kaum einer für möglich hielt: die Insolvenz eines Dax-Konzerns, der potenziell größte Betrugsfall der deutschen Nachkriegsgeschichte, der Totalabsturz einer Aktie auf knapp null Euro.
Tausende Privatanleger haben durch den Bilanzskandal bei Wirecard mit Anteilsscheinen des Unternehmens viel Kapital verloren, manche ein kleines Vermögen. Geld, das einige von ihnen jetzt bitter nötig hätten, das sie eingeplant hatten als solide Anlage, die ihnen später einmal viele Wünsche erfüllen sollte.
Die Aktionäre sind enttäuscht – und wütend
Umso größer ist darum bei vielen Aktionären der Skandal-Firma aus Aschheim bei München jetzt die Enttäuschung – und die Wut. Auf das Management von Wirecard, das sie um ihr Geld gebracht hat, aber auch auf die Aufsichtsbehörde Bafin und die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY, die Wirecard jahrelang saubere Bücher attestiert hatte.
Dutzende Anleger haben sich deshalb in verschiedenen Gruppen in ganz Deutschland zusammengetan. Ihr aller Ziel: ein Gerichtsverfahren, eine Klage auf Schadenersatz. Entschädigung wegen Betrugs.
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Ein möglicher Klageführer ist der Berliner Anwalt Fabian Tietz. Rund 70 Kleinanleger hat er inzwischen um sich geschart, zusammen haben sie in den vergangenen Jahren rund eine Million Euro in Wirecard-Aktien investiert.
Anzeigen gegen Wirecard und gegen die Aufseher
"Ich habe gleich vier Strafanzeigen gestellt", sagt Tietz. "Eine gegen den Wirecard-Vorstand wegen des Verdachts auf Insolvenzverschleppung, eine gegen den Aufsichtsrat, der den Vorstand womöglich nicht stark genug kontrolliert hat." Außerdem nehme er EY ins Visier sowie die Bankenaufsicht Bafin. "Beide haben bei der Bilanzprüfung kläglich versagt", so Tietz.
Anzeigen kann prinzipiell jeder stellen. Ob aus ihnen tatsächlich ein Strafprozess wird, ist noch offen – und hängt stark davon ab, wie die weiteren Ermittlungen der Staatsanwaltschaft laufen. Ausgang ungewiss.
Wie hoch die Zahl der Wirecard-Verlierer ist, wie viele der rund 123 Millionen Aktien des Unternehmens in den Depots deutscher Kleinanleger liegen, lässt sich nur schwer schätzen. Fakt ist: Die Aktionärsquote in Deutschland ist im Vergleich zur Bevölkerung anderer Länder – nicht zuletzt seitdem sich viele Sparer Ende der 90er-Jahre mit den Telekom-Aktien die Finger verbrannten – sehr niedrig. Laut Deutschem Aktieninstitut besaßen 2019 nur 2,5 Millionen Deutsche Anteilsscheine an Unternehmen.
Selbst unter Berücksichtigung von Anlegern im Besitz von Aktienfondsanteilen beläuft sich die Aktionärsquote hierzulande auf nur 15,6 Prozent. Zum Vergleich: In den USA besaß zuletzt jeder vierte Bürger Aktien.
Trotzdem schließen sich Tietz' Vorhaben immer mehr Kleinanleger an. Menschen aus der Mitte der Gesellschaft, Frauen und Männer, die, trotz der weithin vorherrschenden Aktien-Angst der Deutschen, den Mut hatten, ihr Geld an der Börse zu investieren.
"Nichts deutete auf Ungereimtheiten hin"
Eine von ihnen ist die 68-jährige Sabine Mulla aus Teltow bei Berlin. "Ich habe mir im Sommer 2019 einen Bausparvertrag auszahlen lassen", sagt sie. Ihr war klar, dass sie das Geld in Aktien investieren wollte, weil andere Anlageformen kaum Erträge bieten. "Einen Teil des Geldes haben wir daraufhin in Allianz-Aktien investiert, rund 25.000 Euro in Wirecard", berichtet sie.
Zu diesem Zeitpunkt schwankte die Wirecard-Aktie um rund 150 Euro. Unüberlegt sei der Schritt nicht gewesen. "Mein Mann hatte sich länger mit Wirecard beschäftigt", so die 68-Jährige, die früher als Geschäftsführerin in einem Betrieb gearbeitet hatte. Zwar waren damals bereits erste Vorwürfe in der britischen "Financial Times" bekannt geworden. Die Bankenaufsicht Bafin aber hatte sich mit dem Verbot von Spekulationen auf fallende Kurse klar hinter Wirecard gestellt. Mulla: "Nichts deutete für uns auf Ungereimtheiten hin."
Aktien-Investments fürs Alter
Schon einige Zeit zuvor waren auch die Berliner Wolfgang Sandkötter, ebenfalls 68 Jahre alt, und Detlef Neumann, 44, bei Wirecard eingestiegen. Sandkötter, Diplom-Ingenieur, hatte 75.000 Euro in Aktien des Zahlungsdienstleisters investiert. Neumann, der als freiberuflicher Asset Manager arbeitet und seinen richtigen Namen deshalb nicht veröffentlicht sehen will, kaufte in Summe gar für 119.000 Euro Anteile des Unternehmens.
"Die Wirecard-Aktien waren meine Altersvorsorge", sagt Sandkötter. "Ich habe die Aktie zuvor ein Jahr beobachtet, sie als solide Geldanlage eingeschätzt. Nach ein paar Jahren wollte ich sie wieder verkaufen, um Geld beiseite zu legen. Meine Kinder sollten später nicht für meine Pflege aufkommen müssen."
Eine geniale Erfolgsstory
Auch Neumann hatte sich vor dem Kauf der Aktie intensiv mit dem Unternehmen beschäftigt. Wie Sabine Mulla und Wolfgang Sandkötter glaubte er, das Business von Wirecard verstanden zu haben. "Die Erfolgsstory von der Zukunft des Bezahlens, die Wirecard erzählte, war genial", sagt er noch immer. "Das Geschäftsmodell war schlüssig."
Zudem überzeugte ihn der Aufstieg Wirecards in die erste deutsche Börsenliga, den Deutschen Aktienindex, im Jahr 2018. Damals löste Wirecard ausgerechnet die nach der Weltfinanzkrise nicht mehr ganz so ehrwürdige Commerzbank ab. Ein junges Fintech für eine verstaubte Bank im Dax – für Neumann ein Gütesiegel. "Bei einem Unternehmen, das in einer Liga mit Größen wie VW, Daimler und Siemens spielt, muss schließlich etwas dahinterstecken", sagt er.
Wie naiv waren die Anleger?
Tatsächlich – so viel ist inzwischen längst bekannt – war genau das nicht der Fall. Neumann, Mulla und Sandkötter verfolgten, wie immer neue Vorwürfe gegen Wirecard unter ihrem Chef Markus Braun aufkamen. Punktuell beschlich sie alle immer wieder ein mulmiges Gefühl.
Und doch hielten alle an ihrem Investment bis zuletzt fest. War das leichtsinnig, dumm, naiv?
Nachdem Wirecard im Corona-Frühjahr 2020 mehrmals die Präsentation seines Konzernabschluss verschob, rückten Anfang Juni Ermittler des Zolls in der Firmenzentrale in Aschheim an. Am 18. Juni dann der Schock für Anleger und Investoren: In den Büchern von Wirecard fehlen 1,9 Milliarden Euro – ein Viertel der Bilanzsumme, das nach Konzernaussagen mit "überwiegender Wahrscheinlichkeit" nicht existiere.
"Aus heutiger Sicht ein Riesenfehler"
"Das konnte ich mir nicht vorstellen", sagt Neumann. "Das habe ich nicht geglaubt. So viel Geld kann nicht einfach verschwinden." Und weil er es so sah, kaufte er sogar noch nach: Rund 10.000 Euro steckte er am selben Tag in weitere Wirecard-Aktien, die dank des extremen Kursrutsches jetzt sehr billig waren.
"Natürlich war das aus heutiger Sicht ein Riesenfehler", sagt er. "In diesem Moment aber glaubte ich nicht an einen Betrug. Ich hatte weiter die Geschäftsidee vor Augen, von deren Erfolg ich überzeugt war."
Der Rest ist Geschichte: Die Aktie fiel ins Bodenlose, landete bei einem Wert von etwas mehr als nur einem Euro, CEO Markus Braun wurde entlassen. Asienchef Jan Marsalek nahm Reißaus, Wirecard meldete Insolvenz an, die Staatsanwaltschaft München begann mit Ermittlungen wegen des Verdachts auf gewerbsmäßigen Bandenbetrug.
118.000 Euro Verlust mit Wirecard-Aktien
Was für Neumann bleibt, ist ein gigantischer finanzieller Verlust. Erst vergangene Woche trennte er sich von seinen fast wertlosen rund 1.000 Anteilsscheinen. "Ich habe mit den Wirecard-Aktien insgesamt 118.000 Euro verloren", sagt er.
Wütend ist er deshalb einerseits auf sich selbst. Er ärgert sich, nicht früher verkauft zu haben. Andererseits, und das eint ihn mit Wolfgang Sandkötter und Sabine Mulla, ist er aber auch auf die Unternehmensführung von Wirecard sauer. "Der finanzielle Verlust schmerzt schon sehr", sagt auch Sandkötter. "Viel wichtiger ist mir aber: Die Verantwortlichen müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Die Wirecard-Manager Braun und Marsalek möchte ich gern im Knast sehen."
Seine persönliche Konsequenz aus der teuren Lehre: "Ich werde in meinem Leben keine neuen Aktien kaufen." So weit würde Sabine Mulla zwar nicht gehen. Doch auch sie sagt: "Wie Wirecard uns Kleinanlegern mitgespielt hat, ist eine Frechheit. Es darf nicht sein, dass die Manager davonkommen."
Ein Kampf wie David gegen Goliath
Jeder Kleinkriminelle müsse sich gerichtlich verantworten, seine Strafe verbüßen. "Das muss hier genauso gelten", sagt sie. "Deshalb will ich mich der möglichen Klage anschließen."
Ob und wann es zu einer solchen Klage kommt, lässt sich laut Anwalt Tietz derzeit noch nicht sagen. Fest steht aber schon: Ein mögliches Verfahren wird lange dauern. "Da Wirecard selbst insolvent ist und auch ihr Ex-Chef Markus Braun nur schwer belangt werden kann, rechnen wir uns die größten Chancen bei der Haftung von EY aus", sagt Tietz.
Gerade diese Auseinandersetzung aber gleicht einem Kampf wie dem zwischen David und Goliath. Denn EY beschäftigt zahlreiche Spitzenanwälte, die alles daran setzen werden, einen potenziellen Prozess durch sämtliche Instanzen zu fechten.
"Ein solches Verfahren kann sich bis zu zehn Jahren ziehen", schätzt der Anwalt. Und es wäre sehr teuer. Deshalb sucht seine Kanzlei nun nach einem Prozessfinanzierer, was – laut Tietz – gar nicht so einfach ist.
- Eigene Recherche
- Gespräche mit Fabian Tietz, Sabine Mulla, Detlef Neumann und Wolfgang Sandkötter
- Aktionärszahlen des Deutschen Aktieninstituts