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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Zu teuer, zu bürokratisch "Deutschland verliert an Attraktivität"

Die künftige Bundesregierung verspricht, das Pflegesystem zu reformieren. Der Branchenexperte Arun Ananth hat jedoch wenig Hoffnung auf Besserung – und erklärt im Interview mit t-online, was er ändern würde.
Die Kosten für Pflegeplätze explodieren, Angehörige kämpfen mit Bürokratie, Fachkräfte bleiben aus: Arun Ananth, Geschäftsführer des Deutschen Pflegehilfswerks, schlägt im Interview Alarm. Warum er die Reformpläne der neuen Regierung für unzureichend hält – und welche Maßnahmen helfen könnten.
t-online: Herr Ananth, Sie sprechen schon länger von einem "schleichenden Kollaps der Pflege". Was sehen Sie konkret im Alltag, das diese Analyse rechtfertigt?
Arun Ananth: In unserer täglichen Arbeit erleben wir immer wieder: Menschen werden nach einem Krankenhausaufenthalt entlassen – etwa nach einem Schlaganfall – und stehen dann mit ihrer Familie völlig allein da. Pflegeplätze sind kurzfristig kaum zu bekommen, weil immer mehr Heime schließen. Gleichzeitig wird die häusliche Pflege für Familien zur Zerreißprobe – weil die gesetzlichen Leistungen der Pflegekassen vorn und hinten nicht reichen, die Angehörigen weit entfernt wohnen oder professionelle Hilfe fehlt, weil Deutschland für ausländische Betreuungskräfte an Attraktivität verliert.
Die Koalition aus Union und SPD will das ändern und verspricht eine umfassende Pflegereform. Wie bewerten Sie die Pläne?
Die Wortwahl im Koalitionsvertrag erinnert stark an frühere Versprechen – leider auch an deren mangelnde Umsetzung. Es wird signalisiert, dass man Pflege auf dem Schirm hat, aber konkrete Maßnahmen fehlen. Die Pflege ist seit Jahren im Ausnahmezustand. Trotzdem bleibt vieles vage. Was bedeutet "Begrenzung des Eigenanteils" konkret? Wie soll die häusliche Pflege wirklich gestärkt werden?
Das zu formulieren, soll die Aufgabe einer neuen Kommission von Bund, Ländern und Kommunen sein. Reicht das, um die drängenden Probleme zu lösen?
Ich sehe das eher als Symbolpolitik. Selbst wenn gute Ideen entstehen, fehlt häufig die politische Priorität bei der Umsetzung. Der Fokus bei den Haushaltsmitteln liegt oft woanders. Visionen reichen nicht – wir brauchen Taten.

Zur Person
Arun Ananth ist Geschäftsführer des Deutschen Pflegehilfswerks. Die Organisation berät Betroffene und Angehörige in Fragen der häuslichen und stationären Pflege und vermittelt unter anderem 24-Stunden-Betreuung. Zum Pflegebereich kam Ananth durch einen persönlichen Pflegefall in der Familie – eine Erfahrung, die ihn dazu motivierte, Lösungen für eine bessere häusliche Pflege zu entwickeln.
Die Koalition will die Ausgabendynamik der Pflegeversicherung bremsen. VdK-Präsidentin Verena Bentele warnt bereits vor Leistungskürzungen. Teilen Sie diese Sorge?
Absolut. Schon jetzt wird an Leistungen gespart – und das sorgt für große Unsicherheit. Besonders bedroht sind spezialisierte Behandlungen für seltene Krankheitsbilder. Wenn dann noch mehr gekürzt wird, ist das existenzbedrohend für viele Betroffene.
Gibt es Möglichkeiten, das System effizienter zu gestalten, ohne dass es zulasten von Pflegebedürftigen und Angehörigen geht?
Ja, die gibt es. Wir brauchen dringend weniger Bürokratie. Wenn pflegende Angehörige stundenlang von Behörde zu Behörde rennen müssen, bleibt ihnen keine Energie für das Wesentliche. Anträge auf Verhinderungspflege oder Pflegegeld müssen zum Beispiel endlich digital möglich sein – einfach, verständlich und zentral erklärt.
Sie kritisieren, dass auch ausländische Pflegekräfte durch bürokratische Verfahren abgeschreckt werden. Was müsste sich ändern?
Das Verfahren zur Anerkennung ist viel zu komplex. Sprachkurse, praktische Einsätze, lange Wartezeiten – das schreckt viele ab. Dazu kommt: In Ländern wie Polen steigen die Gehälter, Deutschland verliert an Attraktivität. Was schnell helfen würde, wären steuerliche Vorteile zum Beispiel für Überstunden – nicht bloß steuerfreie Überstundenzuschläge, wie es Union und SPD planen. Überstunden sind in der Pflege gang und gäbe, bringen aber netto kaum etwas. Wenn sie steuerfrei wären, könnte das ein echter Anreiz sein.
Auch für Pflegebedürftige und pflegende Angehörige fordern Sie Entlastungen. Wie sollten die aussehen?
Man könnte zum Beispiel regeln, dass häusliche Pflegekosten stärker als bisher von der Steuer abgesetzt werden können. Hier gibt es aktuell einen Deckel bei 4.000 Euro im Jahr. Die häusliche Pflege muss generell gestärkt werden. Sie ist das Rückgrat unseres Pflegesystems – doch finanziell völlig unterbewertet. Die Pflegekassenleistungen sind im Heim deutlich höher als für Pflege zu Hause. Das ist unfair.
Die Pflegekassen rechnen schon jetzt mit Milliarden-Defiziten. Wer soll das alles bezahlen?
Der Staat sollte sich stärker an der Finanzierung beteiligen – etwa bei Rentenbeiträgen für pflegende Angehörige oder Ausbildungskosten. Man könnte auch eine Pflegevollversicherung einführen, die von allen getragen wird. Bisher kann sich gute Pflege nur leisten, wer Rücklagen hat. Viele Familien müssen das Elternhaus verkaufen – obwohl dort Erinnerungen und Lebensgeschichte stecken. Besonders für Demenzkranke ist ein Umzug traumatisch. Das darf nicht sein in einem reichen Land.
Der künftige Kanzler Friedrich Merz hat sich offen für eine Pflegepflichtversicherung gezeigt, also eine verpflichtende private Zusatzversicherung. Halten Sie das für einen sinnvollen Weg?
Ich bin da gespalten. Eine Pflichtversicherung könnte die Altersvorsorge verbessern, gerade weil viele Menschen keine Rücklagen bilden. Aber wir haben bei der Rente gesehen, wie schwierig es ist, den Nutzen verlässlich zu planen. Außerdem ist das Geld bei vielen ohnehin schon knapp. Besser wäre ein Modell, bei dem alle in die soziale Pflegevollversicherung einzahlen – auch die bisher privat Versicherten.
Herr Ananth, wir danken Ihnen für das Gespräch.
- Gespräch mit Arun Ananth, Geschäftsführer des Deutschen Pflegehilfswerks