Konjunktur schwächelt Wird Deutschland zum "kranken Mann" Europas?
Die Hoffnung auf einen Aufschwung 2023 war groß. Doch die deutsche Wirtschaft stagniert – und droht, in eine Rezession zu schlittern. Viele Probleme sind hausgemacht.
Konjunkturflaute statt eines erhofften Aufschwungs: Die deutsche Wirtschaft scheint in einem Tief zu stecken, nachdem sie im vergangenen Jahr trotz Energiekrise und hoher Inflation noch gewachsen war. Wie das Statistische Bundesamt am Freitag mitteilte, ist die deutsche Wirtschaftsleistung im zweiten Quartal (April bis Juni) im Vergleich zum Vorquartal preis-, saison- und kalenderbereinigt stagniert.
Damit hören die schlechten Nachrichten nicht auf: Der Internationale Währungsfonds geht in seiner jüngsten Konjunkturprognose davon aus, dass die deutsche Volkswirtschaft die einzige unter mehr als 20 untersuchten Staaten und Regionen ist, in der die Wirtschaftsleistung in diesem Jahr leicht sinken wird.
Der Begriff vom "Kranken Mann Europas" (Sick Man of Europe), mit dem die britische Zeitschrift "Economist" Deutschland um die Jahrtausendwende bezeichnete, macht erneut die Runde. Wie konnte es dazu kommen? Neben aktuellen Belastungen sind viele Probleme laut Ökonomen hausgemacht.
Industrie schwächelt
Die Industrie, die in Deutschland mit etwa 30 Prozent an der Bruttowertschöpfung ein vergleichsweise starkes Gewicht hat, leidet seit Längerem unter einer schwachen Entwicklung der Weltkonjunktur. Kunden halten sich tendenziell mit Bestellungen zurück, auch wenn es im Mai dank Großaufträgen ein Plus gab. Vor allem die Nachfrage aus Übersee schwächelt, das bekommt die exportorientierte deutsche Wirtschaft zu spüren.
Zwar dürfte die Produktion noch einige Monate durch die während der Corona-Pandemie liegengebliebenen Aufträge gestützt werden, analysierte Commerzbank-Ökonom Ralph Solveen unlängst. "In der zweiten Jahreshälfte droht aber ein deutlicher Rückgang, der maßgeblich dazu beitragen dürfte, dass die deutsche Wirtschaft insgesamt in der zweiten Jahreshälfte schrumpfen wird."
Privatkonsum: Trotz Flaute Hoffnungsträger
Viele Menschen in Deutschland können sich wegen der anhaltend hohen Inflation weniger leisten und treten beim Konsum auf die Bremse. Im ersten Quartal gaben Verbraucherinnen und Verbraucher den Statistikern zufolge für Nahrungsmittel und Getränke als auch für Bekleidung und Schuhe sowie für Einrichtungsgegenstände weniger aus als noch zum Jahresende.
Dennoch könnte der Privatkonsum im Jahresverlauf zum Hoffnungsträger werden: "Positive Impulse könnten vom Konsum kommen, der von steigenden Löhnen und nachlassendem Inflationsdruck profitiert", meint KfW-Chefvolkswirtin Fritzi Köhler-Geib. Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer geht davon aus, dass die Tariflöhne aber wohl erst im vierten Quartal wieder stärker zulegen als die Verbraucherpreise.
Ende des Baubooms
Zwar stiegen die Bauinvestitionen zu Jahresbeginn angesichts des milden Wetters. Doch der jahrelange Bauboom, der die deutsche Konjunktur stützte, ist vorerst zu Ende. Deutlich gestiegene Hypothekenzinsen und hohe Baukosten dämpfen die Nachfrage.
In den ersten fünf Monaten des Jahres 2023 sanken die Auftragseingänge im Bauhauptgewerbe im Vergleich zum Vorjahreszeitraum kalender- und preisbereinigt (real) um 14,7 Prozent. Die Zahl der Baugenehmigungen blieb um 27 Prozent hinter dem Wert aus dem Vorjahr zurück.
Gestiegene Zinsen
Die hohen Zinsen, mit denen Notenbanken die Inflation eindämmen wollen, verteuern Kredite für Firmen und Verbraucher. Das schlägt unter anderem auf den Immobilienmarkt durch und bremst die Konjunktur. Die Wachstumsschwäche Deutschlands allein der Europäischen Zentralbank zuzuschreiben, greife aber zu kurz, meint der Präsident des Kiel Instituts für Weltwirtschaft (IfW), Moritz Schularick. "Dies zeigt auch der Blick auf unsere europäischen Nachbarn, die allesamt eine höhere konjunkturelle Dynamik zeigen."
Weitgehend robuster Arbeitsmarkt
Anders als in den Jahren 2002 bis 2006 mit deutlich mehr als vier Millionen Arbeitslosen und -quoten von bis zu 13 Prozent zeigt sich der Arbeitsmarkt bislang weitgehend robust. Die Zahl der Arbeitslosen stieg im Juni im Vergleich zum Mai um 11 000 auf 2,555 Millionen. Die Quote blieb aber unverändert bei 5,5 Prozent. Allerdings werden dem Ifo-Institut zufolge nahezu alle Branchen vorsichtiger bei Neueinstellungen.
Strukturelle Probleme
Viele Jahre galt das deutsche Wirtschaftsmodell als erfolgreich: billige (russische) Energie und Vorleistungsgüter importieren, hochwertige Produkte in die Welt exportieren. Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine und dessen Folgen zeigen Probleme, die Europas größte Volkswirtschaft schon vorher belasteten. Die deutsche Wirtschaft mit ihrem relativ hohen Anteil an energieintensiver Industrie klagt über teure Energie, unnötige Bürokratie, hohe Steuern und Fachkräftemangel.
"Weiten Teilen unserer Wirtschaft fehlt die Zuversicht, dass sich Investitionen angesichts der hohen Kosten und teilweise sogar widersprüchlicher Regelungen am Standort Deutschland rechnen", sagte der Präsident Deutschen Industrie- und Handelskammer Peter Adrian unlängst der Deutschen Presse-Agentur.
Internationale Wettbewerbsfähigkeit
Nach Einschätzung von ING-Chefvolkswirt Carsten Brzeski hat sich die internationale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands bereits vor der Corona-Pandemie verschlechtert. "Spannungen in der Lieferkette, der Krieg in der Ukraine und die Energiekrise haben die strukturellen Schwächen des deutschen Wirtschaftsmodells offengelegt und kommen zu einer ohnehin schwachen Digitalisierung, einer bröckelnden Infrastruktur und demografischen Veränderungen hinzu".
Ähnlich sieht das Christian Rusche vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft: "Die Investitionsbedingungen in Deutschland haben sich aufgrund der hohen Energiepreise und dem zunehmenden Fachkräftemangel zuletzt noch einmal verschlechtert." Viele Probleme seien hausgemacht, darunter hohe Unternehmenssteuern, ausufernde Bürokratie und eine marode Infrastruktur.
- Nachrichtenagenturen dpa und AFP