Großer Streik am Montag "Diese Angst gibt es nicht mehr"
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Am Montag wird der öffentliche Verkehr weitgehend stillstehen – zwei Gewerkschaften lassen ihre Muskeln spielen. Ist das die "neue Macht" der Arbeitnehmer?
Martin Burkert reicht es. Seit Monaten sind die Eisenbahner überlastet, sagt der Chef der Gewerkschaft EVG. Während der Pandemie wurden sie notgedrungen zu "Hilfs-Sheriffs" – so formulierte es Burkert im Dezember im "Spiegel" – welche die Maskenpflicht durchsetzen und dafür Übergriffe ertragen mussten. Dann kam das 9-Euro-Ticket, das viele Züge nicht nur mit Menschenmengen füllte, sondern überfüllte. Ertragen mussten das die, die in den Zügen arbeiten und in den Bahnhöfen, Stellwerken und Leitstellen, so Burkert.
Gleichzeitig aber reiche das Geld der Busfahrerin, des Kundenbetreuers, der Reinigungskraft in den Fahrzeugen am Ende des Monats vorne und hinten nicht – die Inflation fresse es einfach auf. Deshalb ringt die EVG mit mehreren Unternehmen, darunter mit der Deutschen Bahn, um mehr Geld. Aus Sicht der Gewerkschaft zeigen diese allerdings zu wenig Bewegung, weshalb die EVG am Montag für 24 Stunden zum Warnstreik aufruft. Weil die Dienstleistungsgesellschaft Verdi gemeinsam mit der EVG zum Streik trommelt, wird der Verkehr im Land am Montag zu großen Teilen stillstehen.
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Die Arbeitgeber sind empört, sprechen von einer Bevölkerung "in Geiselhaft" und "überzogenen" Forderungen. Auch Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) rief die Gewerkschaften zur Mäßigung auf. Die aber denken nicht daran und wollen ihrer Forderung nach 10,5 beziehungsweise 12 Prozent mehr Lohn mit dem Warnstreik Nachdruck verleihen.
Der Tarifkonflikt wird so erbittert geführt wie seit Langem nicht. Der Ausstand betrifft nicht nur den Fernverkehr, sondern auch den Regional- und S-Bahnverkehr auf der Schiene, den kommunalen Nahverkehr, viele deutsche Flughäfen, die Wasserstraßen und Häfen sowie Autobahnen. Ist das erst der Anfang? Zeigt sich hier die häufig insinuierte "neue Macht" der Arbeitnehmer?
"Kann man verstehen, dass sie nach höheren Löhnen fragen"
"Diese neue Macht gibt es", sagt Enzo Weber t-online. Sie stecke jedoch nicht hinter den ungewöhnlich hohen, zweistelligen Lohnforderungen, die Verdi und EVG nun erheben, fügt der Wissenschaftler vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg hinzu.
Denn diese Forderungen nach 10,5 beziehungsweise 12 Prozent mehr Lohn führt Weber auf eine momentane Besonderheit zurück: die hohe Inflation infolge der gestiegenen Energiepreise und Lieferengpässe. "In den letzten drei Jahren sind die Reallöhne gesunken", so Weber. Das heißt: Die Inflation ist stärker gestiegen als die Löhne.
Die Politik hat zwar etwa mit den Energiepreisbremsen gegengesteuert. Trotzdem haben die Menschen insgesamt an Kaufkraft eingebüßt. Vor diesem Hintergrund äußern auch Wirtschaftsexperten Verständnis für die hohen Lohnforderungen – selbst die oberste Wirtschaftsweise. "Insofern kann man schon verstehen, dass die Menschen nach höheren Löhnen fragen", sagte Monika Schnitzer im Podcast der "Wirtschaftswoche".
"Der Hebel der Arbeitnehmer ist länger geworden"
Weil es sich bei den aktuellen Lohnforderungen um diesen kurzfristigen Faktor handle, geht Arbeitsmarktexperte Weber nicht davon aus, dass es von nun an häufiger Forderungen im zweistelligen Bereich geben werde. "Das wird in Zukunft nicht die normale Situation sein", sagt er.
Enzo Weber
ist Arbeitsmarktforscher und Makroökonom. Er leitet den Forschungsbereich "Prognosen und gesamtwirtschaftliche Analysen" am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg. Das IAB ist eine besondere Dienststelle der Bundesagentur für Arbeit.
Aber er geht davon aus, dass die Lohnsteigerungen in Zukunft höher ausfallen werden als in den vergangenen 15 Jahren. Warum? "Weil sich ganz grundsätzlich etwas im Verhältnis zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern verschiebt", sagt Weber. Grassierte bis in die Nullerjahre noch die Massenarbeitslosigkeit, sind heute Arbeitskräfte so gefragt wie seit dem Wirtschaftswunder nicht mehr. "Der Hebel der Arbeitnehmerseite ist länger geworden", so der Wissenschaftler des Instituts – durch das altersbedingte Schrumpfen der Erwerbsbevölkerung.
Heil spricht von einer "stillen Revolution"
Der "Arbeitgebermarkt" wird zum "Arbeitnehmermarkt", sagen Experten dazu. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) spricht in diesem Zusammenhang sogar von einer "stillen Revolution". Der Chef der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi gibt sich daher auch selbstbewusst: "Die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes und die Erpressbarkeit, die viele Jahre lang die gewerkschaftlichen Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt hat, gibt es in der Form nicht mehr", sagte Frank Werneke "table.media".
Ob die Gewerkschaften – die seit Jahren mit Mitgliederschwund zu kämpfen haben – in dem Zusammenhang tatsächlich zu neuer Kraft kommen, sei schwer zu sagen, sagt hingegen der Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder t-online.
Die Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Yasmin Fahimi, sprach im Interview mit t-online zwar bereits von einem "starken Vertrauenszuwachs". Hier lesen Sie das ganze Gespräch mit der obersten Gewerkschafterin. Und die Gewerkschaft Verdi hat laut Chef Werneke in den ersten beiden Monaten des Jahres 45.000 neue Mitglieder gewonnen – was der größte Zuwachs innerhalb dieser Zeit seit der Gründung im Jahr 2001 sei. Politikwissenschaftler Schroeder bewertet das nach den empfindlichen Verlusten der vergangenen Jahre jedoch bislang lediglich als einen "Tropfen auf dem heißen Stein".
Wolfgang Schroeder
ist Politikwissenschaftler an der Universität Kassel und Fellow am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Von 1991 bis 2006 war er bei der Gewerkschaft IG Metall tätig.
"Streiken nicht in jedem Konflikt bis zum 'Geht nicht mehr'"
Ob die Arbeitnehmer also tatsächlich zu "neuer Macht" kommen werden? Der Politikwissenschaftler von der Universität Kassel will diesen Begriff – anders als sein Kollege Weber – nicht in den Mund nehmen. Natürlich führe die zunehmende Knappheit an Arbeitskräften dazu, dass Arbeitgeber in einem Wettkampf um die Köpfe stünden und sich eventuell mehr einfallen lassen müssten. "Trotzdem ist es ja nicht so, dass die Arbeitnehmer nun ihre Bedingungen diktieren könnten. Wir sind in einer Verhandlungsdemokratie", sagt Schroeder, "und die funktioniert ganz gut." Das heißt: Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite sitzen – dort, wo es Tarife gibt – an einem Tisch und verhandeln die Löhne und Arbeitsbedingungen.
Weil das so ist, gehen Experten nicht davon aus, dass sich die Streikkultur in Deutschland ändern wird. "Hierzulande gibt es eine Kultur, nicht in jedem Konflikt bis zum 'Geht nicht mehr' zu streiken, sondern das unter den Sozialpartnern beizulegen", so Weber. Insgesamt sei das Streikgeschehen in Deutschland niedrig – wenn man es etwa mit den Streiktagen der Französinnen und Franzosen vergleicht.
Am Ende werde es auch darauf ankommen, wie der kommende Montag von der Bevölkerung aufgenommen wird: Wird der Streik als gerechtfertigt wahrgenommen oder als übergriffig? Weber sagt: "Das wird dann ein Zeichen für die Gewerkschaften sein, wie weit man in Tarifauseinandersetzungen gehen kann."
- Telefonisches Gespräch mit Enzo Weber am 24.03.2023
- Telefonisches Gespräch mit Wolfgang Schroeder am 24.03.2023
- deutschlandfunk.de: "EVG-Chef Burkert: Es bleibt uns keine andere Wahl"
- evg-online.org: "Bundesweiter Warnstreik der EVG am 27.03.2023"
- progressives-zentrum.org: "Hubertus Heil – Die Zeitenwende bedeutet für den Arbeitsmarkt eine stille Revolution"
- spiegel.de: "Gewerkschaftschef Burkert: Absurde Regeln auf Kosten der Eisenbahner"
- table.media: "Überall Streik: Das Frühjahr des Protests"
- table.media: "Verdi-Chef Frank Werneke: Das zeigt die Arroganz von Teilen der Wirtschaftselite"
- verdi.de: "Wir legen noch eine Schippe drauf"
- wiwo.de: Wirtschaftsweise Schnitzer: "Steigen die Löhne zu stark, heizt das die Inflation an"