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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Deutsches Duell "Mama" oder "Jule": Wer sorgt für die nächste Sensation?
Mit ihnen hatte niemand gerechnet: Tatjana Maria und Jule Niemeier. Doch plötzlich stehen die beiden bei Wimbledon vor einer weiteren Überraschung.
Tatjana Maria dachte zuerst an ihre Familie – und dann an Tennis-Deutschland. "Das ist doch super. Eine von uns steht auf jeden Fall im Halbfinale. Das hätte doch niemand gedacht." Und Jule Niemeier pflichtete ihr im TV-Doppelinterview bei: "Das ist unglaublich, das hätten wir beide unterschrieben, als wir hierhergekommen sind."
Sowohl Tatjana Maria (34) als auch Jule Niemeier (22) erlebten am Sonntag wohl den schönsten Tage ihrer Karriere – und treffen am Dienstag im Viertelfinale von Wimbledon im direkten Duell aufeinander.
Angelique Kerber, 2018 noch Siegerin in London, schied bereits nach der dritten Runde aus. Stattdessen stehen mit der Weltranglisten-97. (Niemeier) und der Nummer 103 (Maria) nun zwei absolute Außenseiterinnen in der Runde der letzten Acht.
Maria muss Matchbälle abwehren
Die zweifache Mutter Maria musste gegen die Lettin Jelena Ostapenko im zweiten Satz zwei Matchbälle abwehren. Niemeier feierte dagegen parallel ihr Debüt auf dem ehrwürdigen Centre Court, der wenige Minuten zuvor noch anlässlich der Feier zu seinem 100-jährigen Bestehen von diversen Tennislegenden umgeben war.
"Das war eine Ausnahmesituation für Jule. Nach dieser Feier auf dem Centre Court zu spielen, auf dem schon so viele Champions triumphiert haben – und dann vor ihrem ersten Achtelfinale noch an all denen vorbeizulaufen – das war schon außergewöhnlich", berichtet Niemeiers Trainer Christopher Kas t-online von der besonderen Situation für seine Spielerin – und zeigte sich gleichzeitig stolz und beeindruckt. "Ich fand es super, wie Jule mit dieser Gesamtsituation umgegangen ist." Am Ende bezwang Niemeier die vom britischen Publikum angefeuerte Lokalmatadorin Heather Watson souverän mit 6:2 und 6:4.
Kas, der von 2015 bis 2016 die einstige Wimbledon-Finalistin Sabine Lisicki trainierte, zeigte sich auch mit ihrer spielerischen Leistung zufrieden. "Jule hat gut aufgeschlagen und returniert. Sie war sehr variabel ohne kompliziert zu werden, ist mutig geblieben und hat sehr viele richtige Entscheidungen getroffen. Das war schon eine sehr reife Vorstellung", so der ehemalige Tennisprofi.
Niemeier selbst habe sich nach ihrem großen Erfolg zunächst darüber gefreut, nun auf ihre Bundesliga-Kollegin Maria zu treffen. Und auch Kas ist voller Vorfreude auf das Duell. "Wir freuen uns riesig, dass es nun gegen Tatjana Maria geht. Sie ist eine tolle Spielerin mit einer ebenso tollen Familie."
Maria brachte erst vor 15 Monaten ihr zweites Kind zur Welt
Jene Familie ist in London mit dabei. Marias Trainer ist ihr Ehemann, der frühere Tennisprofi Charles-Edouard Maria, dem sie nach eigener Aussage komplett vertraut. "Er macht die Taktik, ich setze sie um", hatte die 34-jährige Mama bereits nach ihrem überraschenden Drittrundensieg über die Topspielerin Maria Sakkari bei "Sky" gesagt. Und auch ihre beiden Töchter Charlotte (8) und Cecilia (1) sind in London vor Ort. Kinderwagenschieben und Charlotte zum Tennistraining begleiten gehören im Alltag zur Tagesordnung.
Auch deshalb ist die Oberschwäbin, deren Spiel sehr von der Anwendung des unterschnittenen Slice geprägt ist, ein absolutes Vorbild. Erst vor 15 Monaten bekam sie ihre zweite Tochter, musste sich mühsam auf die Tennis-Tour zurückkämpfen. In London hat sie mehr als einen Fulltime-Job zu erledigen – neben Profitennis auf Spitzenniveau.
Die Unterstützung des Weltverbands WTA lässt dabei zu wünschen übrig. "Es ist nicht einfach. Sie helfen uns nicht, auch wenn sie das einen glauben lassen wollen", kritisierte Ehemann Charles-Edouard zuletzt beim TV-Sender "Sky". "Am Ende macht die WTA, was sie will. Da werden fast alle Spieler und Trainer dasselbe sagen, es sei denn, man gehört zu den ganz Großen. Ich hoffe, dass die WTA begreift, dass es nicht nur um Business und Geld geht."
Die Problematik erkennt auch DTB-Chefin Barbara Rittner, die sich nach dem Erfolg der beiden deutschen Spielerinnen im Gespräch mit t-online "sehr, sehr stolz" über das deutsche Damentennis zeigte.
"Es gibt erst seit wenigen Jahren überhaupt ein Bewusstsein für diese Thematik", monierte die 49-Jährige im Gespräch mit t-online. Topspielerinnen wie Serena Williams hätten es einfacher, weil diese für Grand-Slams "problemlos eine Wild-Card" bekämen. Schwangerschaften werden bei der WTA wie Verletzungen eingestuft. Das sogenannte "Protected Ranking", das ein zu weites Abrutschen in der Weltrangliste verhindern soll, gilt entweder bis neun Monate nach der ersten Turnierteilnahme oder aber für die ersten neun gespielten Turniere.
"Wenn sich eine Spielerin wie Tatjana Maria mühsam bei kleineren Turnieren zurückkämpfen muss, macht man es Müttern schwer, auf die Tour zurückzukehren", so Rittner. Maria könne mit ihrem Erfolg nun einiges anstoßen. "Mit ihren Interviews generiert sie Aufmerksamkeit und setzt möglicherweise Prozesse in Gang, an die in der Vergangenheit bei der WTA nicht gedacht wurde."
Maria im Herbst, Niemeier am Anfang ihrer Karriere
Während sich Maria mit ihren 34 Jahren bereits im Herbst ihrer Karriere befindet, steht Jule Niemeier erst am Anfang. Im Juni feierte die gebürtige Dortmunderin im kroatischen Makarska ihren ersten Titel auf der WTA-Tour überhaupt.
"Jule wird von Woche zu Woche besser. Sie lernt extrem schnell und ist mit großer Freude dabei", schätzt Trainer Kas seinen Schützling ein. "Sie fühlt sich grundsätzlich auf Rasen sehr wohl. Hätte man sie vor dem Turnier gefragt, hätte sie aber eher Sand als ihren Lieblingsbelag bezeichnet. Sie hat aber auf jeden Fall sehr viele Fähigkeiten, die auf Rasen wertvoller sein können als woanders."
Mit ihrem überzeugenden Zweitrundensieg (6:4, 6:0) über Anett Kontaveit ließ Niemeier in London auf absolutem Topniveau aufhorchen. Dass sie es bei ihrem Debüt in Wimbledon gleich ins Viertelfinale geschafft hat, sei eine "positive Überraschung", so Kas, der der 22-Jährigen noch eine Menge zutraut. "Jule wird in 12 bis 18 Monaten ihr bestes Tennis spielen. Alles, was bis dahin passiert, sind Erfahrungen, in denen sie lernen kann. Es gibt für sie keinen Druck."
Die Teilnahme in London ist für die starke Aufschlägerin erst das zweite Grand-Slam-Turnier ihrer Karriere, im Mai hatte sie den Sprung unter die Top 100 der Weltrangliste geschafft.
"Es ist natürlich alles sehr aufregend, ständig gibt es ein 'first, first, first'", erzählt Kas t-online. "Zum ersten Mal Wimbledon, zum ersten Mal Centre Court, zum ersten Mal im Viertelfinale bei einem Grand Slam – das ist natürlich schon geil alles", freut er sich über den bisherigen Erfolg. Einzig über Weltranglistenpunkte fürs Ranking, die nach dem Streit um den Ausschluss der russischen und belarussischen Spielerinnen und Spieler in diesem Jahr nicht vergeben werden, kann sich Niemeier nicht freuen.
Ob es nun auch gegen "Mama Maria" reicht, darüber wollte ihr 42-jähriger Trainer allerdings keine Prognose abgeben. "Jule spürt aktuell ihre eigene Stärke und weiß, dass ihr Spiel gegen die meisten Spielerinnen funktionieren kann. Sie hat eine große Sicherheit und Vertrauen in ihr Spiel. Ich freue mich jetzt aber erst mal für Tennisfans in Deutschland, dass sie am Dienstag dieses Spiel erleben dürfen. Dann schauen wir mal."
Spätestens am Dienstagabend wird dann geklärt sein, wer am Donnerstag das Halbfinale bestreiten wird. Dort wartet dann entweder die Tschechin Marie Bouzkova oder die Tunesierin Ons Jabeur (Platz drei der Setzliste). Fest steht schon jetzt: Sowohl für Maria als auch Niemeier wäre es – erneut – der größte Erfolg ihrer Karriere.
- Eigene Beobachtungen der Spiele auf Sky
- Telefonat mit Christopher Kas
- Telefonat mit Barbara Rittner
- sportschau.de: "Vorbild" Maria wirbt weiter für Tennismütter"
- Sky Go: Maria: "Überglücklich, dass ich das gewinnen konnte" (kostenpflichtig)
- Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa und SID
- Eigene Recherche