Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Eine Klasse für sich Das doppelte Spiel des Julian Nagelsmann
Das politische Spiel des Julian Nagelsmann jenseits des Rasens ist etwas für Feinschmecker. Eine Ehrerbietung eines Fußball-Abstinenzlers.
Etwas wirklich Unvorstellbares ist passiert, und es wird immer schlimmer: Ich interessiere mich plötzlich für Fußball. Also, jetzt nicht so sehr für das Spiel auf dem Platz. Das mögen andere beurteilen, die sich da besser auskennen. Aber dieses zweite Spiel, das politische, das machttaktische, das dieser junge Mann mit dem schütteren Fusselbart ganz nebenbei und mit großer Virtuosität auf einer zweiten Ebene jenseits des Rasens hinlegt, das verdient volle Aufmerksamkeit und größten Respekt.
Julian Nagelsmann mimt in diesem politischen Schauspiel brillant die Rolle des Picaro, des Schelmen, eine Figur des klassischen Romans seit dem Simplicissimus von Grimmelshausen. Mit täuschend echt gespielter Naivität mimt er den Unbedarften, den mit den großen staunenden Augen, den Arglosen, der halt jetzt mal kurzfristig und selbstlos eingesprungen ist als Bundestrainer, nachdem dessen Vor-Vorgänger Jogi Löw die Nationalmannschaft offenbar (das können andere besser beurteilen) über Jahre in eine bleierne Bräsigkeit versetzt hat, an die man sich schon beinahe als unabänderlich gewöhnt hatte. Dabei hat er es faustdick hinter den Ohren.
Das eine Spiel ist nicht genug
Und spielt mal eben zwei Spiele gleichzeitig. Das eine auf dem Rasen. Und das andere mit den Funktionären des DFB. Das auf dem Rasen muss klappen, damit das zweite aufgehen kann. Es klappt auf dem Platz aber auch mit einer Lässigkeit, die man im Löw-verharzten deutschen Fußball gar nicht mehr für möglich gehalten hätte: Da kommt also dieser junge Bursche von 36 Jahren als Bundestrainer, holt einen Spieler, der fast so alt ist wie er selbst, aus dem national-mannschaftlichen Vorruhestand, bläst die Bräsigkeit aus den Köpfen der anderen Spieler und hat damit ziemlich schnell Erfolg. Seine Figuren auf dem Platz wirken wie ausgewechselt – und sind es zu großem Teil auch.
Das ist aber nur das eine Spiel des Julian Nagelsmann. Er stellt nicht nur Dreier- und Viererketten auf – und wie das alles heißt auf dem Fußballplatz. Das alleine wäre für ihn beinahe langweilig, so scheint es. Das macht er schlafwandlerisch, rückenmarkgesteuert. Der echte Reiz, der eigentliche Thrill liegt woanders. Denn gleichzeitig stellt und zieht er seine Figuren auf in einem Schachbrett und in einem Spiel, das er sich mit dem DFB und dessen Granden liefert, wenn man da von Granden sprechen kann.
Immer wieder lässt er wie nebenbei Bemerkungen fallen, dass er seinen Einsatz für die Nationalmannschaft nur als kleines Zwischenspiel im Frühling und Frühsommer begreift. Als eine Art Fingerübung vor der Übernahme einer Festanstellung bei einem namhaften Verein nach der Europameisterschaft. Im Grunde nutzt er die Bühne, die ihm das Engagement als Bundestrainer bietet, wie eine große Auktion: Herrschaften, ihre Angebote bitte! Ich habe hier noch ein bisschen zu tun bei dieser Trümmertruppe DFB. Danach stehe ich dann dem Verein zur Verfügung, der mir die reizvollste Offerte macht. Faites vos Jeux!
Oh, das wollte ich nicht!
Und wenn das dann doch mal auffällt, dieses doppelte Spiel, dann guckt er mit der Miene des Simplicissimus und sagt: Was, ich? Ich soll den DFB damit jetzt unter Druck gesetzt haben? Oh, das wollte ich nicht! Wirklich nicht.
Das ist Politik vom Feinsten. Etwas für Feinschmecker. Bernd Neuendorf, der Präsident des DFB, war in seinem früheren Leben ein versierter und geschätzter Hauptstadtkorrespondent. Er weiß genau, wie Politik funktioniert, kennt deren Muster und Mechanismen. Aber im Naturtalent Nagelsmann findet der Routinier Neuendorf gerade seinen Meister. Denn natürlich wird diese EM (ein erfolgreiches Auftreten der deutschen Nationalmannschaft vorausgesetzt) zu einer Volksabstimmung über einen dauerhaften Bundestrainer Nagelsmann. Und Neuendorf wird mit seinen Völlers und Watzkes derart auf Knien vor Nagelsmann rutschen müssen, dass sich der Gang nach Canossa von Heinrich IV. dagegen wie ein Triumphzug ausnimmt.
Immer eine leichte Mokanz um den Mund
Dieser strahlende junge Mann, dessen Mund stets von leichter Mokanz umspielt ist und dessen Augen immer wach blitzen, zeigt es den grauen Anzugträgern gerade so richtig. Manchmal möchte man meinen, er nimmt an der ganzen Funktionärssippe Revanche für die Nummer, die ihm bei den Bayern widerfahren ist. Im Tennis würde man sagen: Er zwingt ihnen sein Spiel auf. Und er hat erkennbar großen Spaß dabei.
Das geht nur bei größter innerer Freiheit und Unabhängigkeit, für den Fall des Scheiterns. Auch in dieser Hinsicht ist Nagelsmann erstens frühreif – und zweitens eine Klasse für sich.
- Eigene Überlegungen