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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Neuer DFB-Geschäftsführer "Mich nimmt das nicht mehr mit"
Dem DFB gelingt mit der Berufung von Andreas Rettig ein Coup. Der neue Geschäftsführer Sport hat Eigenschaften, die ihm nun besonders helfen könnten – und mit denen er sich nicht nur Freunde gemacht hat.
Was er da sagte, überraschte. Was er da sagte, war unerwartet. Fast ungewöhnlich. "Man sieht, was Rudi mit Handauflegen schafft", sagte Andreas Rettig am Rande des Auftaktspiels der Frauen-Bundesliga am Freitag zum Zustand der deutschen Nationalmannschaft. "Wir sollten die ganze Schwarzmalerei mal sein lassen, nach vorne schauen mit Optimismus. Der Rudi wirds richten."
Einende, deeskalierende Töne vom am selben Freitag neu ernannten Geschäftsführer Sport des DFB: Sie werden ihre Wirkung nicht verfehlen. Und werden sicher nur die ersten in Rettigs Amtszeit sein. Mit der Personalie ist dem zuletzt arg ins Schlingern geratenen Deutschen Fußball-Bund ein Coup gelungen. Rettig verkörpert Werte, die seit längerer Zeit schon nicht nur dem größten Einzelsportverband der Welt, sondern dem Fußball generell vermehrt abgesprochen werden: Bodenständigkeit, Maß, moralische und gesellschaftliche Verantwortung.
Denn der DFB hat sich einen seiner schärfsten und lautesten Kritiker ins eigene Haus geholt. Seit Jahren schon ist Rettig bekannt und geschätzt als aufmerksamer Beobachter und nachdenklicher Geist, der den Fußball und seine Entwicklung fundiert infrage stellt. Und damit ist Rettig mehr als ein Mal angeeckt. Hat für Diskussionen gesorgt, Debatten angeregt.
"Traditionalist"
Am 1. Januar 2013 übernimmt er die wichtigste Stelle in der Schaltzentrale der Bundesliga: Geschäftsführer der DFL. Zuvor konnte sich Rettig über viele Jahre einen Ruf als behutsamer Klubmanager mit dem Blick über den Profifußball hinaus aufbauen: Nach Lehrjahren bei Bayer Leverkusen (1989 bis 1998) imponierte Rettig mit seiner Arbeit beim SC Freiburg (1998 bis 2002) und nach einer Zwischenstation in Köln (2002 bis 2005) besonders auch beim FC Augsburg, den er ab 2006 kontinuierlich professionalisierte und für dessen Bundesliga-Aufstieg 2011 er maßgeblich mitverantwortlich war.
Bei seiner Vorstellung bei der DFL indes bezeichnet er sich als "Traditionalist". "Ist er der Mann, der Fans und Funktionäre versöhnt?", fragt der "Spiegel" bei Rettigs Amtsantritt – schließlich gilt dieser als einer, der sowohl die Sprache der Anhänger als auch der Anzugträger spricht. Er finde, dass "zu viele über Sicherheit reden, die mit dem Schirm überm Kopf vom VIP-Parkplatz auf die guten Plätze eskortiert werden", erklärt Rettig dem Magazin damals. Er kommt besonders bei den Fans gut an, reist bereits zwei Monate vor Beginn seiner Anstellung zum Fan-Gipfel nach Berlin, kann sich als ruhiger, behutsamer Moderator auszeichnen und schafft es, in der damals zu eskalieren drohenden Sicherheitsdiskussion zu vermitteln und die Wogen zu glätten.
"Ein typischer Rettig"
Rettig muss auch das Dauerthema Torlinientechnik bewältigen – und äußert dazu auch noch Kritik an der Führungsstruktur im DFB. "Die Entscheidung über den Sportdirektor kann keine exklusive Entscheidung des DFB sein. Da geht es auch um Interessen des Ligaverbands", sagt er 2013 der "FAZ". "Dass die Führung eines so großen Verbandes von einer hauptamtlichen Person geleistet werden kann, da habe ich meine Zweifel." Der damalige DFB-Präsident Wolfgang Niersbach poltert zurück: "Wenn nun ein Mann, der noch kein halbes Jahr bei der DFL angestellt ist, so ziemlich alles und jedes in unserem Verband dazu noch sachlich falsch infrage stellt, ist dies anmaßend und völlig unangebracht."
Konflikte scheut Rettig aber auch in den Folgejahren nach seinem überraschend schnellen Abschied von der DFL 2015 – er sehe seine Zukunft im Vereinsfußball – nicht: Im Gegenteil, er fordert sie. Gerade erst neuer Geschäftsführer bei Zweitligist FC St. Pauli gerät er durch seine Forderung einer veränderten Verteilung der TV-Gelder mit seinem Leverkusener Kollegen Rudi Völler aneinander. "Das ist ein typischer Rettig. Er macht das, was er gerne tut: Er gibt ein bisschen Schweinchen Schlau", ätzt Völler in Richtung seines einstigen Bayer-Weggefährten (mehr dazu lesen Sie hier).
Die Verteilung der TV-Gelder beschäftigt ihn noch weiter. Als er nur ein paar Monate später erneut mit einem Einwurf bei den "Großen" aneckt – Rettig hatte angeregt, künftig die Mitgliederversammlung des Ligaverbandes und nicht mehr den neunköpfigen Vorstand über die Verteilung der TV-Millionen entscheiden zu lassen – spottet der damalige Bayern-Vorstandschef Karl-Heinz Rummenigge: "Der Rudi Völler hat ja einmal gesagt, ein bisschen Schweinchen Schlau sei Andreas Rettig schon immer gewesen. Vielleicht sollte Rettig einfach das Vertrauen aufbringen, das der DFL zusteht."
Er sorgt sich um den Fußball
Rummenigge legt nochmals nach, als sich im Frühjahr 2018 die deutschen Profiklubs mehrheitlich gegen die Abschaffung des 50+1-Prinzips und damit auch gegen Investoren entscheiden. Ein "Ideologe", ein "Zwecknostalgiker" sei Rettig, sein FC St. Pauli überhaupt "ein mäßiger Zweitligist", postuliert der Bayern-Funktionär im "Kicker". Rettigs coole Replik: "Karl-Heinz Rummenigge war ein erstklassiger Stürmer."
Im selben Jahr attackiert er erneut den DFB, fordert im "Kicker": "Wir brauchen neutrale Instanzen und eine Struktur mit professioneller Führung, die glaubwürdig Werte abseits eigener oder parteipolitischer Interessen verkörpern" – und nimmt Niersbachs Nachfolger Reinhard Grindel ins Visier: "Ein CDU-Politiker als DFB-Präsident, dessen Verband die parteinahe Konrad-Adenauer-Stiftung für ein Briefing der Nationalspieler auf die WM 2018 beauftragt: Wäre bei einer SPD-Führung die Friedrich-Ebert-Stiftung zum Zuge gekommen?"
Dass er sich immer mehr um den Sport sorgt, ist offensichtlich. Er befürchte eine "Gentrifizierung der Bundesliga, wie wir sie beispielsweise aus dem Wohnungsmarkt kennen. Weniger gut Verdienende werden verdrängt", sagte er 2022 zu "Neues Deutschland". "Und wenn ich die jüngsten Preisexplosionen bei einem Rechteinhaber sehe, der Streamingdienste erworben hat (die saftige Gebührenanhebung auch für Bestandskunden bei DAZN, Anm. d. Red.), sind das keine guten Vorboten. Der Fußball ist ja auch deswegen als Volkssport so populär, weil nahezu jeder Zugang zu ihm hat."
"Habe diese Meinung nicht exklusiv"
Rettig gefällt sich in der Rolle der Stimme der Vernunft, gegen Übervermarktung und alles, was für traditionsbewusste und moralisch integre Beobachter im Fußball falsch läuft. Seine anhaltende Kritik an der Fußball-WM in Katar und dem Wüstenstaat als Sponsor (unter anderem des FC Bayern) erzürnt Uli Hoeneß, der an einem September-Sonntag 2022 wutentbrannt im Fußball-Talk "Doppelpass" bei Sport1 anruft und den in der Runde sitzenden Rettig wüst attackiert. "König der Scheinheiligen" sei er für den langjährigen Bayern-Macher (mehr dazu lesen Sie hier).
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"Das passiert, wenn ein Katar-Lobbyist auf einen Überzeugungstäter in Sachen Menschenrechte trifft", kontert Rettig später bei "Spox" mit Blick auf das damals noch bestehende Sponsoring des deutschen Rekordmeisters durch Qatar Airways.
Und er macht weiter: Immer wieder erneuert Rettig seine Kritik an der stetig zunehmenden Kommerzialisierung des Fußballs. Vor Partien der Champions League beispielsweise stelle er bei sich "seit Jahren ein nachlassendes emotionales Interesse an den Hochglanzspielen dieser aufgeblasenen Wettbewerbe fest – und denke, dass ich diese Meinung nicht exklusiv habe. Mich nimmt das nicht mehr mit", sagt er dem "Münchner Merkur" im Februar dieses Jahres.
Und mehr noch: "Wenn Gier und Sportswashing der Antrieb sind, bleibt die Fußball-Liebe auf der Strecke." Die WM in Katar habe diese Entwicklung "nur verstärkt. Das mangelnde Interesse, die Tatsache, dass die Leute die emotionale Nähe nicht mehr verspüren, die von Oliver Bierhoff hochbeschworene Lagerfeuer-Romantik nicht greift – das sehe ich immer mehr. Das Lagerfeuer ist erkaltet."
Jetzt kann es Andreas Rettig selbst wieder anfachen.
- transfermarkt.de: Leistungsdaten von Andreas Rettig
- transfermarkt.de: Karrieredaten von Andreas Rettig
- scfreiburg.com: Vereinshistorie
- spiegel.de: Der große Kommunikator
- abendblatt.de: Andreas Rettig schwärmt von seiner Zeit in Freiburg
- Baden Online: Rettig geht zum 1. FC Köln
- suedtribuene: Rettig tritt zurück
- Augsburger Allgemeine: Andreas Rettig verlässt den FC Augsburg
- kicker.de: Niersbach weist Rettigs Kritik zurück
- spox.com: Andreas Rettig nach Wortgefecht mit Uli Hoeneß im Interview