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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Studierende geben Einblick Betrug bei Online-Klausuren – "Wir teilen die Aufgaben auf"
Dank Corona und digitaler Prüfungen ist es verlockend einfach, Lösungen auszutauschen oder Klausuren gemeinsam zu schreiben.
An der Universität Köln steht Onlineunterricht seit Monaten an der Tagesordnung. Im März startet die heiße Prüfungsphase, mehrere Tausend Tests werden digital geschrieben. Lösungen austauschen, Klausuren gemeinsam schreiben – für viele Studierende ist der akademische Betrug verlockend. Unser Autor bekam Einblicke in die ungehemmte Schummelei.
"Bei Aufgabe a) kommt 42 raus", "die Lösung steht unten auf der fünften Folie", "wir teilen die Aufgaben auf" – heißt es in Auszügen aus geheimen Chatgruppen, in denen Studierende gemeinsam eine Klausur an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln absolvierten. Corona-bedingt wurde die Klausur Anfang Februar ins Homeoffice verlegt – ohne Kontrolle.
Keine Anwesenheit, keine Überwacher
Möglich machen es die durch die Corona-Pandemie notwendig gewordenen Onlineprüfungen. Bereits zu Semesterbeginn im Oktober gab die Universität bekannt, mindestens die Hälfte der Prüfungen unter Einhaltung der Hygienemaßnahmen in der Kölner Messe abzuhalten, doch mit den steigenden Zahlen wurden im Rahmen der ersten Prüfungsphase im Januar auch die letzten Tests auf die digitale Form umgestellt.
Statt im Hörsaal mit Sicherheitsabstand und Überwachern sitzen die Studenten im eigenen Wohnzimmer. Mit eigenem Laptop und eigenen Hilfsmitteln. Verschafft ihnen das einen Vorteil? Noch dringt wenig aus dem Prüfungsamt nach draußen – und die Pressestelle bittet um Geduld: "Nach Abschluss der Prüfungsphase" werde man den Effekt überprüfen und auf dieser Basis die Onlineprüfungen optimieren.
Erste Zahlen deuten auf ausgezeichnete Ergebnisse in der Corona-Zeit hin: Im Schwerpunktmodul Soziologie der Sozialwissenschaftlichen Fakultät schafften 72 Prozent der Prüflinge die Klausur mit einer 2,0 oder besser. Nur einer von 109 Angemeldeten fiel durch. Als Zahl von Täuschungsfällen weist die Statistik eine Null aus.
Student warnt Dozenten
Dabei sei der Prüfungsschummel unter Studierenden ein offenes Geheimnis. "Jeder weiß, wie das abläuft", sagt einer. "Es zwingt dich ja keiner, die Klausur auf diese Weise zu absolvieren."
Der einfachste Weg für den Betrug sind gängige Messenger-Apps. In vielen Kursen wurde in den eigenen WhatsApp-Gruppen schnell vorgeschlagen, Lösungen zu teilen. In einer Unterhaltung während der letzten Prüfungsphase schreibt ein Teilnehmer: "Weniger Anstrengung, mehr Ertrag".
Ein Kommilitone sagte t-online dazu: "Ein Student hat den Dozenten während einer Zoom-Sitzung im öffentlichen Chat darauf hingewiesen". Er habe betont, dass er das ganze Semester gelernt hätte und es unfair fände, "wenn faule Studenten eine gute Note geschenkt bekämen".
Anonymität in "Telegram"
Der Dozent habe sich dem Chat nur mit seinen Initialen hinzufügen lassen und so die Kommunikation überwacht. Allerdings hatten sich zu diesem Zeitpunkt schon viele Studenten im Messenger-Dienst "Telegram" organisiert. Der Vorteil der Plattform: die Anonymität und keinerlei Möglichkeit, Kommunikation zu unterbinden oder nachzuverfolgen.
Die Gruppen seien sehr gefragt und professionell strukturiert, wie ein Student bestätigt: "Alle haben sich mit Decknamen registriert, Untergruppen für die Fragen erstellt und die Fragen aufgeteilt." Auch Lösungswege und Umfragen zu den möglichen Ergebnissen seien Teil der Gruppe gewesen, die kurz nach Ende der Klausur gelöscht wurde – "um eventuelle Spuren direkt zu verwischen". Ein Student, der die Klausur mit einem Kommilitonen gemeinsam absolvierte, rechtfertigt sich: "Auch wir leiden darunter, keine Präsenzlehre zu haben".
Die Ergebnisse leiden aber offenbar nicht: Die schlechteste Note unter den bestandenen Klausuren ist eine 3,3. Durchgefallen oder nicht erschienen sind sieben Studenten. Auch hier weist die Zahl der Täuschungsversuche eine 0 aus. Zum Vergleich: Im Sommersemester 2019 sind im selben Modul 17 Studierende durchgefallen – die schlechteste Note unter den bestandenen Klausuren war eine 4,0.
Die Kölner Uni steht mit dem Problem nicht alleine da. Bei den zuständigen Behörden scheint das Problem aber noch nicht angekommen zu sein. Peter-Andre Alt, Präsident der Hochschulrektorenkonferenz sagte dem Magazin "Spiegel" lediglich, dass "in einigen Bundesländern die rechtlichen Rahmenbedingungen zur Durchführung digitaler Prüfungen geschaffen werden".
Universität verweist auf nötige "Transferleistungen"
Professorin Beatrix Busse, Prorektorin Lehre und Studium an der Kölner Universität, sagte auf Anfrage, dass Betrug "auch in analogen Prüfungen wie Klausuren, Essays und Hausarbeiten nie vollständig verhindert werden" könne. Im aktuellen Wintersemester würden fast 80.000 schriftliche Prüfungen online durchgeführt, wobei die Prüferinnen und Prüfer das "konkret praktikable Format" wählen dürften.
Um Betrug zu unterbinden, setze man überwiegend auf offene, individualisierte Prüfungsformate. "Diese erfordern eine Transferleistung, bei der nichts Recherchierbares abgefragt wird." Das stelle die Fairness der Prüfungen sicher. Wer sich bei den Studenten an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät umhört, erfährt: Von der komplexeren Möglichkeit der Individualisierung wird eher selten Gebrauch gemacht.
Auch eine Videoüberwachung per Zoom-Sessions, die die Universität "in einzelnen Fällen" ankündigt, ist aus Datenschutzgründen eine hohe Hürde. In einem Fall wurde kurz vor einer Klausur die bis dato verpflichtende Videoübertragung abgesagt. Der leitende Dozent wollte sich gegenüber t-online nicht äußern – mehreren Studenten zufolge habe er die Entscheidung aber nicht nachvollziehen können.
Die Referentin der Universität Köln, Franziska Eickhoff, verweist zwar darauf, dass die Maßnahmen in einem Kurs "mit über 400 Prüflingen nicht immer möglich" seien. Allerdings müssten die Studenten eine Erklärung unterzeichnen, die Prüfung eigenständig und nur mit erlaubten Hilfsmitteln zu schreiben. So könnten Klausuren in Betrugsfällen als Täuschungsversuch bewertet oder wiederholt werden. Wie oft das vorkommt, wollte das Prüfungsamt mit Verweis auf den Datenschutz nicht mitteilen.
Prüfungsamt untersucht verdächtige Klausur
Nach Informationen von t-online untersucht das Prüfungsamt bereits eine naturwissenschaftliche Klausur aus dem Februar, bei der 22 Studenten einen ähnlichen Wortlaut verwendet haben sollen. Die Universität Köln wollte sich dazu auf Anfrage nicht äußern. Es sei generell möglich, in solchen Fällen die Prüfung neu anzusetzen. Der Nachteil: Auch die ehrlichen Studenten müssten die Klausur dann neu schreiben.
Wären die Abschlüsse am Ende anfechtbar?
"Nein", sagt Dr. Arne-Patrik Heinze, Jurist und Experte für Prüfungsanfechtung. "Die Universität geht davon aus, dass Klausuren gemäß den Anforderungen absolviert werden – die Abschlüsse sind darauf basierend also regelmäßig nicht durch Dritte anfechtbar." Laut Heinze sei eine Anfechtung nur möglich, wenn eine Ungleichbehandlung erfolgt wäre und ein eigenes subjektives Recht für eine Anfechtung besteht.
Andere Hochschulen, andere Konzepte
Dass es auch anders geht, zeigen andere Hochschulen im Rheinland. An der Technischen Hochschule in Köln-Deutz sind alle Prüfungen bis Mitte März ausgesetzt, um möglichst viele Klausuren in Präsenz nachholen zu können. Alternativ wurden Konzepte für mündliche Online-Einzelprüfungen per Video entworfen.
An der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg in Sankt Augustin wird jede Klausur individuell gestaltet. Marco Winzker, Vizepräsident für Studium und Lehre: "Als eine Möglichkeit haben wir eine Software entwickelt, welche die Klausuren für unsere Studierenden randomisiert. Außerdem empfehlen wir, dass Klausuren handschriftlich absolviert und hochgeladen werden". Etwa zwanzig Prozent der Klausuren seien auf individuelle mündliche Prüfungen via Videochat umgestellt worden. "Die Studierenden müssen sich vorher mit ihrem Studierendenausweis identifizieren. Anschließend werden sie von einem Prüfer individuell geprüft". Winzker weiter: "Die Studierenden sind dankbar, dass sie ihr Studium, trotz Corona, wie geplant fortsetzen können."
Die Erkenntnis, ob die digitale Prüfungsphase tatsächlich zu besseren Noten oder geschenkten Punkten führt, bleibt vorerst Uni und Studenten vorbehalten. Prof. Busse von der Uni Köln verweist zumindest darauf, dass man sich die Ergebnisse genau anschauen wolle.
- Eigene Recherche
- Gespräche mit Studierenden der Universität Köln
- Gespräch mit Prof. Beatrix Busse, Prorektorin der Universität Köln und Referentin Franziska Eickhoff
- Einblick in Chat-Verläufe
- Einblick in die Prüfungsauswertung der sozialwissenschaftlichen Fakultät
- "Der Spiegel" Nr. 8 / 20.02.21 S.50
- Website der TH Köln-Deutz
- Anfrage bei der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg
- Gespräch mit Marco Winzker