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30 Jahre Mauerfall: So war das Leben an der deutschen Grenze


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Leben und Wende an der Grenze
"Wir sahen Stacheldraht und dachten: Das muss der Westen sein"


Aktualisiert am 07.11.2019Lesedauer: 6 Min.
Ludger Windolph an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze: Heute ist er Zeitzeuge für ein Museum und berichtet von seinem Leben im innerdeutschen Grenzgebiet.Vergrößern des Bildes
Ludger Windolph an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze: Heute ist er Zeitzeuge für ein Museum und berichtet von seinem Leben im innerdeutschen Grenzgebiet. (Quelle: t-online)

Im Eichsfeld grenzte 40 Jahre lang Demokratie an sozialistische Diktatur. Wie lebte es sich nur einen Spaziergang von der freien Welt entfernt?

Von Worbis im Eichsfeld, dem Heimatort von Ludger Windolph, sind es 2.000 Kilometer bis nach Moskau, 1.500 Kilometer bis nach Kiew und rund 1.600 Kilometer bis nach Sofia; am weitesten entfernt, obwohl eigentlich nur knapp 14 Kilometer weit weg, lag aber Duderstadt in Niedersachsen: "Für uns war der Westen einfach unerreichbar".

An einem regnerischen Tag sitzt der 56-jährige Windolph in einem schicken Neubau direkt an der Bundesstraße 247. Sie verbindet das kleine Thüringer Örtchen Teistungen mit der noch kleineren Ortschaft Geblingerode in Niedersachsen. Im Minutentakt sausen die Pendler vorbei, von Ost nach West und umgekehrt. Es ist ein Anblick, der in der Region jahrzehntelang völlig utopisch war. Windolph blickt aus dem Fenster: Über grünes Feld weiter hinten ragt über einen Hügel ein Waldrand voller Birken und Pappeln hervor. Bis 1989 war dort der Anfang der Bundesrepublik. Dazwischen Zäune mit Stacheldraht, Soldatenbunker, Sprengminen und Autosperren: eine Todeszone.

Heute steht hier ein Museum zur deutsch-deutschen Grenzgeschichte und zugleich eine Begegnungsstätte, in der Windolph Schulklassen und Geschichtsinteressierten vom Leben am äußersten Rand der DDR erzählt.


Als Windolph ein Grundschulkind in den 60er-Jahren ist, wird ihm erstmals klar, dass im sozialistischen Deutschland Entfernungen anders gemessen werden als im Rest der Welt. Ein Wandertag stand an, das Ziel: Ferna, ein Dorf kurz vor der Grenze zur BRD. Doch für die Schulklasse eine andere Welt. Denn ab hier war Sperrzone, Ostdeutsche durften die Region nur mit einem Passierschein betreten. "Die Neugierde war bei uns Kindern riesengroß. Nun sahen wir den Stacheldraht, die Grenzzäune. Wir dachten: Das muss der Westen sein."

Die DDR macht die Grenze dicht

Auf 1.394 Kilometern erstreckt sich zwischen 1946 und 1990 die deutsch-deutsche Grenze. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es sie zunächst nur auf der Landkarte – die Menschen aus den westlichen und östlichen Besetzungszonen betrieben regen Grenzverkehr. "Es war eine grüne Grenze in einer ländlich geprägten Region, Familien besuchten sich über die Grenze hinweg, Kinder gingen über die Besatzungszonen hinweg in ihre Schule, Bauern bestellen Felder, die teils im sowjetischen, teils im britischen Machtbereich lagen", beschreibt Patrick Hoffman diese Zeit. Er ist Historiker, hat sich intensiv mit der deutschen Geschichte beschäftigt und arbeitet im Grenzlandmuseum direkt an der B247.

Das Grenzlandmuseum in Teistungen ist 1995 auf dem ehemaligen Gelände des Grenzübergangs Duderstad/Worbis errichtet worden. 2010 wurde es erweitert und komplett renoviert. Zum Museum gehört eine 300 Meter lange Grenzanlage, die größtenteils noch im Originalzustand erhalten ist. Mehr Infos unter www.grenzlandmuseum.de

Die Zeit der grünen Grenze ist schnell vorbei, denn schon in der Anfangszeit der DDR wird klar: die Menschen gehen langfristig eher in den Westen, statt im Osten zu bleiben. Das will die Regierung unbedingt verhindern, sie macht Jagd auf "Staatsfeinde" und zieht in zwei Schüben eine gigantische Grenzwallkonstruktion hoch, so Hoffmann. 1952 entstehen im Eichsfeld – wie überall an der Demarkationslinie – Stacheldrahtzäune, Hunderte hölzerne Wachtürme, Bunker, Beobachtungsstände und Sicherungsanlagen. Tausende Grenzpolizisten hinderten Menschen daran, unerlaubt in die Bundesrepublik gelangen zu können.


Doch die Fluchtbewegungen reißen nicht ab. Bis zum Ende der DDR werden vier Millionen Ostbürger dem Land den Rücken gekehrt haben. 1961 beginnt der Mauerbau in Berlin, doch auch die innerdeutsche Grenze wird jetzt ein Hochsicherheitstrakt. Schutzzonen und Sperrstreifen werden entlang der Grenze errichtet, Ausgangssperren für Menschen, die nahe der Grenze leben, verhängt, ganze Dörfer dürfen nur noch mit Sondergenehmigung betreten werden.

Auch im Eichsfeld wird das Leben härter: 3.000 Menschen werden zwangsausgewiesen, die Grenzanlagen perfektioniert, Metallgitterzäune ersetzen Stacheldraht, Bodenminen werden verlegt, Splitterminen auf den Zäunen platziert. Die Grenzzäune sind jetzt Selbstschussanlagen. Schon weit vor der eigentlichen Landesgrenze gibt es Wachposten.

"Ein kleiner Spalt im Eisernen Vorhang"

Einer dieser vorgelagerten Posten ist Ferna. Der Ort, den Windolph beim Wandertag für den Westen hält, wird in den 70er-Jahren ein offizieller Grenzübergang. In dieser Zeit ist Entspannungspolitik angesagt, theoretisch könnte ein DDR-Bürger nun in die Bundesrepublik. Praktisch sind das an der Grenzübergangsstelle lediglich 16 am Tag.

Windolph hat Verwandte in Hannover, besuchen wird er sie bis zur Wiedervereinigung nicht. Als er volljährig ist, hätte er einen Ausreiseantrag stellen können. Doch das macht er nicht. "Die Stasi hätte uns durchleuchtet. Das wollte meine Familie nicht. Trotzdem war der Grenzübergang für uns so etwas wie ein kleiner Spalt im riesigen Eisernen Vorgang – selbst wenn man selbst nie die Grenze passiert hat". Und: Um eine Ausreise betteln wollte Windolph nicht.

Doch in ihm arbeitet es in dieser Zeit schwer, er hat Sehnsucht nach der Ferne, die ihm die DDR verwehrt. Den Drang, andere Länder zu erforschen, kann er in seiner Jugend nur mit Comics ausleben. In diesen DDR-Heftchen erleben die "Digedags" Abenteuer in Mexiko, Amerika und der Türkei. Sie nahmen eine ganze Generation eingesperrter Heranwachsender mit auf eine Reise um die Welt.

Heute, mit 56 Jahren, bekommen Windolphs Augen einen besonderen Glanz, wenn er von diesen Erinnerungen spricht. In den 70ern macht er eine Ausbildung in der Datenverarbeitung, heuert beim ortsansässigen Robotron-Kombinat an. Doch für viele läuft es nicht so gut. Die Region gilt als abgehängt, selbst innerhalb der DDR. Dutzende ziehen weg. "Schlimm war nicht, dass wir wenig hatten. Schlimm war für mich, dass ich nicht dahin konnte, wo ich hinwollte. Wir lebten in einem Gefängnis, dass nur in eine Richtung offen war."

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"Wir sahen jeden Tag, wie unüberwindbar die Grenze war"

Immer wieder überlegt er, ob es nicht besser für ihn wäre, aus der DDR zu fliehen. "Doch es waren nur Fantasiegedanken. Wir sahen ja jeden Tag, wie unüberwindbar die Grenze geworden ist." Hunderte Fluchten gab es im Eichsfeld – elf Menschen sterben bis 1989 bei dem Versuch, die DDR hinter sich zu lassen. An der Grenze gilt der Schießbefehl. Der führt zu einem Leben voller Misstrauen. Hunderte Soldaten der Grenzsicherheit arbeiten in der Region. Sie leben in den nahen Dörfern, werden von den ansässigen Menschen gemieden. "Wir Eichsfelder blieben unter uns. Die Kirchen gaben den Menschen Halt. Wir haben uns so unsere Identität bewahrt. Deshalb wollte ich meine Heimat auch nie verlassen."

Windolph wird älter, und die Wende kommt näher. Nicht nur in Leipzig und Berlin wird der Sommer ´89 zu einem Wendepunkt. Kommunalwahlen stehen an. Die Unzufriedenheit in der Bevölkerung mit dem SED-Regime ist riesig. Immer häufiger trauen sich die Menschen, etwas gegen ihre Situation zu sagen. Und etwas zu tun. Bei den Kommunalwahlen entscheidet sich Windolph mit vielen Kollegen, einen ungültigen Wahlzettel abzugeben. Trotzdem gewinnt die Einheitspartei haushoch. Jetzt ist auch dem Letzten klar: Das Regime hat den Bogen überspannt. Es folgen Demos, auch im Eichsfeld. Montags in den großen Städten, dienstags in den kleinen Dörfern in der Region. Windolph ist mittlerweile 27 Jahre alt.

Am Abend des 9. November ist er mit Hunderten anderen auf der Straße seines Heimatortes. "Wenn du wüsstest, was die gerade im TV gebracht haben, wärst du nicht mehr hier", brüllt ihm sein ehemaliger Lehrer ins Ohr. Günter Schabowski, eine Art Regierungssprecher der SED, hatte soeben in einer legendären und live ausgestrahlten Pressekonferenz die sofortige Reisefreiheit für alle DDR-Bürger verkündet – und damit mehr oder weniger das Ende der sozialistischen Diktatur. "Vereinzelt sind Menschen von der Demo weg, um zu schauen, was an dem Gerücht dran ist. Ich selbst bin aber erst nach Mitternacht wieder zu Hause gewesen."

Im Supermarkt ist die Enttäuschung groß

Als sich am Grenzübergang Tausende Trabis stauen, das Lichtermeer noch bis zum frühen Morgen weit über die Grenzverkehrsanlage zu sehen ist, beginnt für Windolph der Tag nach der Wende wie jeder andere. Am Morgen ging er zur Arbeit in den Robotron-Werken – nur niemand war da. Ein Kollege trottete ebenfalls etwas verloren auf dem Gelände umher: "Lass uns den Wagen nehmen und in den Westen", ruft er Windolph zu.

Am Vormittag sind sie in der langen Autoschlange am Grenzübergang. Während der Fahrt merkt Windolph, wie der ganze Ballast der letzten Jahre von ihm abfällt: "Der Diebstahl an Selbstbestimmung hatte endlich ein Ende". Er erreicht Duderstadt, sie brauchen lange, bis sie einen Parkplatz finden. In der ganzen Stadt sind die Ostdeutschen los. Dann geht es ab in den Supermarkt.

Und die Enttäuschung ist groß. Längst sind die Regale leergekauft. "So groß ist der Unterschied zum Osten dann doch nicht, habe ich da gewitzelt", erinnert sich Windolph. Sein Weg führt ihn stattdessen in eine Buchhandlung. Er kauft zwei Bücher, ein westdeutsches Werk über die Geschichte der Technik – einfach, weil er es, anders als in der DDR, ohne Angst zu haben tun kann.

Es sind Momente der vollkommenen Glückseligkeit, nach Jahren der Gefangenschaft. Die neue Freiheit bedeutete für Windolph nun erst einmal Reisen, das nachholen, was ihm verwehrt geblieben war. Kaum ist die Grenze weg, fährt er nach Hamburg, nach Paris, und ist endlich bei der Verwandtschaft in Hannover zu Besuch.


Auch nach Mexiko verschlägt es Windolph, er hat seine "Digedags" und ihr Abenteuer bei den Mayas im Gepäck. Er geht zu den Pyramiden. Windolph steht vor dem großen Steinpalast und vergleicht sie mit den Abbildungen auf den Comic-Seiten. Was er nur auf Papier kannte, erlebt er nun in der Wirklichkeit. "Da war mir endgültig klar: Niemand kann uns diese Freiheit noch einmal wegnehmen."

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche
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