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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Friedliche Revolution 1989 Als sich eine Kleinstadt in Sachsen gegen die SED erhob
Die Friedliche Revolution 1989 ging nicht nur von Berlin und Leipzig aus. Auch in einer Kleinstadt in Sachsen, in Oschatz, gingen Menschen für Freiheit und Mitbestimmung auf die Straße. 30 Jahre später fühlen sie noch immer die Euphorie jener Tage, die alles veränderten.
"Der Zorn im Volke ist groß. Wenn er sich entlädt, wird es schlimm. Ich bitte daher um friedliche Verhaltensweisen, um Gewaltlosigkeit auf allen Ebenen. Gewaltlosigkeit ist etwas anderes als Machtlosigkeit. Die bisher Ohnmächtigen besinnen sich auf ihre Macht. Aber sie gebrauchen diese Macht gewaltlos. Ich bitte sie alle, ihr zorniges Herz in die Hand zu nehmen und dort festzuhalten."
1989 – es war das Jahr, in dem ein selbst ernannter Staat der Arbeiter und Bauern unter dem Protest seiner Bewohner zusammenbrach. Der Staat, die Deutsche Demokratische Republik, die dem aus ihrem Namen abgeleiteten Anspruch nie gerecht wurde, war morsch. Politisch verkrustet, wirtschaftlich im Niedergang, ökologisch vor dem Kollaps. Sein mit harter Hand klein gehaltenes Volk fand nun seine Stimme wieder und eroberte sich den politischen Raum zurück – Woche für Woche lauter, entschlossener, unüberhörbarer.
Der Ruf der Zehntausenden, die durch Leipzig liefen, die sich in Dresden der Polizei entgegenstellten, und die in Berlin gejagt und eingesperrt wurden, erschütterten und veränderten dieses Land und besiegelten schließlich seinen Untergang. Doch die Wende ging in jenen Tagen nicht nur von den Zentren aus. Auch in der Provinz der DDR kam damals ein Prozess ins Rollen, an dessen Ende nichts mehr so bleiben sollte, wie es vorher war – und der doch bis heute kaum Beachtung fand.
Die Wende 1989 – das ist ebenso die Geschichte von Sondershausen, Bischofswerda oder Neubrandenburg. Es ist auch die Geschichte von Oschatz, einer Kleinstadt von kaum 20.000 Einwohnern, auf halbem Wege zwischen Leipzig und Dresden gelegen. Und es ist die Geschichte von mutigen Bürgern wie der Lehrerin Gabriele Neubert und dem Kirchenmann Martin Kupke, von dem die Eingangsworte stammen. In Oschatz tragen sie den Protest in die Öffentlichkeit und eröffnen dem Unmut im Volk ein Forum.
Immer mehr Bürger wollen raus
Schon zu Beginn des Jahres sind die Risse im Machtapparat der DDR unübersehbar. In Leipzig demonstrieren im Januar rund 500 Menschen für Versammlungsfreiheit und Reformen. Zeitgleich steigt die Zahl der Übersiedler in die BRD rasant. Immer häufiger flüchten DDR-Bürger in die Vertretungen der Bundesrepublik. Die DDR-Führung lockert die Reiseregeln etwas. Doch das Problem bekommt sie nicht in den Griff.
Am 2. Mai beginnt Ungarn mit dem Abbau seiner elektronischen Grenzsperren zu Österreich. Der Staats- und Parteichef der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, stellt sich nicht quer. Der Eiserne Vorhang beginnt sich zu heben. Tausende DDR-Bürger nutzen die Chance und nehmen im Lauf des Sommers den Weg über Ungarns grüne Grenze gen Westen.
Bei den Kommunalwahlen in der DDR im Mai machen Bürgerrechtler erstmals weithin hörbar Wahlbetrug öffentlich. Der Unmut im Volk wächst. Gleichzeitig gerät die DDR auch wirtschaftlich immer stärker in Schieflage. Die Westverschuldung wächst so rasant, dass binnen zwei Jahren die staatliche Insolvenz droht. Den wachsenden Unmut im Volk versucht die Staatsführung immer noch mit harter Hand zu unterdrücken, wie beim Straßenmusikfestival in Leipzig im Juni. Doch die Versuche der Einschüchterung fruchten nicht mehr. Die Kirchen, die zum Hort der Reformwilligen in diesen Tagen werden, füllen sich von Woche zu Woche mehr. Der Protest auf der Straße wird lauter.
In Oschatz gründet sich das "Neue Forum"
Am 10. September veröffentlichen 30 namhafte Bürgerrechtler wie Bärbel Bohley und Jens Reich den Aufruf zur Gründung des "Neuen Forums". Die Bürgerbewegung hat nun auch außerhalb der Kirchen eine landesweite politische Plattform. In Oschatz gehört Gabriele Neubert zu den Ersten, die sich dem Aufruf anschließen. Sie erinnert sich:
"Irgendwann im September 1989 kam ein Bekannter zu uns und sagte, er habe ein sehr großes Anliegen: 'Wir gründen in Oschatz das Neue Forum und brauchen natürlich Mitglieder. Macht ihr mit?' Natürlich wussten wir, was damals in Leipzig los war. Über Mund-zu-Mund-Propaganda. Mein Mann und ich entschieden uns dann: Wir machen mit, aber nur einer von uns beiden. Wir hatten zwei Kinder, die beide kurz vor dem Schulabschluss standen. Wenn das schief geht, können wir nicht beide ins Gefängnis gehen. Und dann hab ich gesagt, ich mach mit."
Die Gruppe um Neubert verabredet sich zu konspirativen Treffen. Im Hinterzimmer einer Gaststätte in Lonnewitz, wenige Kilometer von Oschatz entfernt, entwerfen sie Flugblätter mit politischen Forderungen. "Ich schrieb was zur Bildung, andere was zur Wirtschaft oder zum Gesundheitswesen. Ich forderte zum Beispiel, dass es mehr Vielfalt in der Schule geben soll, dass es weniger Doktrinen gibt. Unser Schulsystem war ja nicht prinzipiell schlecht. Aber es gab so ein paar starre Dinge, von denen keiner abweichen wollte."
Gegen die Unbeweglichkeit des Systems hatte sich Neubert schon lange zur Wehr gesetzt. Schon früh nach ihrem Studium fing sie an, die politischen Verhältnisse zu hinterfragen. Dass sie sich privat kritisch über den Staat äußert, bleibt dem Spitzelapparat nicht verborgen. Er nimmt die junge Lehrerin in die Mangel, worauf Neubert mit dem Austritt aus der Partei reagiert. Für die Kreisleitung ist sie fortan eine Aussätzige.
Angst vor der "chinesischen Lösung"
Im September 1989 finden in Leipzig die ersten Montagsdemonstrationen statt. Angangs halten sich die Sicherheitskräfte noch zurück. Doch am 11. und 18. September kesseln sie die Demonstranten ein und nehmen Dutzende von ihnen fest. Als Kirchenmann ist Martin Kupke die harte Hand des SED-Staates vertraut. Er kennt die Drangsalierungen und Schikanen, denen ein "Klassenfeind" wie er ausgesetzt ist. Er hat sie jahrzehntelang erlebt.
Doch diesmal befürchtet der Oschatzer Superintendent Schlimmeres. Anfang Juni hatte die chinesische Staatsführung die Studentenproteste in Peking niederschießen lassen. Mehr als 2.000 Menschen wurden dabei getötet. Kupke treibt die Sorge um, dass auch die DDR-Führung zur "chinesischen Lösung" greifen könnte.
"In der Bevölkerung wuchs die Unruhe und die Angst davor, es könnte umkippen wie auf dem 'Platz des Himmlischen Friedens' in Peking", sagt Kupke. "Und da entstand der Wunsch nach Friedensgebeten in der Kirche." Anfang Oktober finden die ersten dieser Andachten in Oschatz statt. Zunächst sind es rund zwei bis drei Dutzend Gemeindemitglieder, die sich im Altarraum der Aegidienkirche versammeln. Woche für Woche wird ihre Zahl wachsen.
Auch Neubert kann sich an diese Angst in jenen Tagen erinnern:
"In den Oktoberferien mussten die Männer aus unserer Schule zur Reservistenausbildung. Damals war die Situation ja schon angespannt. In Leipzig bangte man: Schießen sie oder schießen sie nicht? Sie zwangen die Männer zu unterschreiben, dass sie mit der Waffe in der Hand auf die Demonstranten schießen. Mein Mann, der auch Lehrer war, traute sich gar nicht, davon zu erzählen, weil er sich so geschämt hatte. Er und seine Kollegen hatten die ganze Zeit überlegt: Unterschreiben wir oder unterschreiben wir nicht? Sie sagten dann: Verdammt, wir unterschreiben, schießen werden wir sowieso nicht. Die standen unter einem enormen psychischen Druck."
Gorbatschows mahnende Worte
Rund um den letzten Jahrestag der DDR-Gründung tritt die Friedliche Revolution in eine neue Phase ein. Am Nachmittag des 7. Oktober ziehen Tausende Demonstranten in Berlin zum Palast der Republik, wo die Staatsführung mit internationalen Gästen den Republikgeburtstag begeht, unter ihnen Gorbatschow. Der sowjetische Präsident macht den DDR-Oberen in Gesprächen an diesem Tag deutlich, dass es keinen anderen Weg als den der Reformen gibt. "Wenn wir zurückbleiben, bestraft uns das Leben sofort", sagt Gorbatschow.
Andernorts in der DDR, in Plauen im damaligen Bezirk Karl-Marx-Stadt, heute Teil von Sachsen, gerät die Lage fast außer Kontrolle. Die offenbar überforderte Parteileitung schickt gegen einen Aufmarsch Tausender friedlicher Demonstranten die Feuerwehr los, die mit Wasserkanonen in die Menge hält. Steine fliegen. Doch die große Eskalation bleibt wie durch ein Wunder aus. In Berlin hingegen endet der 7. Oktober mit brutaler Gewalt. Bis in die Nacht hinein jagen Polizei und Stasi Demonstranten durch die Straßen, knüppeln sie nieder, nehmen mehr als 1.000 von ihnen fest.
"Keine Gewalt!"
Es hätte der Punkt sein können, an dem der bis hierher gewaltfreie Protest ins Kippen gerät. Doch die Bewegung bleibt friedlich. 70.000 demonstrieren am 9. Oktober in Leipzig. "Keine Gewalt!" ist eine ihrer zentralen Losungen. Auch in Oschatz kommen nun mehr und mehr Menschen zusammen, um für einen friedlichen Ausgang der Proteste zu beten. Es ist Ende Oktober, die Gemeinde hat sich in den Räumen der Klosterkirche versammelt. Die Friedensgebete werden politischer. Kupke ergreift das Wort:
"Dieser Staat macht krank. Viele haben deshalb das Land verlassen. Wir sind heute hier, um nach den Möglichkeiten des Gesundwerdens zu fragen und Gott um neue Wege zu bitten. Die Menschen fluten in diesen Tagen unter die Dächer der Kirchen, weil ihnen andere Dächer verweigert werden. So sind die Kirchen zum Forum für das Volk geworden. Ein Volk wacht auf. Bisher hat das Volk nicht laut gesprochen, es wurde daran gehindert. Jetzt erhebt es seine Stimme und geht auf die Straße."
Nach der Friedensandacht trägt Kupke eine Liste mit politischen Forderungen vor, die er zuvor formuliert hat. Der erste Punkt lautet: "In allen Bereichen unseres Lebens muss es erlebbar werden, dass jeder Mensch eine Würde hat. Diese Würde darf nicht mehr mit Füßen getreten werden." Weitere Forderungen sind unter anderem: ein Volksentscheid über die Zukunft des Landes, eine parlamentarische Demokratie mit einem Mehrparteiensystem sowie freie Wahlen.
Eine Woche später drängen bereits 800 Menschen in die Aegidienkirche, die Fragen haben, die Antworten wollen, oder die einfach nur Zuhören möchten. Kupke liest einen Bericht über Misshandlungen von Demonstranten in Dresden vor. Es wird über die angespannte Lage im Gesundheitswesen der DDR gesprochen, über Schulpolitik, aber auch darüber, was Sozialismus eigentlich bedeutet. Nach der Veranstaltung macht sich die Menge zur ersten Demonstration durch Oschatz auf. Neubert erinnert sich: "Die Stimmung war super, richtig euphorisch, wie in Leipzig. Wir riefen Parolen wie 'Wir sind das Volk' oder 'Stasi in die Produktion'. Man hat sich umarmt beim Laufen."
Kein Zurück mehr
Vier Tage später, am 4. November, erlebt die Oppositionsbewegung ihren Höhepunkt. Fast eine Million Menschen versammeln sich in Berlin auf dem Alexanderplatz zur größten Demonstration in der deutschen Geschichte. In Oschatz kommen Vertreter von Staat und Kirche zu einem Gespräch zusammen. Die Staatsseite verspricht, sich dem Dialog mit den Bürgern zu stellen.
Schon bald bekommt sie die Gelegenheit dazu. Kupke hat die Vertreter von Kreis- und Parteileitung für den 6. November zum Bürgergespräch in die Aegidienkirche eingeladen. Das Interesse in der Bevölkerung ist riesig. 4.000 Menschen wollen an jenem Abend in die Kirche. Doch längst nicht alle passen hinein. Irgendwann müssen wegen Überfüllung die Türen geschlossen werden. 2.000 Menschen bleiben vor der Kirche im Nieselregen stehen. Doch Kupke hat vorgesorgt. Lautsprecher übertragen die Versammlung auf den Marktplatz.
Nahezu alle Eingeladenen sind gekommen: Der Vorsitzende des Rates des Kreises, der Stellvertreter des Vorsitzenden für Inneres, der Bürgermeister, die Kreisschulrätin, der Kreisarzt und so weiter. Nur zwei bleiben fern: der erste Sekretär der SED-Kreisleitung, quasi der mächtigste Mann im Kreis Oschatz, und der Vertreter der Staatssicherheit. Die Gäste nehmen an Tischen mit Mikrofonen im Altarraum platz, vor ihnen 2.000 Oschatzer Bürger. Die Stimmung ist angespannt.
Kupke mahnt die Anwesenden:
"Der Zorn im Volke ist groß. Wenn er sich entlädt, wird es schlimm. Ich bitte daher um friedliche Verhaltensweisen, um Gewaltlosigkeit auf allen Ebenen. Gewaltlosigkeit ist etwas anderes als Machtlosigkeit. Die bisher Ohnmächtigen besinnen sich auf ihre Macht. Aber sie gebrauchen diese Macht gewaltlos. Ich bitte sie alle, ihr zorniges Herz in die Hand zu nehmen und dort festzuhalten."
Die Staatsvertreter versuchen die aufbrachte Menge zu besänftigen. Der Chef des Kreisrates verspricht: "Wir werden dafür sorgen, dass die gesellschaftliche Erneuerung herbeigeführt und dann auch nachprüfbar sein wird. Die begonnene Wende soll unumkehrbar sein."
Die Mächtigen haben ihre Macht verloren
Doch unter den Bürgern herrscht Misstrauen. Sie zweifeln den plötzlichen Sinneswandel der Mächtigen an, die reflexhaften Versprechen von Veränderung. Ein Mann aus Mahlis, zehn Kilometer westlich von Oschatz, meldet sich zu Wort: "Ich bin Christ und vom Neuen Forum. Bisher hatte ich kein Vertrauen zum Staat. Für engagierte Christen war das Leben in der DDR hart. Nun staune ich, wie aalglatt und wendig die Partei plötzlich ist. Ganz schnell übernimmt sie Programme, die in der Illegalität entstanden sind."
Ein Mann aus Mügeln, südwestlich von Oschatz, sagt: "Warum leben wir heute noch wie die Leibeigenen hinter Mauer und Stacheldraht? Gefangene arbeiten immer schlecht. Ich lehne jede Diktatur ab. Sie aber hat eins erreicht: Unsere Kirche ist wieder voll."
Die Staatsvertreter wiegeln ab und schieben die Verantwortung auf die SED-Führung in Berlin. Die Kirche aber brodelt jetzt. Nach Redebeiträgen der Staatsvertreter ertönen immer wieder Zwischenrufe: "Absetzen! Absetzen!" Kupke erinnert sich:
"Die Stimmung kann man gar nicht beschreiben. Da lag Dynamit in der Luft. Da saßen im Altarraum die bisherigen Machthaber, ich in der Mitte, neben mir mein Assistent. Und die 2.000 Menschen in der Kirche kochten, es war, als würde das Haus gleich in die Luft gehen. Die Emotionen, die Zwischenrufe. Die Genossen hatten das große Zittern und die anderen dachten sich, jetzt haben wir sie endlich. Ich war der Dompteur, ich musste die Massen bändigen, weil wir ein Gespräch führen und keine Revolution machen wollten. Und das ist mir auch gelungen."
Kupke sagt, es war der Abend, nach dem es kein Zurück mehr gab. Die Machthaber hätten in diesem Moment begriffen, dass sie die Macht nicht mehr haben. Und die Machtlosen hätten begriffen, dass die Macht jetzt ihnen gehört. In den kommenden Tagen überschlagen sich die Ereignisse in der DDR. Am 7. und 8. November bricht die Regierung zusammen. Erst tritt der Ministerrat geschlossen zurück, tags darauf das Politbüro. Am 9. November fällt die Mauer.
Die neue Zeit beginnt
Das Schicksal des SED-Staates ist damit besiegelt. In Oschatz nehmen die Bürger das Heft des Handelns nun selbst in die Hand. Zu den regelmäßigen Treffen des Runden Tisches, die Kupke organisiert, kommen Vertreter der Kirchen, der Parteien und politischer Gruppen zusammen. Es werden konkrete Probleme im Landkreis besprochen und Lösungen gesucht. "Am Runden Tisch ging es offen und ehrlich zu und auch konstruktiv", sagt Kupke. "Alle haben ihre Ideen eingebracht. Wir haben damals zum Beispiel erreicht, dass das Gebäude der Stasi, nachdem die raus war, als Behinderteneinrichtung genutzt wurde. Das konnten wir nicht beschließen, aber die Stadtverordneten übernahmen unseren Beschluss."
Nach der Volkskammerwahl im März 1990 zieht sich der Superintendent aus der politischen Arbeit zurück. Kupke sagt, er habe sich als Geburtshelfer einer neuen Zeit gefühlt. Aber für ihn sei von vornherein klar gewesen: Wenn das Kindlein geboren sei, werde er sich wieder auf seine eigentlichen kirchlichen Aufgaben konzentrieren. "Ich war Kirchenmann, das andere war nicht mein Ding."
Gabriele Neubert hingegen bleibt zunächst in der Politik. Sie lässt sich in den Kreistag wählen und wird Dezernentin für Sport, Bildung und Kultur. Der Job aber gefällt ihr nicht. Sie will lieber wieder Lehrerin sein und geht als Direktorin an die Erweiterte Oberschule, die 1992 zum Gymnasium wird.
Euphorie weicht Frust
Für viele Menschen beginnt nach der Wende die Zeit der Enttäuschungen. Auch in Oschatz müssen Betriebe schließen, verlieren Menschen ihre Arbeit, ihr soziales und kulturelles Umfeld. Die Stadt büßt rund ein Viertel ihrer Einwohner ein. Die Euphorie der Friedlichen Revolution weicht dem Frust.
Gabriele Neubert ist trotzdem geblieben. Obwohl sie schon längst im Rentenalter ist – sie ist heute 72 –, kann sie vom Lehrerberuf nicht lassen. An der Volkshochschule unterrichtet sie Englisch für Erwachsene. Sie sagt, dass bei einigen Menschen die Enttäuschung heute tiefer sitzt als die Freude über die Wende. Sie aber hat sich ihre Euphorie bewahrt:
"Das war so ein tolles Erlebnis, dass die Menschen gewaltfrei auf die Straße gingen. Nur Euphorie und Freude und 'Wir wollen'. Wenn jemand mit mir darüber diskutiert, dem sage ich: Verkauft euren Kühlschrank, euer Auto, vergesst eure Reisen. Vergleicht, was ihr gewonnen und was ihr verloren habt und überlegt, warum ihr immer noch meckert. Es gibt auf der Welt keine Gesellschaftsform, an der es nichts zu kritisieren gäbe. Der Mensch ist doch auch voller Widersprüche. Wie soll der denn eine Gesellschaft frei von Widersprüchen aufbauen?"
Martin Kupke hat Oschatz in den späten 90er-Jahren verlassen und lebt heute in der Sächsischen Schweiz. In der Kirchenarbeit ist der 82-Jährige noch immer aktiv. Er hat zwei Bücher über die Wende in Oschatz geschrieben und zwei über die Stasi in Oschatz und in Meißen. Die Ereignisse von 1989/90 sind für Kupke ein Wunder, das jedoch nicht die Würdigung und Dankbarkeit erfährt, die es verdient hätte.
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"Dass auf friedliche Weise ein waffenstarrendes System gestürzt wurde, das ist für mich bis heute ein Wunder. Aber das Wort Wunder ist kein Wort unserer Sprache mehr. Wort und Sache sind aus unserem Bewusstsein verschwunden. Die meisten Menschen neigen mehr zum Meckern als zum Loben und zum Freuen. Ihnen ist es nicht bewusst, aber wir leben von dem Erbe, von der Freiheit, die wir damals erkämpft haben. Und die prägt unser ganzes Leben."
- Interviews mit Gabriele Neubert und Martin Kupke
- Martin Kupke: "Die Wende in Oschatz", Auszüge
- Bundesregierung: Chronik der Friedlichen Revolution
- Eigene Recherchen