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Ende des Ersten Weltkriegs: "Niemand wollte mehr sinnlos sterben"


Ende des Ersten Weltkriegs
"Niemand wollte mehr sinnlos sterben"

InterviewVon Marc von Lüpke

Aktualisiert am 11.11.2018Lesedauer: 9 Min.
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Soldaten während der Schlacht an der Somme 1916: Der massiven Einsatz von Maschinengewehren und chemischen Kampfstoffen kostete im Ersten Weltkrieg unzählige Menschenleben.Vergrößern des Bildes
Soldaten während der Schlacht an der Somme 1916: Der massive Einsatz von Maschinengewehren und chemischen Kampfstoffen kostete im Ersten Weltkrieg unzählige Menschenleben. (Quelle: United Archives/imago-images-bilder)

Millionen Soldaten waren gefallen, dann schwiegen am 11. November 1918 die Waffen. Der Historiker Gerhard Hirschfeld erklärt, warum das Kriegsende überraschend kam. Selbst für die Sieger.

In Paris, London und Washington feierten die Menschen, Deutschland hingegen stand am 11. November 1918 unter Schock. In einem Eisenbahnwaggon nahe des französischen Orts Compiègne unterzeichnete an diesem Tag die deutsche Delegation den Waffenstillstand mit den Alliierten – der Erste Weltkrieg war faktisch zu Ende. Nur hatte niemand die Deutschen darauf vorbereitet: Die Propaganda berichtete immer noch von Siegen, obwohl der Krieg längst für das Deutsche Reich verloren war. Im Gespräch erklärt der Historiker Gerhard Hirschfeld, warum die Kämpfe nicht viel früher endeten. Und welche Hypothek der jungen deutschen Demokratie durch die von den Militärs gesponnene Dolchstoßlegende auferlegt wurde.

Professor Hirschfeld, selbst Kaiser Wilhelm II. sah den Ersten Weltkrieg bereits im August 1918 mehr oder wenig als verloren an. Warum ging das Kämpfen und Töten bis zum 11. November weiter?

Gerhard Hirschfeld: Wilhelm II. war sehr bewusst, dass der Krieg für Deutschland überaus schlecht lief. Am 12. August 1918 räumte der Kaiser bei einer Besprechung in seinem Hauptquartier im belgischen Spa ein, dass man nun einen Weg suchen müsse, "um zum Schluss zu kommen". Allerdings bestanden sowohl die militärische als auch die politische Führung weiterhin auf einem "ehrenhaften Frieden". Keiner der Verantwortlichen wollte das Gesicht verlieren.

Im März 1918 hatte die deutsche 3. Oberste Heeresleitung unter Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff mit ihrer großen Frühjahrsoffensive den wortwörtlichen Befreiungsschlag im Westen versucht. Und war gescheitert. Wann wurde den Generälen klar, dass der Krieg nicht mehr für sie zu gewinnen war?

Es gab nicht den einen Tag, der den Anfang vom Ende einläutete. Die deutschen Armeen verzeichneten ja auch tatsächlich noch kleinere Erfolgsgeschichten. An einer Stelle wurde ein gelungener Vorstoß durchgeführt, an einer anderen Stelle ohne große Verluste eine Frontbegradigung vorgenommen. Aber spätestens der 8. August 1918 war ein Ereignis, das die deutsche militärische Führung zutiefst erschütterte.

General Erich Ludendorff bezeichnete den 8. August 1918 später als "schwarzen Tag des deutschen Heeres". Was genau ist passiert?

In der Schlacht von Amiens-Montdidier in Nordfrankreich durchstießen Briten und Franzosen an diesem "schwarzen Tag" mit mehr als 500 Panzern bei vollkommener Luftüberlegenheit die deutschen Linien. Für die Deutschen war der große Erfolg ihrer Gegner ein völliger Schock. Fast noch schlimmer wog allerdings ein anderer Faktor: Von den etwa 48.000 Mann, die die Deutschen in der Schlacht verloren hatten, waren exakt 29.783 mehr oder minder freiwillig in alliierte Gefangenschaft gegangen.

Ein sehr auffälliger Wert.

Richtig. Auch die Alliierten waren völlig überrascht von der hohen Zahl an Gefangenen. Das Kriegstagebuch der britischen 4. Armee verzeichnete geradezu staunend, dass sich viele dieser Männer "ohne einen ernsthaften Kampf" ergeben hätten. Der britische Respekt vor den deutschen Soldaten war nachhaltig infrage gestellt.

Prof. Dr. Gerhard Hirschfeld ist Experte für die Geschichte des Ersten Weltkriegs. Bis zu seiner Emeritierung lehrte er an der Universität Stuttgart und war zugleich Direktor der Bibliothek für Zeitgeschichte. Sein neuestes Buch trägt den Titel "1918. Die Deutschen zwischen Weltkrieg und Revolution" (zusammen mit Gerd Krumeich und Irina Renz).

Um die Kampfmoral im deutschen Heer war es also schlecht bestellt.

Die hohe Zahl der Gefangenen ist sicher ein Indikator für den moralischen Zustand der Truppe. Sie müssen bedenken, dass der Krieg damals seit vier Jahren andauerte. Und immer noch war kein Ende absehbar. Viele Soldaten stellten sich mittlerweile Fragen wie: Was ist der Sinn dieses Krieges? Warum kämpfen wir hier? Kurz gesagt: Die Soldaten sahen in einem weiteren Kämpfen und Sterben keinen Sinn mehr. Das kommt in zahlreichen Feldpostbriefen und Tagebüchern aus dieser Zeit zum Ausdruck.

Tatsächlich war der Gang in feindliche Gefangenschaft nicht der einzige Weg, sich den Kämpfen zu entziehen.

Es gab auch das Phänomen der "abwesenden" Soldaten. Das ist ganz wörtlich zu verstehen: Diese Männer wurden von den Offizieren in ihren Listen als "abwesend" geführt, nicht als Überläufer oder Deserteure. Es handelte sich um Soldaten, die irgendwo zwischen Heimaturlaub, Lazarettaufenthalt und Front schlicht verschwanden. Und es waren nicht wenige. 340.000 "Abwesende" sind allein zwischen dem 15. Juli und dem 30. September verbürgt, Schätzungen gehen aber sogar von mehr als 700.000 Mann aus.

Wie kann eine solche Anzahl an Soldaten verschwinden?

Allein das Heer im Westen zählte im Frühjahr rund fünf Millionen Mann. Stellen Sie sich die Armee als einen riesigen Verschiebebahnhof vor, da gab es immer wieder Möglichkeiten sich aus dem Staub zu machen.

War es allein die Kriegsmüdigkeit, die die Soldaten demotivierte? Oder gab es auch andere Faktoren?

Die Lage in der Heimat spielte eine wichtige Rolle. Zurückkehrende Fronturlauber oder auch neue Rekruten berichteten ihren Kameraden natürlich, was sie daheim erlebt hatten. Und das war oft genug katastrophal. Die Versorgungslage war miserabel, die Familienstrukturen standen in vielen Fällen vor dem Zusammenbruch, die Beschaffungskriminalität unter Jugendlichen stieg. Eine Statistik für Köln zeigt, dass im letzten Kriegsjahr nur noch jeder zweite Schüler überhaupt den Unterricht besuchte.

Bemerkenswert ist allerdings, dass sich die deutschen Soldaten nur individuell verweigerten. In der französischen Armee kam es im Frühjahr 1917 zu Meutereien.

Das ist richtig. Unter den deutschen Soldaten gab es keine offenen Meutereien oder gar Aufstände. Stattdessen traf jeder Soldat individuell die Entscheidung, ob er sich von seiner Einheit "verabschiedete", wie es der britische Historiker David Stevenson formuliert hat. Ganz anders sah es 1917 im russischen Heer oder 1918 in den Armeen des Vielvölkerstaats Österreich-Ungarn aus.

Tatsächlich muss es um das deutsche Heer schlimm bestellt gewesen sein. Es wütete auch noch die Spanische Grippe.

Es klingt bizarr, aber das deutsche Heer funktionierte auch weiterhin. Es existierte zwar das Phänomen der "abwesenden" Soldaten, zudem herrschte die Spanische Grippe, eine ungemein gefährliche Pandemie, die im Sommer 1918 zu monatlichen Ausfällen von etwa 200.000 Soldaten führte. Manche Regimenter bestanden zeitweise nur noch aus einigen Dutzend kampffähiger Männer. Aber das Heer als Institution funktionierte tatsächlich bis zur Revolution am 9. November 1918. Und auch noch darüber hinaus.

Für einen Sieg reichte es trotzdem nicht mehr. Was war das Ziel der deutschen Führung?

Sie wollte bei einem Friedensschluss möglichst gute Bedingungen für Deutschland herausschlagen. Tatsächlich schien die Verhandlungsposition anfangs auch gar nicht schlecht. Die deutschen Truppen standen noch tief im Norden Frankreichs und sie hielten Belgien besetzt. Im Osten befanden sich zudem noch eine halbe Million Soldaten und diese kontrollierten weiterhin riesige Gebiete. Diese Faktoren gedachte man als Pfand an den Verhandlungstisch mitzubringen. Und möglichst viel davon zu behalten.

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Waren die Deutschen zu borniert, um zu erkennen, dass sie verloren hatten? Die Propaganda faselte immer noch vom Siegfrieden, während ihre Verbündeten den Ernst der Lage längst erkannt hatten.

Ende September 1918 ging der bisherige Bündnispartner Bulgarien zu den Alliierten über. Damit tat sich potenziell eine neue Front auf, die die Deutschen auf keinen Fall hätten stopfen können, denn sie verfügten auf dem Balkan über keine Divisionen mehr. Der österreichisch-ungarische Kaiser Karl I. hatte schon am 14. September die Entente um Frieden ersucht. Dies geschah ohne Rücksprache mit Berlin. Damit war das Bündnis der Mittelmächte faktisch zerbrochen. Auch der Kollaps des verbündeten Osmanischen Reichs, das ebenfalls gewaltige Verluste erlitten hat, war nur noch eine Frage der Zeit.

Am 29. September 1918 gestand dann selbst General Ludendorff ein, dass der Krieg für Deutschland verloren war. Was geschah dann?

Hindenburg und Ludendorff, die als 3. Oberste Heeresleitung seit 1916 nahezu diktatorische Macht in Deutschland ausgeübt hatten, verlangten nun von der Reichsregierung die Aufnahme von Verhandlungen mit den Alliierten, um einen Waffenstillstand zu erreichen. Die Militärs achteten peinlich darauf, dass nunmehr die Politiker die Verantwortung für die desolate Lage trugen. Dabei war völlig klar und ich muss dies noch einmal betonen: Hindenburg und Ludendorff selbst hatten die Sache versemmelt.

Niemand war von dem deutschen Angebot zu Verhandlungen so überrascht wie die Kriegsgegner.

In der Tat. Die Franzosen rechneten erst für 1919 mit einer deutschen Niederlage, der britische Oberkommandierende Douglas Haig sogar erst 1920.

Bis es zum Waffenstillstand kam, sollte sich die politische Situation in Deutschland noch völlig verändern.

Die Admirale der deutschen Hochseeflotte erteilten Ende Oktober 1918 noch den Befehl zum Auslaufen. Die kaiserliche Flotte sollte in einer letzten großen Seeschlacht quasi "ruhmreich" untergehen. Die Matrosen hatten allerdings kein Interesse an einem heroischen Untergang und Tod. Erst kam es in Wilhelmshaven, dann in Kiel zu Meutereien und öffentlichen Unruhen. In immer mehr Städten bildeten sich sogenannte Räte aus Matrosen, Soldaten und Arbeitern. Von Norddeutschland aus griff die Revolution schließlich auf das ganze Reich über. Am 7. November wurde in München der "Freistaat" Bayern und am 9. November in Berlin die Deutsche Republik ausgerufen.

Was der Kaiser nicht hinnehmen wollte.

Wilhelm II. hatte zunächst die Eingebung, an der Spitze seiner Fronttruppen nach Berlin zu marschieren, um dort die Revolution niederzuschlagen.

Was aber nicht geschah.

Die Oberste Heeresleitung hatte eilig eine Umfrage unter 38 Truppenkommandeuren an der Westfront abgehalten. Nur ein einziger glaubte, dass die Soldaten noch loyal zum Kaiser stehen würden. Zu diesem Punkt hatte sich schon allerorten eine Erkenntnis durchgesetzt: Niemand wollte mehr sinnlos sterben.

Das war das Ende für die Herrschaft des Kaisers.

Genau. Er ging dann am 10. November 1918 ins Exil und er verblieb in den Niederlanden, ohne jemals wieder deutschen Boden zu betreten.

Zu diesem Zeitpunkt wurde im Wald von Compiegne nordöstlich von Paris bereits über die Bedingungen des Waffenstillstands verhandelt.

Verhandelt wurde im Grunde nicht viel. Vielmehr wurden den Deutschen die Bedingungen des Waffenstillstands diktiert. Die französische Delegation unter Marschall Ferdinand Foch war zu kaum einer Konzession bereit.

War das die große Rechnung, die der französische Premier Georges Clemenceau den Deutschen zuvor angedroht hatte?

In der Tat. Jetzt bekamen die Deutschen "die schrecklichste Rechnung" (so Clemenceau) für den Weltkrieg präsentiert. Jahrelang hatten die Franzosen auf diesen Tag gewartet. Sie müssen bedenken, dass der Krieg im Westen vor allem auf französischem und belgischem Territorium stattfand. Dort hatte der Krieg gewaltige, kaum vorstellbare Zerstörungen bewirkt. Ganze Landstriche waren in Mondlandschaften verwandelt worden. Sowohl die französische als auch die belgische Regierung hatten ihren Bevölkerungen versprochen, dass die Deutschen hierfür Wiedergutmachung zu leisten hätten.

Die Unterzeichnung dieses Waffenstillstands hatten die verantwortlichen deutschen Militärs einem Zivilisten überlassen.

Es war der Staatssekretär Matthias Erzberger von der katholischen Zentrumspartei. Was er unterzeichnete war allerdings weniger ein klassischer Waffenstillstand, sondern das Abkommen enthielt schon viele Punkte, die eigentlich Bestandteil einer späteren Friedensregelung sein sollten. Die Deutschen mussten sich innerhalb kürzester Zeit aus den besetzten Gebieten im Westen und Osten zurückziehen, zahlreiche Waffen und die Kriegsschiffe preisgeben, dazu wurde unter anderem ihr größter Erfolg annulliert, der Gewaltfriede von Brest-Litowsk mit den Bolschewiki in Russland.

In Deutschland wurden die Bedingungen des Waffenstillstands als Demütigung empfunden. Matthias Erzberger wurde 1921 von Rechtsextremisten sogar ermordet.

Marschall Foch wusste sehr genau, was sich damals in Deutschland abspielte. Deswegen gibt es durchaus eine Verbindung zwischen dem 9. November 1918, dem Tag der deutschen Revolution, und dem 11. November, dem Tag des Waffenstillstands. Dem Franzosen war klar, dass die Deutschen angesichts der inneren Umstände dringend den Frieden brauchten. Allerdings hat die Revolution keineswegs die Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg verursacht. Das zu behaupten, ist komplett rechter Unsinn.

Die Verschwörungslegende vom sogenannten "Dolchstoß" wurde zur schweren Hypothek für die entstehende deutsche Demokratie. Sie besagt, dass das "unbesiegte" deutsche Heer einen "Dolchstoß von hinten" erhalten habe.

Der eigentliche Urheber der (bereits seit 1917 kursierenden) Legende war Paul von Hindenburg mit seiner Aussage vor dem Untersuchungsausschuss des Reichstags im November 1919. Er tat dies, um die Verantwortung von den Militärs abzuwälzen. Der Kern dieser Legende behauptet, dass das deutsche Heer unbesiegt an den Fronten stand, sodass es nur ein "Dolchstoß" aus der Heimat zu Fall bringen konnte. Dass sich die deutschen Truppen damals weiß Gott alles andere als siegreich fühlten, spielte für die Anhänger dieser politisch motivierten Erzählung keine Rolle.

Trotzdem verschaffte sie den Rechtsextremen und Demokratiefeinden in der Weimarer Republik zahlreiche Anhänger.

Die Dolchstoßlegende war deshalb so wirkungsmächtig, weil sie derart offen und beliebig war in ihrer Schuldzuweisung. Praktisch jeder Mann oder jede Frau konnte bezichtigt werden, den "Dolchstoß" geführt zu haben. Zumal Personen, die sich in irgendeiner Form zu irgendeinem Zeitpunkt gegen den Krieg geäußert hatten: Pazifisten und Spartakisten, aber ebenso auch Sozialdemokraten, Gewerkschafter und Liberale. Selbst die Frauen, die ihre Männer und Söhne an der Front angeblich nicht ausreichend unterstützt oder sie durch sogenannte Jammerbriefe verunsichert hätten.


Vor allem für die deutschen Juden, die zu Zehntausenden im Ersten Weltkrieg für Deutschland gekämpft hatten, wurde die Dolchstoßlegende zu einer Gefahr.

Insbesondere Hitler und Ludendorff nutzten die Dolchstoßlegende für ihre infamen politischen Absichten. Hitler verteufelte die Juden und machte sie für nahezu alles verantwortlich, was in seiner verqueren Weltsicht falsch war: Revolution und Demokratie, Waffenstillstand und Versailler Vertrag, Sozialismus und Kapitalismus. So historisch absurd dies auch war.

Welche Auswirkung hatte die Dolchstoßlegende für den Zweiten Weltkrieg?

Die westlichen Alliierten hatten die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs vor Augen, als es um die Besetzung Hitler-Deutschlands ging. Im Januar 1943 trafen sich der britische Premierminister Winston Churchill und US-Präsident Franklin D. Roosevelt bei der Konferenz von Casablanca. Ihre wichtigste Forderung war die bedingungslose Kapitulation Deutschlands. Anders als 1918 sollte den Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg ohne jeden Zweifel klar gemacht werden, dass sie endgültig und alternativlos besiegt waren.

Professor Hirschfeld, wir danken für das Gespräch.

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