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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Krieg in der Ukraine Hinter Putins Wut steckt eine bittere Wahrheit
Die ukrainische Führung gibt sich im Krieg mit Russland selbstbewusst und spricht von einem "Siegesplan". Das ärgert bei der UN-Generalversammlung vor allem Russland. Dabei geht es beiden Ländern um etwas ganz anderes.
Aus New York berichtet Patrick Diekmann
Sie sitzen bei einem Treffen der G20-Außenministerinnen und Außenminister eigentlich nur wenige Meter auseinander, aber politisch trennen sie Welten. Als Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) und ihre westlichen Amtskollegen am Mittwoch in New York auf den russischen Außenminister Sergej Lawrow treffen, gibt es keinen Raum für Höflichkeiten. Seit Beginn des russischen Angriffskrieges in der Ukraine herrscht Eiszeit zwischen dem Westen und Russland – und es gibt sich auch niemand Mühe, diese Feindseligkeiten zu überspielen.
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Lawrow kommt kurz vor seinem Redebeitrag in den Saal. Er spricht mit kaum einem G20-Mitglied, blickt, bis er an der Reihe ist, starr auf einen Stapel Papier. Dann tut er das, was er seit Beginn der russischen Invasion auf internationalen Gipfeln perfektioniert hat: Er liest emotionslos von Zetteln ab. In der ersten Hälfte seiner Rede lobt er so ziemlich jedes internationale Bündnis, in dem westliche Länder nicht aktiv mitarbeiten. Danach schimpft er über die USA und ihre Verbündeten, weil sie ihre Wirtschaftsmacht ausnutzten, um Staaten wie Russland zu unterdrücken. Der Westen müsse an Einfluss verlieren, so ähnlich lautet Lawrows Fazit.
Er wirft dem Westen also Imperialismus vor, während Russland gleichzeitig vor zweieinhalb Jahren ein Nachbarland überfallen hat und seitdem dort einen Krieg führt. Es ist kein Wunder, dass Lawrows Narrativ bei einem Großteil der UN-Mitgliedstaaten nicht verfängt. Russlands Vorgehen in der UN-Woche zeigt, worum es dem Kreml aktuell geht: nicht etwa um einen möglichen Friedensdialog. Sondern beide Seiten versuchen, Allianzen zu schmieden, um die jeweils andere Partei international zu isolieren.
Der Ukraine gelingt das mit Unterstützung ihrer Verbündeten zwar besser. Lediglich autoritär regierte Staaten wie Nordkorea oder der Iran stellen sich öffentlich an Wladimir Putins Seite in dem Konflikt. Dennoch muss Kiew darum kämpfen, dass Russland isoliert bleibt – auch bei der UN-Generalversammlung.
Auch deswegen spricht der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj dort von einem "Siegesplan", den er diese Woche den USA vorstellen möchte. Dieses ukrainische Narrativ ist allerdings Zweckoptimismus, der bestenfalls zu weiteren Hilfen der Amerikaner führt. Dabei geht es momentan nicht darum, dass die Ukraine den Krieg kurzfristig gewinnen könnte, sondern sie muss aufpassen, dass Putin nicht gewinnt. Denn auf den Schlachtfeldern droht ihr der Kollaps.
Druck auf die Ukraine im Osten ist immens
Die ukrainische Armee wehrt sich zwar nach Kräften, teilweise mit westlichen Waffen, aber die russische Übermacht an Soldaten, militärischem Gerät und Munition ist offensichtlich. Der Krieg hinterlässt zudem auch in der ukrainischen Gesellschaft Spuren – die Ukraine ist umso mehr auf regelmäßige Erfolge angewiesen, um die Kampfmoral nicht zu verlieren.
Diese Erfolge blieben zuletzt aus. Stattdessen rücken russische Truppen im Donbass immer weiter vor und stehen nur noch wenige Kilometer vor der ukrainischen Stadt Pokrowsk. Aufgrund der militärischen Rückschläge war die ukrainische Offensive gegen die russische Provinz Kursk im August ein wichtiges Signal, das teilweise befreiend auf die ukrainische Moral gewirkt haben soll, meinen Experten. Damit sei in Kiew der Glaube genährt worden, dass die Ukraine noch immer strategische Erfolge in diesem Krieg erzielen kann.
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Denn in Kursk muss sich Russland nun enorm anstrengen, um wahrscheinlich unter hohen Verlusten das eigene Territorium zurückzuerobern. Eine Niederlage, die für Putin ausgesprochen peinlich ist.
Dass nun Selenskyj allerdings von einem "Siegesplan" spricht, der Putin zeitnah an den Verhandlungstisch zwingen soll, ist wohl etwas übertrieben. Trotzdem ist es aus strategischen Gründen für Kiew wichtig, vor allem gegenüber den Verbündeten eine gewisse Zuversicht zu demonstrieren. Denn verlieren die westlichen Partner diese Zuversicht, verliert auch die Ukraine an Rückhalt. Kaum ein Land auf der Welt möchte Geld in einen aussichtslosen Kampf investieren und auf der Seite der Verlierer stehen.
Kiew kämpft mit großen Problemen
Deshalb war es strategisch klug von Selenskyj, während der UN-Generalversammlung Optimismus zu versprühen. Das war unabdingbar für den Erhalt des ukrainischen Unabhängigkeitskampfes und zeigte dann am Donnerstag auch erste Erfolge. Denn US-Präsident Biden kündigte weitere US-Militärhilfen im Wert von acht Milliarden US-Dollar für die Ukraine und einen Gipfel in Deutschland an. Das ist zwar zunächst nicht viel mehr als ein großer Tropfen auf dem heißen Stein, aber das Treffen in Deutschland, welches wahrscheinlich auf dem US-Stützpunkt in Ramstein stattfinden wird, könnte das Fundament für längerfristige Hilfen werden.
Schritte, die aus der Perspektive Kiews bitter nötig sind. Denn wird die westliche Unterstützung nicht ausgeweitet, wird Putin diesen Krieg gewinnen.
Die Ukraine kämpft nämlich aktuell mit einigen größeren Problemen:
- Geldsorgen: Im Sommer drohte die Staatspleite, weil Schulden bei privaten Gläubigern nicht zurückgezahlt werden konnten. Diese Gefahr wurde zwar kurzfristig durch eine Umschuldung abgewendet, ist aber keineswegs vom Tisch. Kriege sind teuer, und die ukrainische Wirtschaft liegt am Boden. Deshalb wird Kiew darauf angewiesen sein, dass die westlichen Partner einspringen, wenn es eng wird. Doch das ist keineswegs selbstverständlich. Immerhin streitet sich in Deutschland die Bundesregierung um einen Haushalt, und im US-Wahlkampf möchten weder die Demokraten noch die Republikaner aktuell irgendwelche Schecks unterschreiben. Denn für viele Amerikaner ist dieser Krieg weit weg und zu teuer. Das ist gefährlich für die Ukraine.
- Russische Offensive im Donbass: Die Ukraine ist mit ihrer Kursk-Offensive ein hohes Risiko eingegangen, weil sie nun in Russland Truppen einsetzt, die im Donbass gebraucht würden. Die russische Armee ist hier in der Offensive und steht davor, den kompletten Oblast Donezk zu erobern, sollte Pokrowsk fallen. Das setzt Selenskyj nicht nur militärisch unter Druck, sondern auch politisch.
- Waffen und Munition: Es fehlt der Ukraine mittlerweile wieder vieles: Panzer, anderes militärisches Gerät und Munition. Laut Selenskyj sind aktuell nur vier von 14 Brigaden ausgerüstet, und das ist für den Verteidigungskampf fatal. Hier ist die Ukraine insbesondere von der Unterstützung der Amerikaner abhängig, weil viele europäische Staaten ihre Arsenale bereits geplündert haben. Doch in welchem Umfang die Amerikaner die Ukraine unterstützen werden, darüber lässt sich im Wahlkampf aktuell keine Aussage treffen.
- Reichweitenbeschränkung: In New York machte die ukrainische Führung erneut in vertraulichen Gesprächen mit ihren Partnern klar, wie wichtig es für die Ukraine wäre, auch mit weitreichenden westlichen Waffen Ziele in Russland angreifen zu dürfen. Doch bislang zögern etwa die USA und auch Deutschland.
- Winter: Russland hat massiv die ukrainische Infrastruktur bombardiert und zerstört. Vor den Ukrainerinnen und Ukrainern liegt erneut eine gefährlich kalte Jahreszeit, in der viele nicht heizen können und keinen Strom haben werden.
Putin droht mit Atomwaffen
Die Lage für die Ukraine ist dementsprechend schlecht, die Liste der Probleme lang. Doch es ist nicht aussichtslos für Kiew. Aktuell allerdings kann Selenskyj nur warten und hoffen, dass die Amerikaner nach dem Wahlkampf und einem möglichen Sieg von Vizepräsidentin Kamala Harris wieder aktiver in der Ukraine-Frage werden. Sollte dagegen Donald Trump US-Präsident werden, könnte er die Ukraine zu einem schlechten Deal zwingen.
Putins Strategie setzt bei den ukrainischen Problemen an. Russische Funktionäre behaupten bei der UN-Generaldebatte, dass die Ukraine den Krieg längst verloren habe und der Kollaps nur eine Frage der Zeit sei. Russland möchte nicht nur den Rest der Welt davon überzeugen, dass die Ukraine ohnehin auf lange Sicht keine Chance habe. Putin will zudem verhindern, dass die Ukraine – etwa durch die Aufhebung der Reichweitenbeschränkung für Raketen westlicher Bauart – eine noch größere Schlagkraft in Russland entwickeln kann.
Deshalb ist es kein Zufall, dass er in der UN-Woche die Verschärfung der russischen Doktrin für den Einsatz von Atomwaffen bekannt gegeben hat. Es ist die nächste atomare Drohung, mit der Putin vor allem verhindern möchte, dass die Biden-Administration der Ukraine bei Selenskyjs Besuch nicht allzu viele Zugeständnisse macht. Das zeigt, dass es in Moskau ein Bewusstsein dafür gibt, dass sich Russland aktuell zwar auf der Siegerstraße befindet, sich dieses Momentum aber jederzeit wieder drehen kann – vor allem dann, wenn der Westen aktiver werden würde.
- Begleitung von Außenministerin Baerbock bei der UN-Vollversammlung in New York