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Putin verschärft Atomwaffen-Doktrin: Drückt er wirklich auf den Knopf?


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Putins atomare Drohungen
Wer ist hier die Ratte?


Aktualisiert am 27.09.2024Lesedauer: 7 Min.
Selbstsicher: Der russische Machthaber bei einer Rede Anfang September 2024 in Moskau.Vergrößern des Bildes
Selbstsicher: Der russische Machthaber bei einer Rede Anfang September 2024 in Moskau. (Quelle: Contributor/Getty Images)

Der russische Machthaber dreht an der nuklearen Eskalationsspirale. Doch wie ernst sind Putins Drohungen zu nehmen? Experten kommen zu vielsagenden Ergebnissen.

Er hat es schon wieder getan. Wladimir Putin hat die atomare Keule ausgepackt. In Gestalt einer Neufassung der russischen Atomwaffendoktrin. "Es wird vorgeschlagen, einen Angriff auf Russland durch eine Nicht-Atommacht, der unter Beteiligung oder mit Unterstützung einer Atommacht stattfindet, als einen gemeinsamen Angriff auf die Russische Föderation zu betrachten", sagte Putin am Mittwoch in einer vom Fernsehen übertragenen Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats in Moskau.

Putin dreht an der Eskalationsschraube

Das klingt zunächst einmal ziemlich verklausuliert, heißt aber nichts anders als: Der russische Diktator droht mit dem Einsatz von Atomwaffen, sollte der Westen der Ukraine erlauben, seine an Kiew gelieferten Waffen auch auf russischem Staatsgebiet einzusetzen – und zwar ohne eine Reichweitenbeschränkung. Genau das aber fordert der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj seit Wochen gebetsmühlenartig.

Putin fürchtet diesen Einsatz, daher verknüpft er ihn nun mit der Atomdrohung. "Wir werden eine solche Möglichkeit erwägen, sobald wir zuverlässige Informationen über den massiven Start von Waffen aus der Luft und dem Weltraum erhalten haben und darüber, dass die Waffen unsere Staatsgrenze überquert haben", sagte Putin nun. Dabei gehe es um "Flugzeuge der strategischen und taktischen Luftfahrt, Marschflugkörper, Drohnen, Hyperschall- und andere Fluggeräte", verdeutlichte der Kremlherrscher.

Bereits Mitte September hatte Putin angekündigt, dass er die Nato-Verbündeten Kiews als Kriegspartei betrachten werde, sollten die Reichweitenbeschränkungen der Waffen freigegeben werden. Jetzt dreht der 71-jährige Autokrat also weiter an der Eskalationsschraube. Denn der Einsatz der westlichen Waffen auf russischem Staatsgebiet wäre vom Völkerrecht zwar gedeckt. Sie würden der Ukraine erheblich dabei helfen, den perfiden Luftkrieg Putins gegen die ukrainischen Städte, gegen deren Energieinfrastruktur und Zivilbevölkerung einzudämmen. Doch die Nato-Verbündeten scheuen eine Eskalation seitens Russlands.

Drohungen des Kremls folgen einem bestimmten Muster

Putin weiß das nur zu genau. Er ist ein Meister der psychologischen Kriegsführung, beim KGB jahrelang darauf spezialisiert, politische Feinde zu manipulieren und zu verunsichern. "Die Anpassung der Atomdoktrin sollte eher als symbolischer Akt von Putins Bereitschaft gesehen werden, den Einsatz der nuklearen Drohungen zu erhöhen. Es ist aber nicht notwendigerweise Ausdruck seiner Bereitschaft, diese Waffen auch wirklich einzusetzen", analysierte das Forschungsinstitut für Fragen der internationalen Sicherheit (RUSI) bereits 2022. Damals hatte Putin gerade den Ukraine-Krieg begonnen und dem Westen zum ersten Mal mit einem Atomkrieg gedroht.

Seitdem malen Putin und seine Propagandisten – allen voran Putins vormaliger Platzhalter im Kreml, Dmitri Medwedew, aber auch der ultranationale TV-Kommentator Wladimir Solowjow – fast schon reflexhaft atomare Schreckensszenarien. Bezeichnend dabei ist, dass die martialischen Verweise auf Russlands nukleares Raketenarsenal immer dann kommen, wenn der Westen wieder einmal in zähen Diskussionen über jene Hilfsmaßnahmen für die Ukraine verstrickt ist, die Russland wirklich schaden könnten. Oder dann, wenn Russland auf dem Schlachtfeld ins Hintertreffen gerät, wie im Herbst 2022, als die russische Armee in der Ukraine herbe Gebietsverluste hinnehmen musste.

Mit dem notorischen Säbelrasseln sollen die Regierungen, noch mehr aber die Bevölkerung im Westen eingeschüchtert und eine Stimmung erzeugt werden, die pro-russischen Interessen dient. Das gilt insbesondere in Deutschland, wo Parteien wie die AfD und das BSW schon lange die Argumentationsmuster aus Moskau übernommen haben und weite Teile der Linken, der Friedensbewegung und insbesondere der ostdeutschen Bevölkerung äußerst empfänglich für die Propaganda aus dem Kreml sind. Die Landtagswahlen im Osten haben das gerade erst deutlich gezeigt.

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Psychologe: Rüpel suchen sich immer ein wehrloses Opfer aus

Laut David R. Shedd sollen diese "Mind Games", also die "Psychospielchen" des Kremls, zur Verunsicherung in den westlichen Regierungen beitragen, schrieb der ehemalige Direktor der Defense Intelligence Agency, eines US-Militärgeheimdienstes, in einem Beitrag für das Fachmagazin "Foreign Policy". "Putin weiß, dass er durch nichts besser die Knöpfe des Westens drücken kann als durch Nukleardrohungen", analysierte Geheimdienstexperte Shedd. "Putin verlässt sich darauf, dass die Angst vor einer nuklearen Eskalation die Unterstützer der Ukraine in Washington, Berlin und anderswo lähmt. Das Resultat ist eine Appeasement-Politik, weil man fürchtet, Putin zu sehr in die Ecke zu drängen."

Der kanadische Psychologe Tony Volk stellte angesichts der putinschen Gewaltandrohungen einmal fest: "Wenn ich mir die Situation anschaue, wie sie sich in der Ukraine gerade entwickelt, komme ich nicht umhin festzustellen, dass der russische Präsident sich wie ein Schulhofrüpel verhält – allerdings einer, der Zugang zu Atomwaffen hat." Und wie bei solchen Rüpeln üblich, habe er sich ein Opfer ausgesucht, das allein nicht in der Lage sei, sich zu verteidigen (Ukraine) und das deshalb auf die Hilfe größerer Jungs (Nato) angewiesen sei, die sich bislang aber nicht trauen, das Opfer angemessen zu verteidigen, so Volk. Es gebe in einer solchen Situation nur zwei Möglichkeiten, so der Psychologe: "Entweder der Tyrann lenkt ein und erkennt die Vorteile von Verhandlungen, oder jemand zeigt ihm die Grenzen auf".

Bislang ist Russland aber weder zu dem einen noch dem anderen bereit. Erst in dieser Woche bekräftigte der Kreml seinen Willen, die "Spezialoperation" in der Ukraine zu Ende zu führen, sprich: die gesamte Ukraine zu unterwerfen. Einem möglichen Friedensprozess will Russland nur unter inakzeptablen Bedingungen zustimmen: eine "Entnazifizierung" und ein Systemwechsel in der Ukraine, die weitgehende Entmilitarisierung des Landes und keine Schutzgarantien durch den Westen. Das wäre für Kiew gleichbedeutend mit der Unterwerfung unter das russische Diktat. Zugleich schloss Putins Sprecherin für das Außenamt eine Teilnahme an der von der Ukraine initiierten zweiten Friedenskonferenz aus.

Putins Geschichte von der Ratte

Angesichts der russischen Verweigerung platzte dem britischen Außenminister am Rande der UN-Vollversammlung der Kragen. Er wandte sich direkt an Putin: "Ihre Invasion dient Ihrem eigenen Interesse, nur Ihrem, um Ihren Mafiastaat zu einem Mafiaimperium auszubauen, einem Imperium, das auf Korruption aufgebaut ist und das russische Volk ebenso wie die Ukraine ausraubt", sagte David Lammy am Mittwoch in New York. Dieses Imperium Putins gründe sich auf Lügen und verbreite im In- und Ausland Desinformationen, um Unruhen zu stiften.

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Doch Worte können Putin bislang nicht stoppen. Und alle, denen Putin notorisch droht, fragen sich, wie ernst es der Mann meint. Wie weit er gehen würde.

Der Autor Philip Short, der eine profunde Biografie über Putin geschrieben hat, verweist auf eine weitere Erzählung, die der russische Machthaber in den vergangenen Jahren gerne zum Besten gegeben hat. Die von der Ratte, die in die Ecke gedrängt wurde. Zugetragen habe sich das Ganze in Putins Jugendjahren in St. Petersburg. Damals hätten er und andere Jungs eine Ratte gepiesackt, sie mit einem Stock provoziert und in die Ecke gedrängt. Plötzlich habe das Tier aggressiv reagiert und sei Putin quasi ins Gesicht gesprungen.

Die Geschichte gehört längst zum Legendenschatz um Putin. Dort wurde sie als Allegorie auf die Gefährlichkeit Putins interpretiert: Der Kremlherrscher wurde mit der Ratte gleichgesetzt, die aggressiv reagiert, wenn man sie in die Ecke drängt.

Über diese Lesart zeigt sich die russische Journalistin Natalia Gevorkjan verwundert. Sie führte im Jahr 2000 mehrere autobiografische Interviews mit Putin. Der Präsident war zu jener Zeit noch relativ unbekannt, er galt als blasser Verwaltungsbürokrat und brauchte dringend ein Image. Also erzählte er Gevorkjan unter anderem die Geschichte von der aggressiven Ratte. "Dass er in dieser Situation weggerannt ist und sich in seiner Wohnung versteckt hat, spricht doch Bände", meint die Journalistin heute. Zumal Putin einen Stock dabeigehabt habe, den er jedoch nicht benutzte. "Für mich ist das eher eine Geschichte über Putin als über die Ratte", so Gevorkjan. Für sie ist klar: Begegnet man dem Diktator mit Härte, läuft er weg und verschanzt sich.

Sein Image war Putin schon immer wichtig

Nun sind Erzählungen das eine, politisches Handeln etwas anderes. Doch auch im Ukraine-Krieg hat Putin seinen bisweilen aggressiven Ankündigungen gegen den Westen bislang keine Taten folgen lassen – nicht auf die Lieferung von Panzern, nicht auf die Lieferung von Marschflugkörpern wie Storm Shadow oder Himars und auch nicht auf die Lieferung von F16-Kampfflugzeugen. Selbst als die Ukraine im August mit eigenen Truppen in die russische Region Kursk einmarschierte, kam aus dem Kreml erst mal: keine Reaktion. Das veranlasste den ukrainischen Präsidenten schon zu der Bemerkung, die berühmten "roten Linien", von der die Welt immer spreche, könne es für Putin gar nicht geben.

Alina Poljakowa, Präsidentin des Center for European Policy Analysis, kommt zu einem ähnlichen Schluss: "Kein einziges Mal, wenn der Westen Russland bislang militärisch oder durch Sanktionen herausgefordert hat, ist die Hölle losgebrochen", sagte sie "The Atlantic".

Dass Putin vor allem in seiner Rhetorik zu allen bereit auftritt, unterstreichen auch die Experten des Centers for Strategic and International Studies (CSIS), einer unabhängigen US-Denkfabrik. Sie untersuchten in einer aufwendigen Analyse sämtliche russischen Nukleardrohungen der vergangen zweieinhalb Jahre. Auffallend war dabei, dass die Kriegsrhetorik immer dann am stärksten ausfiel, wenn der Kreml militärisch am stärksten unter Druck stand und die Gefahr für Putin auch innenpolitisch angezählt zu werden, größer geworden war.

So sei es wahrscheinlich, dass Putin auch weiterhin an der rhetorischen Eskalationsschraube drehen werde. "Die russische Nuklearrhetorik scheint jedoch auf den internationalen Druck zu reagieren", so die Experten des CSIS. Der Westen müsse auf die Warnungen deutlich reagieren und Russland nachdrücklich zur Deeskalation auffordern – ohne seine Souveränität aufzugeben.

Denn noch etwas gelte es zu bedenken. "Der Kreml scheint sich auch um sein internationales Image zu sorgen: Auf internationalen Foren bestreiten russische Beamte, dass das Land mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht hat, und schlagen oft einen vergleichsweise beruhigenden Ton an, wenn sie mit nicht-westlichen Medien über nukleare Risiken sprechen", heißt es in dem Bericht.

"Der Kreml wird wahrscheinlich weiterhin nukleare Drohungen einsetzen, um das Verhalten des Westens zu beeinflussen", prophezeien die Experten des CSIS. Allerdings geben sie auch zu bedenken, dass sich Putins Verhalten in dem Moment ändern könnte, wenn eine militärische Niederlage in der Ukraine kurz bevorstünde. Da ein solcher Kollaps der russischen Armee allerdings als sehr unwahrscheinlich angesehen wird, gebe es "keinen Grund, in naher Zukunft eine nukleare Eskalation zu erwarten."

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