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Ukraine-Krieg: Angriffe in Russland, Bangen im Donbass – aktuelle Lage


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Lage an der Ukraine-Front
"Die Russen erleiden enorme Verluste"

InterviewVon Simon Cleven

Aktualisiert am 10.08.2024Lesedauer: 7 Min.
urn:newsml:dpa.com:20090101:240807-99-31371Vergrößern des Bildes
Ein ukrainischer Soldat feuert mit einem Panzerabwehrgranatwerfer SPG9 auf eine russische Stellung bei Tschassiw Jar: Die Stadt im Donbass steht im Zentrum schwerer Kämpfe. (Quelle: Oleg Petrasiuk/Press service of 24 Mechanised brigade/AP/dpa)

Seit Dienstag toben Gefechte in der russischen Region Kursk. Die Ukraine hat dort das Überraschungsmoment auf ihrer Seite. Andernorts aber gestalte sich die Lage schwieriger, erklärt Militäranalyst Franz-Stefan Gady.

Mit ihrem Angriff auf die russische Grenzregion Kursk haben die ukrainischen Streitkräfte Russland überrascht. Seit Dienstag gibt es in dem Gebiet Gefechte, mehrere Hundert ukrainische Soldaten sollen involviert sein. Doch unklar ist noch, was die Ukraine mit dem Angriff bezweckt und wie lange das Überraschungsmoment anhält.

Der Militäranalyst Franz-Stefan Gady blickt skeptisch auf den Vorstoß der Ukrainer in Kursk. Im Interview mit t-online spricht er über die Probleme, die er in dem Angriff sieht, und mögliche negative Auswirkungen auf andere Teile der Front. Soldaten an der Front im Donbass äußern bisher wenig Verständnis für den Vorstoß nach Russland. Gerade dort sei die Lage aber derzeit "prekär", so der Experte.

Herr Gady, die Ukraine hat am Dienstag einen Überraschungsangriff auf die russische Grenzregion Kursk gestartet. Haben Sie eine solche Operation für möglich gehalten?

Franz-Stefan Gady: Nein, ich persönlich war wirklich überrascht. Diesen Angriff habe ich nicht kommen sehen. Das widerspricht auch teilweise der oft geäußerten These des "gläsernen Gefechtsfeldes" im modernen Krieg. Trotz der modernen Mittel zur Aufklärung, etwa mit Drohnen, ist es offenbar doch noch möglich, den Gegner zu überraschen. Und zudem sagt die Operation in Kursk auch einiges über die Fähigkeit der ukrainischen Streitkräfte aus, solch ein Überraschungsmoment zu nutzen.

(Quelle: Michael Kofman)

Zur Person

Franz-Stefan Gady (41) gehört zu den besten ausländischen Kennern der militärischen Lage in der Ukraine. Mehrfach hat er das Land seit Februar 2022 besucht. Gady ist Senior Fellow am International Institute for Strategic Studies in London und Adjunct Senior Fellow am Center for a New American Security in Washington, D.C. Im Oktober erscheint sein Buch "Die Rückkehr des Krieges – Warum wir wieder lernen müssen, mit Krieg umzugehen" im Quadriga Verlag.

Wie gestaltet sich die Lage derzeit in der russischen Region?

Aktuell wissen wir noch nicht genug, um die Lage vollends einzuschätzen. Ich denke, dafür müssen wir noch ein paar Tage abwarten. So ist noch unklar, wie weit und auf welcher Breite die Ukrainer nach Russland vorgestoßen sind. Auch die Größe der eingesetzten Einheiten ist nicht bekannt. Vermutlich aber sind Teile von zwei gut ausgerüsteten und ausgebildeten Brigaden involviert sowie andere Verbände inklusive Spezialeinsatzkräften.

Wie gehen die ukrainischen Kräfte vor?

Diese Einheiten führen derzeit eine Operation durch, die gut koordiniert zu sein scheint und auf das Gefecht der verbundenen Waffen setzt. Mechanisierte Verbände, also Landstreitkräfte mit Kampfpanzern und gepanzerten Fahrzeugen, sind auf russisches Territorium vorgestoßen. Gleichzeitig haben sie Flug- und Raketenabwehrsysteme mitgebracht, die Angriffe der russischen Luftwaffe abwehren sollen.

Video | Ukraine erobert russische Dörfer bei Kursk
Quelle: Glomex

Welches Ziel verfolgen die Ukrainer mit dieser Operation?

Das ist noch schwer abzuschätzen. Eine Frage ist: Will die Ukraine mit dem Vorstoß russische Truppen in Kursk binden? Vermutlich ja, aber Russland wird nur wenige Truppen zur Verteidigung etwa aus dem umkämpften Donbass abziehen, denn auch in an Kursk angrenzenden Regionen sind russische Verbände stationiert.

Genauso ist es möglich, dass es sich um eine Operation der Informationskriegsführung handelt. Womöglich wollen die Ukrainer zeigen: Wir haben noch immer die Fähigkeit, Russland anzugreifen. Das kann die Moral der Truppe an der Front stärken.

Halten Sie es für möglich, dass die ukrainischen Streitkräfte sich in Kursk festsetzen?

Das ist möglich, aber aus heutiger Sicht eher unwahrscheinlich. Noch handelt es sich um ein dynamisches Gefechtsfeld, die Ukrainer sind also im Bewegungskampf. Sollten die Gefechte in Kursk aber statischer werden, etwa wenn die Ukrainer sich eingraben, dann könnten sie auf ähnliche Probleme stoßen wie an anderen Teilen der Frontlinie. Russland könnte dann unter anderem Gleitbomben gegen sie einsetzen. Diese können aus sicherer Entfernung abgeworfen werden und ihr Ziel präzise treffen. Vor einem solchen Einsatz würde Russland wohl auch auf eigenem Territorium nicht zurückschrecken.

Sie scheinen insgesamt recht skeptisch zu sein, was die Operation in Kursk betrifft.

Die größte Schwierigkeit ist meiner Ansicht nach, dass der Angriff kein Problem der Ukrainer unmittelbar löst. Die ukrainischen Streitkräfte haben derzeit besonders im Donbass große Probleme. Die Operation in Kursk beansprucht aber große Ressourcen vor allem beim Infanteriepersonal, die andernorts möglicherweise eher gebraucht werden.

Besonders im Osten der Ukraine ist der Personalmangel derzeit akut.

Manche Soldaten im Donbass sind angesichts der Nachrichten aus Kursk verbittert und enttäuscht, wie sie mir geschrieben haben. Denn eben dort gibt es seit Wochen hohe Verluste. Es könnte sogar sein, dass der Vorstoß in Kursk diese Situation noch weiter verschlechtert. Zusätzliche Reserven werden den Soldaten im Donbass kaum bereitgestellt, dafür wurde zu spät mobilisiert. Das Personal kommt nur langsam an die Front. Entspannung wird es dabei wohl erst im Herbst geben.

Vor allem aus der Region Donezk im Donbass gab es zuletzt immer mehr Nachrichten über russische Vorstöße und Eroberungen kleinerer Ortschaften. Wie schätzen Sie die Lage ein?

Die Lage ist prekär, aber nicht katastrophal. Wie bereits gesagt, fehlt es besonders an Personal für die Infanterie. Was die Artillerieüberlegenheit Russlands angeht, konnten die Ukrainer die Situation allerdings etwas stabilisieren: Derzeit kommt auf etwa vier russische Artilleriegeschosse eines der Ukraine. Das ist nicht die günstigste Situation, Russland hat aber auch keinen entscheidenden Vorteil.

Und obwohl Russland insgesamt überlegen ist, rücken die Kremltruppen nur vergleichsweise langsam vor.

Die Russen erleiden bei ihren Vorstößen enorme Verluste. Das liegt besonders daran, dass sie noch immer nicht dazu fähig sind, Angriffsoperationen effektiv zu koordinieren. Dadurch schaffen sie es auch kaum, ihre Durchbrüche für sich zu nutzen. Ich gehe deshalb davon aus, dass Russland zwar weiter vorrücken wird, aber eben nur langsam.

Welches Ziel haben die Russen im Donbass vor Augen?

Derzeit sind besonders Tschassiw Jar und Torezk in Bedrängnis. Diese Städte könnten in den kommenden Wochen fallen. Das Hauptziel der Russen scheint derzeit die Stadt Kostjantyniwka zu sein. Der Ort ist von zentraler Bedeutung für die ukrainische Kriegslogistik in diesem Sektor der Front. Das gilt auch für die Stadt Pokrowsk westlich von Kostjantyniwka, die immer mehr unter Druck gerät. Das übergeordnete Ziel scheint zu sein, dann weiter nach Slowjansk und Kramatorsk vorzustoßen.

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Ist es realistisch, dass Russland dieses Ziel kurz- bis mittelfristig erreicht?

Die russische Armee wird weiter versuchen, ihren derzeitigen Vorteil beim Personal auszunutzen. In den kommenden Wochen wird daher wohl die Intensität der Gefechte hoch bleiben. Russland will so viel Territorium nehmen und den Ukrainern so hohe Verluste zufügen wie möglich, bevor im Herbst frische ukrainische Reserven an die Front gelangen. Seit Mai hat die Ukraine begonnen, mehrere Zehntausend Männer zusätzlich einzuberufen und auszubilden.

Bis zum Herbst kann es eine schwierige Zeit für die Ukrainer werden.

Das stimmt. Und die Kremltruppen werden das derzeitige operative Tempo wohl auch bis in den frühen Herbst hinein durchhalten. Dabei spielt Russland ein weiteres Problem der Ukrainer in die Karten: Ihnen fehlt es zwar nicht mehr so sehr an Artilleriemunition, dafür aber an denjenigen Treibladungen, mit denen Artilleriegranaten auf lange Distanz abgefeuert werden. So müssen Artilleriegeschütze dichter an die Front heranrücken und werden zum leichteren Ziel für russische Drohnen.

Müssen die westlichen Unterstützer da also bei ihren Militärhilfen nachjustieren?

Das dringendere Problem ist sicherlich die Flug- und Raketenabwehr. Hier braucht es mehr Waffensysteme und entsprechende Munition. Ich denke, dass Russland seine Luftkriegskampagne mit massiven Raketenangriffen in den kommenden Monaten nochmals forcieren wird. Damit soll eine weitere große Fluchtbewegung der ukrainischen Zivilbevölkerung ausgelöst werden. Besonders im Winter werden die Angriffe auf die Energieinfrastruktur vermutlich wieder zunehmen, Strom und Wasser werden dann knapp.

Ein weiterer Exodus der Zivilbevölkerung könnte die Moral der ukrainischen Soldaten massiv verschlechtern. Das kann kriegsentscheidend sein, viel mehr übrigens als weitere 100 oder 200 Quadratkilometer Verluste im Donbass. Das Jahr 2025 wird hauptsächlich dadurch definiert sein, wie die Ukraine durch den Winter kommt. Und dabei kann man die Frage stellen, ob es Sinn ergibt, jeden Quadratmeter im Donbass zu verteidigen oder sich doch eher auf besser zu verteidigende Stellungen zurückzuziehen, um so in eine günstigere Ausgangsposition für neue Offensiven zu kommen.

Wie meinen Sie das?

Es geht dabei um die ukrainische Doktrin der aktiven Verteidigung. Russlands Ziel ist es, die ukrainischen Kräfte möglichst weit abzunutzen. Die Ukraine wiederum weiß, dass sie Probleme beim Personal hat. Das bedeutet, dass sie schonend mit ihren Einheiten umgehen muss. Deshalb ist es fraglich, ob Gegenangriffe im derzeitigen Ausmaß notwendig sind. Denn die sind auch auf ukrainischer Seite verlustreich.

Am vergangenen Sonntag hat die Ukraine nun ihre ersten F-16-Kampfjets vorgestellt. Die Hoffnungen, die in die Maschinen gesetzt werden, sind groß. Können die F-16 unmittelbar helfen?

Ich denke, dass der unmittelbare Einfluss der F-16 in diesem und dem kommenden Jahr limitiert sein wird. Entscheidend sind dabei mehrere Punkte. Zunächst ist es natürlich gut und wichtig, dass die Ukraine ihre Flotte auf westliche Kampfjets umstellt. Aber wie will Kiew diese Flotte in Zukunft finanzieren? Es ist teuer, solche Jets einsatzbereit zu halten.

Zudem geht es um die Ausstattung. Bisher haben die Ukrainer relativ wenige und ältere Maschinen erhalten. Sollten diese bisher kein Upgrade erhalten haben, ist in den Jets noch ein Radarsystem verbaut, das nicht die Reichweite hätte, um russische Flugzeuge mit Luft-Luft-Raketen effektiv zu bekämpfen. Wegen der limitierten Reichweite des Bordradars und der Raketen haben sie es auch gegen die gute russische Flugabwehr nicht einfach. Und nicht zuletzt geht es wieder um Personal.

Der Ukraine fehlt es also auch an Piloten?

Richtig – und die vorhandenen Piloten müssen nach und nach an der F-16 ausgebildet werden. Das dauert. Zudem tut sich die ukrainische Armee im Kampf der verbundenen Waffen oft noch schwer. Die Koordination mehrerer Waffengattungen bereitet ihnen Probleme – die Einführung einer völlig neuen Plattform wie der F-16 erleichtert das nicht. Auch die ukrainische Flugabwehr muss darauf eingestellt werden, damit es nicht zu Abschüssen eigener Flieger kommt. Es braucht Zeit und gute Infrastruktur, um effektive Einsätze mit den F-16 fliegen zu können. Es gibt viel Potenzial, aber auch viele Gründe, die Erwartungen etwas herunterzuschrauben.

Herr Gady, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Telefoninterview mit Franz-Stefan Gady
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