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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Robert Habeck Es geht jetzt ums Überleben
Die militärische Lage der Ukraine ist dramatisch. Robert Habeck will ihr stärker helfen. Doch auf seiner Reise zeigt sich, wie schwierig das wird.
Der Horror dieses Krieges, er bricht in der Ukraine manchmal unerwartet auf. Robert Habeck steht in einem Klassenraum in Irpin, etwa eine Autostunde von Kiew entfernt. Hier haben die Ukrainer zu Beginn der russischen Invasion den Durchmarsch auf Kiew gestoppt. Trotz heftiger Gefechte Anfang März 2022 konnten die Russen Irpin nie ganz einnehmen, auch wenn viele Ukrainer fliehen mussten und viele ermordet, gefoltert, vergewaltigt wurden.
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Nun ist der Alltag zurück in Irpin, zumindest ein bisschen. Der deutsche Vizekanzler will an diesem Donnerstagmittag den Wiederaufbau der Schule und eine neue Solaranlage auf dem Dach feiern. Auf den Tischen der Teenager liegen Blätter mit Matheübungen. Habeck möchte wissen, wie sie sich fühlen, jetzt, wo sie hier wieder gemeinsam lernen können. Und wie lange sie das nicht konnten.
Ein junges Mädchen erzählt, sie fühle sich weniger unruhig, weil sie wieder mit den Menschen zusammen sei, die sie liebe. Dann erzählt ein anderes Mädchen. Am 7. März habe sie Irpin verlassen. Sie weiß das Datum genau, obwohl es zwei Jahre her ist. Sie saß im Auto mit ihren Eltern, es waren mehrere Autos. Sie wollten weg. Doch die Russen haben sie gestoppt. Am Ende haben nur sie und ihre Eltern überlebt. Alle anderen Autos hinter ihnen wurden mit Gewehren beschossen, so erzählt sie es.
Es war ein Massaker, vor ihren Augen. Und jetzt ist wieder Mathe.
Eigentlich ist Vizekanzler Robert Habeck in die Ukraine gereist, um positive Geschichten zu erzählen. Um Hoffnung zu verbreiten. Um Mut zu machen. Doch so wie in diesem Klassenraum in Irpin holt ihn das Grauen des Krieges immer wieder ein. Und damit auch die Frage, ob Deutschland genug tut. Ob er genug tut. Es geht jetzt ums Überleben.
Es läuft mies
Schon als Robert Habeck am Donnerstagmorgen um 6.30 Uhr am Bahnhof in Kiew aus dem Sonderzug steigt, lässt er durchblicken, dass er weiß, wie die Lage ist. Sein Besuch falle "in eine Zeit, in der die Ukraine in ihrem Kampf um Freiheit noch einmal jede Unterstützung braucht", sagt er vor dem Zug in die Mikrofone. Sie stehe "militärisch enorm unter Druck". Es läuft mies, heißt das auf gut Deutsch.
Mit fast täglichen Luftangriffen versucht Wladimir Putin, die Ukrainer mürbe zu machen. An den Frontlinien hat sich ein Stellungskrieg entwickelt, ein blutiger Kampf in Schützengräben. Größere Durchbrüche erscheinen Beobachtern nur noch eine Frage der Zeit zu sein. Der Ukraine fehlen nicht nur Munition und Waffen, sondern auch Soldaten.
Die Menschen können nicht mehr, viele wollen auch eigentlich nicht mehr. So schildern es Beobachter. Aber noch viel weniger als diesen Krieg wollen sich die Ukrainer ergeben und unter russischer Herrschaft leben. Viele haben schon leidvoll erfahren, wie das ist. Sie trauen Wladimir Putin nicht, also müssen sie weiterkämpfen. Irgendwie.
Rüstung first
Robert Habeck will mehr tun, um der Ukraine dabei zu helfen. Das soll diese Reise jedem klarmachen, der es noch nicht verstanden hat. Die Ukraine kämpfe nicht nur für ihre eigene Freiheit, sondern auch "für die Werte, die Europa eint und ausmacht". Darum sei die Unterstützung "im höchsten Eigeninteresse Deutschlands". So oder so ähnlich versucht er die Hilfe immer wieder zu begründen. Was eben auch zeigt, dass Habeck fürchtet, die Deutschen könnten kriegsmüde werden.
Am Donnerstagvormittag aber soll es ums Machen gehen. Habeck ist zu seiner Amtskollegin gekommen, der Vizepremierministerin und Wirtschaftsministerin Julija Swyrydenko. Er hat eine kleine Wirtschaftsdelegation mitgebracht nach Kiew, Unternehmensvertreter aus dem Energiesektor und der Rüstungsindustrie. In einem großen Saal mit viereckigen Säulen sitzen die Firmenbosse und Habecks Leute den Ukrainern an langen Tischen gegenüber.
Nachdem Habeck und Swyrydenko Freundlichkeiten ausgetauscht haben, wird es handfest. "He is the Iris-T guy", sagt Habeck. Das ist der Mann mit den Iris-T-Luftabwehrsystemen. Der Boss der deutschen Produktionsfirma Diehl Defence darf als Erster sprechen. Rüstung first.
Die Ukrainer lächeln freundlich. Es sind vor allem seine Waffen, die Kiew vor den russischen Luftangriffen schützen. Drei habe seine Firma bisher geliefert, Nummer vier werde in "den nächsten Wochen" kommen und noch weitere in diesem Jahr, verspricht er.
Außer dem "Iris-T guy" ist ein Produzent von Minenräumungsfahrzeugen mit Habeck nach Kiew gereist und ein Aufklärungsdrohnen-Start-up, das eine Zweigstelle in der Ukraine eröffnet. Mit freundlicher Unterstützung des Vizekanzlers. Der andere Teil der Delegation besteht aus der Energiewirtschaft.
Putin zerbombt die Strominfrastruktur, fünf von sechs Kohlekraftwerken sind kaputt. Die Deutschen sollen helfen, wollen helfen. Wenn es nach Habeck geht, viel mit Solarenergie. Tausende Dächer mit Sonnenkollektoren seien schwieriger zu zerschießen als eine Handvoll Kraftwerke.
Ein bedrückter Vizekanzler
Am späten Donnerstagabend sitzt Robert Habeck im elften Stock seines Hotels in einer Bar. Draußen leuchtet die Kulisse Kiews, drinnen sind Champagner, Cognac und Weingläser mit Autogrammen von Prominenten in Vitrinen drapiert. Ein DJ legt sanften Techno auf.
Der Vizekanzler hat zur Hintergrundrunde mit den mitgereisten Journalisten geladen. Man darf aus diesen Gesprächen nicht zitieren. Offenere Worte unter der Bedingung der Vertraulichkeit, das ist der Deal. Habeck, so viel kann man verraten, ist an diesem Abend nicht nach Champagner und Tanzen zumute.
Es ist ein nachdenklicher, besorgter, auch bedrückter Vizekanzler, der hier über den Dächern einer Hauptstadt im Krieg sitzt. Nach der Vizepremierministerin hat Habeck den Präsidenten Wolodymyr Selenskyj getroffen. Es ging wieder um Energie und vor allem um Waffen. Die Ukraine erhofft sich mehr von Europa und von Deutschland, das ist kein Geheimnis. Selenskyj wird das auch in diesem Gespräch deutlich gemacht haben.
Er ist ein Präsident im Überlebenskampf, der immer wieder um Unterstützung betteln muss. Habeck kann das nicht gefallen, es ist ihm unangenehm, das wird deutlich auf dieser Reise. Und doch bleibt dem Vizekanzler wenig anderes übrig, als bei jeder Gelegenheit zu betonen, dass Deutschland ja vor wenigen Tagen ein weiteres Patriot-Luftabwehrsystem geliefert hat. Man könnte auch sagen: ein einziges.
Egal wie, Hauptsache mehr Geld
Habeck will, dass Deutschland deutlich mehr Geld für Rüstung ausgibt, damit es "sicherheitsfähig" wird, wie er gerne sagt. Natürlich nicht nur, um die Ukraine zu unterstützen, aber eben auch. Nur wer Waffen hat, kann Waffen abgeben. Und die Ukraine verteidigt Europa eben gerade gegen Russland, so sieht es Habeck.
Mit seiner Reise verbindet Habeck deshalb auch eine Botschaft an die heimischen Koalitionspartner von SPD und FDP. Besonders die Liberalen teilen zwar das Ziel, mehr für Verteidigung auszugeben. Doch sie wollen das aus dem Haushalt zahlen, in dem nächstes Jahr schon jetzt mehr als 25 Milliarden Euro fehlen.
"Wenn es richtig ist, dass der Kampf, den die Ukrainer kämpfen, ein Kampf für die Friedensordnung in Europa ist", sagt Habeck, "dann gibt es eine Aufgabe, diesen Kampf so zu finanzieren, dass er nicht verloren geht. Dass er gewonnen wird." Und wenn diese Aufgabe von allen geteilt werde, "müssen die Instrumente und die finanziellen Bedürfnisse dieser Aufgabe folgen".
Soll heißen, es ist Habeck egal, wie die Ampel das Geld zusammenbekommt: die Schuldenbremse dieses Jahr wieder aussetzen, sie mittelfristig reformieren oder ein neues Sondervermögen aufsetzen. Aber zusammenbekommen muss sie es, davon ist er überzeugt, dazu fühlt er sich verpflichtet. Ist es mehr als eine Hoffnung?
Drei Mal Luftalarm und ein Raketeneinschlag
Am Freitag wacht Robert Habeck in der Realität auf, der Realität des Krieges. Um 4.40 Uhr schrillen die Sirenen, Luftalarm. Der Vizekanzler wird von seinen Personenschützern in den Luftschutzkeller gebracht. In grünem Kapuzenpullover sitzt Habeck anderthalb Stunden in der umfunktionierten Tiefgarage des Hotels und trinkt Kaffee.
Seine Kolonne kann erst mit Verspätung Kiew verlassen. Er trifft sich mit Soldaten des ukrainischen Militärs und besucht ein Krankenhaus, weit südlich der Hauptstadt in der Region Mykolajiw. Zu Beginn des Krieges gab es hier heftige Gefechte. Das Krankenhaus wurde von Raketen getroffen. Inzwischen ist es auch mit deutschem Geld wiederaufgebaut worden, Solaranlage inklusive.
Habeck schaut sich hier die neuen Ultraschallgeräte und Behandlungszimmer an, keine kranken Menschen. Ein bisschen Hoffnung. Doch gleich zweimal muss er in der einen Stunde des Besuchs wegen Luftalarm in den Bunker. Nicht ungewöhnlich für diese Region, sagen Menschen, die sich damit auskennen.
"Mir ist noch mal klargeworden", sagt Habeck zum Abschluss, "wie sehr dieses Land noch mit den Folgen und der Gegenwart des Krieges lebt und auch zu kämpfen hat." Er findet: "Diese Zerrissenheit, die macht im Moment die Ukraine aus". Zum einen darum zu kämpfen, die Gegenwart zu bestehen – und zum anderen die Zukunft zu gestalten.
Als der Vizekanzler die Ukraine über die Grenze nach Moldau verlässt, fährt seine gepanzerte Kolonne an einer riesigen Rauchsäule vorbei. In der Region Odessa ist eine russische Rakete in einen Hafen eingeschlagen. Mehrere Menschen sterben an diesem Tag auch an anderen Orten, weil Putin Raketen, Bomben und Drohnen losschickt.
Die Gegenwart, sie droht in der Ukraine gerade die Zukunft zu verschlucken.
- Reise mit Robert Habeck nach Kiew