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Ukraine-Krieg: "Russland bereitet neue Offensive vor" – Kiew vor Problemen


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Lage an der Ukraine-Front
"Soldaten werden teils auf der Stelle erschossen"

InterviewVon Simon Cleven

Aktualisiert am 11.04.2024Lesedauer: 5 Min.
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Charkiw: Bürgermeister spricht von der "schwierigsten Zeit in der Geschichte der Stadt". (Quelle: t-online)
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Zuletzt häuften sich die Hiobsbotschaften von der ukrainischen Front: Die russische Armee erreicht immer wieder Gebietsgewinne. Dabei wird der Krieg stetig brutaler, sagt Militäranalyst Franz-Stefan Gady.

Für die Ukraine spitzt sich die Lage zu. Die russischen Truppen rücken im Donbass vor, gleichzeitig fliegt Russlands Luftwaffe verheerende Angriffe auf die ukrainischen Frontstellungen und viele Städte im gesamten Land. Die Verteidiger stehen dabei mancherorts mit dem Rücken zur Wand, es mangelt an Munitionsnachschub für die Flugabwehr. Die Appelle von Präsident Wolodymyr Selenskyj an die Unterstützer werden drängender.

Das ist jedoch nicht das einzige Problem. Militäranalyst Franz-Stefan Gady macht im Gespräch mit t-online auf weitere Schwachstellen aufmerksam und warnt: Schon bald könnte eine größere russische Offensive bevorstehen.

t-online: Herr Gady, erst im März haben Sie erneut die Front in der Ukraine besucht. Mit welchen Eindrücken sind Sie wieder nach Hause gefahren?

Franz-Stefan Gady: Der Kampfeswillen der Ukrainer scheint ungebrochen, es gibt aber deutliche Anzeichen der Erschöpfung. Das Personal an der Front ist im Durchschnitt über 40 Jahre alt. Es ist ein Krieg der Männer mittleren Alters, mit nur wenigen Ausnahmen. Außerdem habe ich den Eindruck gewonnen, dass der Krieg zunehmend verroht.

Woran machen Sie das fest?

Es gibt immer mehr Hinweise darauf, wie brutal manche Teile der russischen Truppen von ihren Offizieren und Unteroffizieren geführt werden. Soldaten, die nicht vorrücken, werden teils auf der Stelle erschossen. So grausam es klingt: Aber aus militärischer Sicht löst das für die Russen möglicherweise kurzfristig das Moralproblem. Für die Ukrainer aber erschwert sich so die Verteidigung.

Militäranalyst Franz-Stefan Gady
(Quelle: Phillip Sulke)

Zur Person

Franz-Stefan Gady (41) gehört zu den besten ausländischen Kennern der militärischen Lage in der Ukraine. Mehrfach hat er das Land seit Februar 2022 besucht. Gady ist Senior Fellow am International Institute for Strategic Studies in London und Adjunct Senior Fellow am Center for a New American Security in Washington. Der Österreicher berät Regierungen und Streitkräfte in Europa sowie den Vereinigten Staaten.

Warum ist das so?

Es scheint so, dass sich in einigen russischen Einheiten Soldaten selbst dann nicht zurückziehen, wenn sie verwundet sind. Für die Ukrainer bedeutet das, dass sie solche Einheiten bis zum letzten Mann zerstören müssen – und dabei womöglich selbst eigene Verluste riskieren.

Die Brutalisierung des Krieges ist enorm und nimmt stetig zu. Das führt auf beiden Seiten zu großen Abnutzungserscheinungen, sowohl mental als auch körperlich. Die Folgekosten des Krieges werden daher für die ukrainische und russische Gesellschaft immens sein.

Ein Ende des Krieges ist derzeit nicht absehbar. Stattdessen rücken die russischen Truppen an mehreren Frontabschnitten stetig vor. Wie würden Sie die Lage beschreiben?

Russland bereitet eine neue Offensive vor, die in den kommenden Monaten starten könnte. Das Hauptziel der russischen Armee sind in dieser Vorbereitungsphase nicht etwa Gebietsgewinne, sondern den Ukrainern möglichst hohe Verluste bei Soldaten und Material zuzufügen. Das Bedenkliche dabei ist, dass es den russischen Streitkräften dennoch gelingt, an manchen Stellen weiteres Territorium unter ihre Kontrolle zu bringen.

Wie schafft die russische Armee das?

Die Russen profitieren von den Defiziten der Ukraine: Dort fehlt es an frischen Soldaten – vor allem Infanterie –, gut ausgebauten Verteidigungsanlagen und nicht zuletzt an ausreichendem Munitionsnachschub. Russland befeuert diese Probleme zum Beispiel mit einer intensiv geführten Luftkriegskampagne.

Video | 100.000 Drachenzähne: Ukrainer bauen Verteidigung massiv aus
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Quelle: t-online

Wie sieht diese aus?

Die Russen wollen die ukrainische Flugabwehr vor ihrer Offensive schwächen, indem sie sie durch Luftangriffe zwingen, die Munitionsvorräte für ihre Flugabwehrsysteme aufzubrauchen – teilweise mit Erfolg, wie mir scheint. Das lässt sich etwa an gesunkenen Abschussraten ableiten. Dadurch fühlt sich die russische Luftwaffe sicherer: Die Flieger kommen näher an die Frontlinie heran, können dort mehr der zerstörerischen Gleitbomben abwerfen. Zudem gibt es wieder zunehmend Angriffe mit Drohnen, Raketen und Marschflugkörpern im Westen der Ukraine, also weit hinter der Front.

Und ist die Ukraine wehrlos gegen solche Angriffe?

Nein, absolut nicht. Die Ukraine verteidigt sich weiterhin mit teils sehr innovativen Konzepten, insbesondere bei der Abwehr von Drohnen und Marschflugkörpern. Ältere Waffensysteme werden mit modernster Aufklärungstechnologie ausgestattet und so für die Abwehr von russischen Angriffen aus der Luft eingesetzt. Doch man darf nicht vergessen, dass sich die technische Komponente alle zwei bis drei Monate ändert: Sowohl auf ukrainischer als auch russischer Seite passt man sich an den Gegner an.

Außerdem versucht die Ukraine zunehmend, der russischen Luftwaffe in Russland selbst Schaden zuzufügen. Auch dabei bedient sie sich vor allem Drohnen. Wie militärisch durchschlagend die Angriffe sind, lässt sich bisher aber nicht abschätzen.

Als Problem haben Sie außerdem fehlendes Personal auf ukrainischer Seite ausgemacht.

Genau, das ist sogar das Grundproblem der Ukrainer. Es fehlt an Infanterie, vor allem an jüngeren Soldaten, die an der Front effektiv eingesetzt werden können. Die Truppen an der Front müssen rotiert werden können, um russische Durchbrüche effektiv zu verhindern.

Dieses Defizit kann nur mit einer größeren Mobilisierungswelle angegangen werden. Das ist zwar politisch eine unpopuläre und sehr harte Entscheidung, aus militärischer Sicht aber unvermeidbar. Sonst könnte ein Szenario für die Ukrainer entstehen, das die Russen in der Region Charkiw bereits erlebt haben. Im Herbst 2022 haben die Ukrainer dort ausgedünnte Frontlinien durchbrochen und schnell große Geländegewinne erzielt. Nun könnte es mancherorts andersherum laufen.

Welche Frontabschnitte sehen Sie da besonders gefährdet?

Aktuell spitzt sich die Situation um die Stadt Tschassiw Jar in Donezk zu. Der Ort ist von großer Bedeutung, da er auf einer Anhöhe liegt, von der man auch andere Städte wie Kostjantyniwka angreifen kann. Und damit wiederum schafft man die Voraussetzung, um die Hauptverteidigungslinie der Ukrainer im Donbass von den Flanken anzugreifen, die bei Slowjansk und Kramatorsk liegt. Darüber hinaus wird der Druck im Süden in der Gegend um Saporischschja und Robotyne weiter erhöht.

Sehen Sie an diesen Orten mögliche Punkte, auf die Russland seine wohl anstehende Offensive konzentrieren könnte?

Das lässt sich schwer abschätzen. Die russischen Streitkräfte versuchen, an mehreren Stellen die Voraussetzungen dafür zu schaffen. Ich sehe die größten Bemühungen im Donbass, also in den Regionen Donezk und Luhansk. Diese Gebiete zu kontrollieren, ist noch immer ein unmittelbares Ziel des russischen Angriffskriegs. Aber die Situation ist dynamisch. Was heute gilt, kann sich schon morgen ändern.

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Manche Stimmen warnen vor einer Offensive in Richtung der Millionenstadt Charkiw. Sehen Sie das als Möglichkeit?

Selbstverständlich ist das eine Möglichkeit, ich sehe derzeit aber keinen Schwerpunkt auf der Region. Deswegen halte ich das zum jetzigen Zeitpunkt für eher unwahrscheinlich. Man muss aber abwarten, wo der Fokus gesetzt wird, wie schnell die Russen neue Einheiten mobilisieren können, wie die Materiallage bei ihnen ist.

In den vergangenen Monaten wurde vielfach kritisiert, dass die Ukraine mit dem Ausbau ihrer Verteidigungsanlagen nicht vorankomme und zu spät angefangen habe. Wie haben Sie den Zustand der Stellungen an der Front erlebt?

Was die Verteidigungsanlagen betrifft, bin ich deutlich optimistischer als noch vor wenigen Wochen. Die Ukrainer haben einen Plan und gehen systematisch vor. Das Problem sind hier jedoch abermals die russischen Luftangriffe, vor allem die Gleitbomben. Diese können selbst befestigte Anlagen zerstören und sind daher eine große Gefahr für die Ukrainer. Auch das zeigt wieder, dass es besonders an Flugabwehr fehlt.

Herr Gady, vielen Dank für dieses Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Telefoninterview mit Franz-Stefan Gady
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