Ukraine-Krieg "einfrieren"? "Russland wähnt sich auf der Siegerstraße"
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Das politische Berlin streitet seit Tagen über ein "Einfrieren" des Kriegs in der Ukraine. Eigentlich aber handelt es sich um eine Scheindebatte, meint ein Experte.
Seit Tagen schwebt besonders eine Debatte über dem Berliner Regierungsviertel: der Streit um ein "Einfrieren" des Kriegs in der Ukraine. Angestoßen hatte ihn SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich: "Ist es nicht an der Zeit, dass wir nicht nur darüber reden, wie man einen Krieg führt, sondern auch darüber nachdenken, wie man einen Krieg einfrieren und später auch beenden kann?", fragte er vergangene Woche im Bundestag.
Mützenich bekommt seitdem von vielen Seiten Gegenwind. Zuletzt hat ihm auch Deutschlands oberster Soldat, Bundeswehrgeneralinspekteur Carsten Breuer, widersprochen. "Das Einfrieren eines Krieges setzt die Akzeptanz hierfür auf beiden Seiten voraus. Es gibt auf der Welt kaum einen eingefrorenen Konflikt, der nicht wieder aufgeflammt wäre. Die derzeitige militärische Situation in der Ukraine lässt ein Einfrieren des Krieges weder möglich noch erstrebenswert erscheinen", erklärte Breuer den Zeitungen der Funke Mediengruppe.
Breuer schlägt damit in die gleiche Kerbe wie zuvor Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD): "Es würde am Ende nur Putin helfen", hatte dieser am Montag erklärt. Zuvor waren Mützenich bereits Politiker anderer Parteien in die Parade gefahren. Und auch Fachleute sehen im Vorstoß des SPD-Fraktionschefs nicht die Lösung für den Krieg. Der Sicherheitsexperte Ulrich Kühn bezeichnet die Debatte im Gespräch mit t-online als "Kriegsnebenschauplatz". Er kann kaum Verständnis für Mützenichs Aussagen aufbringen.
"All diese Konflikte verbindet, dass Russland eine signifikante Rolle spielt"
Der Experte des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg begründet das auch mit der Definition von "eingefrorenen Konflikten". Dabei handle es sich nämlich um solche Konflikte, die im postsowjetischen Raum nach dem Zerfall der Sowjetunion entstanden seien. Als Beispiele nennt der Experte den Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan, die abtrünnigen georgischen Regionen Abchasien und Südossetien sowie das moldauische Separatistengebiet Transnistrien.
Zur Person
Ulrich Kühn leitet den Forschungsbereich "Rüstungskontrolle und Neue Technologien" am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH). Sein Fokus liegt auf Rüstungskontroll- und Nichtverbreitungsmechanismen, dem Paradigma der Abschreckung, euroatlantischer und europäischer Sicherheit sowie internationaler Sicherheitsinstitutionen.
"All diese Konflikte verbindet, dass Russland stets eine signifikante Rolle spielt", sagt Kühn. Außerdem seien sie teils sehr blutig geführt und dann unter diplomatischer Vermittlung "eingefroren" worden. "Es wurden also die Kämpfe beendet, ohne aber eine politische Lösung des eigentlichen Konflikts zu finden", erklärt Kühn. Stattdessen habe man auf wirtschaftlichen und politischen Austausch gesetzt, der dann potenziell zu einer Lösung führen sollte.
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"Erfolgreich war dieser Weg eigentlich nie", sagt Kühn. So hat Aserbaidschan erst im vergangenen Jahr mit militärischen Mitteln die Konfliktregion Bergkarabach erobert. Mehr dazu lesen Sie hier. In Transnistrien würden zwar derzeit keine Kämpfe geführt, so Kühn, die Lage sei aber angespannt. Erst im Februar baten transnistrische Separatisten Moskau um "Schutz" und ließen so Sorgen vor einer militärischen Intervention Russlands wachsen. "Und in Georgien hat es 2008 zunächst eine Provokation der Regierung gegeben und dann einen russischen Einmarsch, gelöst ist der Konflikt um die abtrünnigen Regionen aber nicht", erklärt Kühn.
"Russland wähnt sich derzeit militärisch auf der Siegerstraße"
Angesichts dessen stimme er den Aussagen des Generalinspekteurs der Bundeswehr vollumfänglich zu, sagt der Sicherheitsexperte. Weder die Ukraine noch Russland seien derzeit an einem "Einfrieren" des Kriegs interessiert. "Russland wähnt sich derzeit militärisch auf der Siegerstraße, Putin sieht keinen Grund, jetzt anzuhalten", so Kühn. "Und die Ukraine will, dass sich die russischen Truppen vollumfänglich von ihrem Staatsgebiet zurückziehen. Beide Seiten haben ihren Standpunkt mehrfach deutlich gemacht."
Aus diesem Grund verstehe er die Debatte in Deutschland nicht, "es gibt schlicht keine Grundlage dafür", sagt Kühn. Seiner Ansicht nach handle es sich deshalb um einen "Kriegsnebenschauplatz". Es sei reine Spekulation, ob die Situation in einigen Monaten möglicherweise anders aussehe, eine der Seiten dann vielleicht ein "Einfrieren" bevorzugen würde.
Kiew muss eine dringende Frage klären
"Statt solcher Diskussionen sollte sich die deutsche Politik darauf konzentrieren, die Ukraine dort militärisch zu unterstützen, wo sie es braucht", fordert Kühn. Dabei gehe es vor allem um Artilleriemunition und Flugabwehr. Die Ukraine leidet derzeit unter akutem Munitionsmangel bei ihrer Artillerie. Zuletzt hatte es eine tschechische Initiative zur Beschaffung von rund 800.000 Schuss auf dem Weltmarkt gegeben. Auch Deutschland schließt sich dabei wohl mit einem dreistelligen Millionenbetrag an.
Dazu muss laut Kühn jedoch auch die Ukraine eine dringende Frage klären: die nach einer weiteren Mobilisierung. "Der politische Prozess dazu scheint momentan festzustecken", sagt der Experte. Schon der mittlerweile entlassene Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, Walerij Saluschnyj, hatte 500.000 neue Soldaten gefordert. Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte ein entsprechendes Gesetz bereits ins Parlament eingebracht, die Abgeordneten antworteten mit mehr als 4.000 Änderungsanträgen. Mehr dazu lesen Sie hier. Ende März könnte es zu einer Entscheidung kommen.
- Interview mit Ulrich Kühn
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa