Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Krieg in der Ukraine "Das ist für Putin katastrophal"
US-Präsident Joe Biden warnt vor einem möglichen Angriff Russlands auf die Nato, sollte Wladimir Putin seinen Angriffskrieg gewinnen. Doch wie dramatisch ist die Lage für die Ukraine wirklich? Ein Überblick.
Die Stimmung im Westen ist schlecht, so schlecht wie seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine nicht mehr. Seit dem Scheitern der ukrainischen Gegenoffensive im Jahr 2023 bröckelt die westliche Unterstützung für das Land immer weiter. In den USA blockieren die Republikaner Hilfsgelder, und auch die Europäische Union kann sich nicht auf ein Paket einigen, weil der ungarische Ministerpräsident Victor Orbán ein Veto einlegte.
Fest steht: Von der Schwäche des Westens profitiert vor allem Kremlchef Wladimir Putin. Experten sind sich einig darüber, dass die Ukraine ohne westliche Unterstützung nicht lange wird durchhalten können.
Der Sicherheitsexperte Christian Mölling erklärt im Interview, wie ernst die Lage für die Ukraine wirklich ist und warum kein westlicher Staat derzeit die Führungsrolle bei der Unterstützung der ukrainischen Armee übernehmen möchte.
t-online: Bundeskanzler Olaf Scholz und CDU-Chef Friedrich Merz haben vergangene Woche die Lage in der Ukraine als "schwierig" beschrieben. Ist das nicht etwas untertrieben?
Christian Mölling: Es gibt durchaus eine Lücke in der Argumentation des Kanzleramts. Deutschland möchte zwar die Ukraine unterstützen, gibt ihr aber nicht das, was dafür notwendig ist.
Was ist notwendig?
Die Ukraine bekommt in der Masse viel zu wenig militärisches Gerät und Munition. Wir haben im Jahr 2023 erlebt, dass die Ukraine ihre Ziele auch nicht erreicht hat, weil wir sie nicht in dem Maße unterstützt haben, wie es notwendig war. Das setzt sich fort.
Christian Mölling ist stellvertretender Direktor des Forschungsinstituts Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) und Leiter des Zentrums für Sicherheit und Verteidigung. Er studierte Politik-, Wirtschafts- und Geschichtswissenschaften an den Universitäten Duisburg und Warwick und promovierte an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Das ist aber nicht nur ein deutsches Problem.
Nein, ist es nicht. Aber es ist falsch, aus der Unterstützung der Ukraine einen Schönheitswettbewerb zu machen. Sondern die Maßgabe muss sein, ob die Unterstützung für die Ukraine ausreichend ist, um den Krieg gegen Russland zu gewinnen. Und da wird insgesamt zu wenig geleistet.
Wer macht aus der Ukraine-Unterstützung einen Wettbewerb?
Die Bundesregierung erwähnt oft, dass Deutschland nach den USA der zweitgrößte Unterstützer der Ukraine ist. Das hilft nur der ukrainischen Armee nicht, wenn die Unterstützung in Summe nicht ausreicht. Das ist schlecht. Vor allem, weil bislang auch Deutschland nicht die Produktionskapazitäten auf einen langen Krieg eingestellt hat.
Im Gegensatz zu Wladimir Putin und seiner Rüstungsindustrie.
Genau.
Woran liegt das? Deutsche Schlafmützigkeit oder glaubt das Kanzleramt nicht, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnen kann?
Das ist unklar. Das Kanzleramt schien sich relativ früh festgelegt zu haben, dass man irgendwann sowieso verhandeln muss. Das stimmt ja auch. Aber die bis heute unbeantwortete Frage ist: Welchen Aufwand möchte Deutschland betreiben, um die Ukraine in eine gute Verhandlungsposition zu versetzen und Verhandlungen überhaupt zu ermöglichen, indem Russland dauerhaft seine Ziele nicht erreichen kann?
Einigkeit darüber scheint es nicht zu geben. Immerhin zögert auch Deutschland in Fragen der Unterstützung für die Ukraine immer wieder.
Wir erkennen zumindest, dass innenpolitische Probleme in Deutschland diese außenpolitische Frage immer wieder überlagern. Das ist nicht nur bei uns so, sondern auch in den USA.
Inwiefern?
Die Republikaner blockieren aktuell die Freigabe der Ukraine-Hilfen, um Zugeständnisse der Biden-Administration bei Migrationsfragen zu erpressen. Es ist absurd. Für die USA sind die Grenzübertritte von Mexiko wichtiger als der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine. Das zeigt: Ohne Rücksicht auf die Innenpolitik tun sich Demokratien schwer im Umgang mit einem Angriffskrieg.
Wenn die USA mit Blick auf die US-Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr komplett wegfallen würden, dann wäre es unwahrscheinlich, dass Europa aus eigener Kraft die Ukraine ausreichend unterstützen könnte.
Das wäre fatal – und trotzdem handeln wir nicht. Es ist schon lange klar, dass Donald Trump zurück ins Weiße Haus kommen und welche Unsicherheiten das bringen könnte. Nun kann auch das Kanzleramt sagen, dass Politik oft reaktiv sein muss. Aber das ist Unsinn, weil industrielle Weichenstellungen bei der Waffenproduktion viel Zeit kosten. Das hat man verpasst und schläft weiterhin. Selbst wenn die Ukraine die produzierte Munition nicht benötigen würde, wäre es kein Problem, Abnehmer dafür zu finden. Allein die Bundeswehr hat einen riesigen Bedarf an Artilleriemunition.
Trotzdem tut Deutschland nicht wirklich etwas, um diesen Mangel auszugleichen.
Der Kanzler ist auch sehr verhalten in seiner Kommunikation. Scholz erklärte kürzlich im Bundestag, dass man sich darauf einstellen müsse, die Lücke, die die Amerikaner lassen, zu füllen. Aber wie soll das gehen? Die USA sind der größte Unterstützer der Ukraine mit militärischen Gütern. Es ist schließlich kein finanzielles Problem, sondern wir haben schlichtweg die Produktionskapazitäten nicht geschaffen. Die Ukraine kann Russland nicht mit Euros bekämpfen.
Ist Scholz zu naiv oder liegen seine Ziele woanders?
Scholz steht auf der Bremse, weil die innenpolitische Lage in Deutschland fragiler geworden ist. Es ist ein politisches Risiko für den Kanzler, in einer Zeit ausreichend Ressourcen für die Ukraine bereitzustellen, in der über Haushaltslöcher und Belastungen für die Bevölkerungen debattiert wird. Außerdem hat er den Schulterschluss mit den USA gewagt, weil er selbst keine Führungsrolle für Deutschland wollte. Nun schlagen die Probleme und die Verzagtheit der Amerikaner auch auf uns durch.
Wer möchte denn überhaupt eine Führungsrolle im Westen?
Das ist eine gute Frage. Keine westeuropäische Regierung scheint momentan bereit zu sein, innenpolitische Risiken für die Ukraine einzugehen. In vielen westlichen Demokratien gibt es unterschiedliche Prioritäten, die in Konkurrenz zur Priorität des Ukraine-Konfliktes stehen. Und dabei geht es nicht nur ums Geld.
Aber hauptsächlich ums Geld?
Klar, letztendlich läuft es oft darauf hinaus. Aber für EU-Länder wie Portugal ist der Konflikt weiter weg als zum Beispiel für das Baltikum – vor allem in der Wahrnehmung der Bedrohung durch Russland. Das beeinflusst auch die politische Priorisierung der Ukraine-Fragen in den Ländern.
In Deutschland scheint diese Priorisierung auch nicht besonders hoch zu sein. Zumindest ist die Bundesregierung recht still geworden in diesem Kriegswinter.
Zumindest möchte sie die Diskussion über weitere Ukraine-Gelder aktuell offenbar nicht führen. Es scheint so, dass dieses Thema im Zuge des Haushaltsstreits zu viel Zündstoff hat. Tatsächlich müsste man für 2024 schon die Notlage ausrufen, um mehr Mittel für die Ukraine lockermachen zu können. Aber ohne die Rücksichtnahme auf die Schuldenbremse hätte es keinen Kompromiss gegeben.
Wird das zum Vorteil für Putin?
Putin muss sich zumindest nicht mit der FDP herumstreiten, die in dieser Lage auf die Bremse tritt.
Ist es denn mittlerweile zu spät für eine neue industrielle Weichenstellungen? Putin hat damit schon Mitte 2022 begonnen und die russische Produktion auf Kriegswirtschaft umgestellt.
Nein, es ist nicht zu spät. Darüber hinaus ist das die falsche Frage: Es wäre in jedem Fall richtig, im Bereich der Munition Kapazitäten zu schaffen. Einerseits zur Verteidigung der Ukraine, andererseits zum Schutz des Nato-Territoriums vor Russland. Besonders die Anzahl der russischen Raketen wird uns in ein paar Jahren vor erhebliche Probleme stellen.
Meinen Sie, Russland könnte die Nato angreifen?
Das Risiko steigt bei einem militärischen Ungleichgewicht natürlich. Niemand kann voraussagen, ob Putin einen Angriff wagen würde, aber er wittert unsere Schwäche. Je schwächer die Nato ist, desto interessanter wird, desto interessanter ist ein Angriff für Russland. Es geht für Putin nicht darum, militärisch zu siegen. Er wird die Nato testen, um sie zu einem Offenbarungseid zu treiben.
Das bedeutet?
Eine Diskussion innerhalb der Nato, ob sie im Fall der Fälle das Baltikum verteidigen muss oder nicht. Putin hat keinen Zeitdruck. Er wird erst einmal darauf schauen, wie im kommenden Jahr die US-Wahl ausgeht.
Geht Putins Kriegsstrategie auf?
Nein, das würde ich nicht sagen. Dafür hat die russische Armee zu hohe Verluste und dafür wurden zu wenige von Putins Kriegszielen erreicht. Putin ist letztlich ein Getriebener.
Das müssen Sie erklären.
Der russische Präsident kann aus dem Krieg nicht aussteigen, weil er bislang mit seiner Invasion in der Ukraine nichts erreicht hat. Er will seine Machtbasis in Russland nicht unterminieren und bietet deshalb keinen Kompromiss und keine Zugeständnisse an. Denn wenn der Krieg endet, wird auch in Russland Bilanz gezogen, und die ist für Putin katastrophal. Bislang hat Putin nicht geliefert, sondern lediglich die Voraussetzungen dafür getroffen, dass Russland diesen Krieg lange wird führen können. Deswegen ist das Gerede über Verhandlungen Unsinn, weil die russische Führung diese gar nicht wollen kann – es wäre womöglich ihr Ende.
Wahrscheinlich bestärkt Putin das in dem Glauben, seine Kriegsziele erreichen zu können.
Richtig. Dabei geht es ihm nicht nur um die annektierten Oblaste. Putin will die politische Kontrolle über die Ukraine. Das heißt nicht unbedingt, dass er das ganze Land einnehmen möchte. Russland möchte aber kontrollieren, was in dem Land passiert.
Hat diese Brüchigkeit der westlichen Unterstützung denn schon konkrete Folgen für die Ukraine und den Krieg?
Die ukrainische Armee muss schon jetzt Munition rationieren. Zwar halten die Frontlinien noch, aber sie verliert immer mehr an Handlungsspielraum.
Und es wächst auch die interne Kritik an der Militärstrategie. Der Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko schießt gegen Präsident Wolodymyr Selenskyj oder ukrainische Soldaten sprechen in der "New York Times" über die desolate Lage am Dnipro im Süden.
Die Stimmung ist natürlich nicht gut. Trotzdem ist sie nicht so schlecht, dass die Ukraine in dem Krieg zum Scheitern verurteilt wäre. Es geht für sie schlichtweg ums Überleben, deswegen kämpft sie weiter. Aber auch davon könnte Russland profitieren. Der Kreml wartet auf diese Gelegenheiten, um die Ukraine weiter zu destabilisieren. Das liegt in seiner DNA. Russische Akteure auch in der Ukraine werden jedes Fenster nutzen, das aufgeht, um für Russland politische Macht über die Ukraine zurückzugewinnen. So haben sie in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder agiert.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Mölling.
- Gespräch mit Christian Mölling