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Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Taurus-Absage des Kanzlers Unglaubwürdig
Olaf Scholz hat der Ukraine für den Taurus-Marschflugkörper eine Abfuhr erteilt. Doch die Argumente des Kanzlers wirken vorgeschoben. Warum sagt er den Deutschen nicht, was er wirklich denkt?
Kanzler Olaf Scholz (SPD) hat in der Taurus-Debatte ein Machtwort gesprochen: Er werde keine deutschen Taurus-Marschflugkörper an die Ukraine liefern, sagte er am Rande des Europagipfels im spanischen Granada.
Damit beendete der Kanzler ein monatelanges Tauziehen, bei dem viele bis zuletzt gehofft hatten, es handele sich um den typisch deutschen Eiertanz um Waffenlieferungen: Erst zögern, dann zusagen. "Ihr werdet es sowieso machen", rief der ukrainische Außenminister Kuleba seiner deutschen Amtskollegin Baerbock noch im September etwas brüsk zu.
Doch diesmal ist es anders. Scholz hat eine Lieferung fürs Erste kassiert. Gründe für seine Absage hat der Kanzler auch geliefert, in klassischer Scholzmanier: nur in Ansätzen erklärend, raunend, möglichst allgemein gehalten. Also so, dass sie kaum jemand versteht. Das ist so typisch, wie es verkehrt ist. Denn Scholz drückt sich darum, den Deutschen, aber auch den Ukrainern klar zu sagen, was seine wahren Beweggründe sind. Die genannten jedenfalls wirken wenig glaubwürdig.
Hält der Kanzler die Ukrainer zu doof für den Taurus?
So gab Scholz in Granada zu Protokoll, bei den Waffenlieferungen in die Ukraine müsse beachtet werden, "was uns die Verfassung vorgibt und was unsere Handlungsmöglichkeiten sind". Was Scholz damit meint, soll er der "Bild" zufolge in einer Geheimrunde mit seinen wichtigsten Ministern ausgeführt haben.
Demnach habe der Kanzler argumentiert, dass die Programmierung westlicher Marschflugkörper kompliziert sei. Um Fehler und eine mögliche Eskalation mit Russland zu vermeiden, müssten eigene Soldaten vor Ort den Einsatz der Lenkwaffe überwachen. Im Fall von Taurus hieße das, deutsche Soldaten in die Ukraine zu entsenden, was ohne ein Mandat des Bundestags nicht möglich wäre.
Hält der Kanzler die Ukrainer für zu dumm, den Taurus alleine zu bedienen – oder vertraut er ihnen nicht?
Deutsche Soldaten vor Ort nicht vonnöten
Die Behauptung, westliche Waffen seien zu komplex für die Ukrainer, ist so alt wie die Invasion Russlands: Mal war es die Software des deutschen Gepard-Panzers, die für die Ukrainer angeblich zu kompliziert sei, mal waren es westliche Kampfpanzer. Nun sollen es die Lenkwaffen mit ihrem Navigationssystem sein. Doch bisher haben findige ukrainische Ingenieure noch jedes System aus dem Westen gemeistert, das ihnen zuvor nicht zugetraut wurde.
Außerdem heißt es in Branchenkreisen, dass dem Kanzleramt schon vor Wochen vonseiten des Herstellers mitgeteilt worden sei: Die Ukrainer können die Programmierung der Waffen selbst übernehmen. Die Ausbildung an den Taurus-Systemen dauere mehrere Wochen bis wenige Monate und könne auf deutschem Boden stattfinden.
Das bedeutet: Weder braucht es deutsche Soldaten, die vor Ort die Programmierung überwachen, noch ein Bundestagsmandat. Scholz' Geraune von "der Verfassung", die ihm Schranken setze, scheint also vorgeschoben zu sein. Oder weiß der Kanzler mehr als die Rüstungsindustrie?
Angst vor Eskalation
Scholz sagte in Granada außerdem, er müsse gewährleisten, "dass es keine Eskalation des Krieges gibt und dass auch Deutschland nicht Teil der Auseinandersetzung wird." Der Kanzler sorgt sich offenbar darum, dass die Ukrainer mit dem Taurus russisches Gebiet oder die Kertsch-Brücke angreifen, die Russland mit der völkerrechtswidrig besetzten Krim verbindet. Die Krim ist für Putin immens wichtig, sollte sie ernsthaft bedroht werden, rechnet man im Westen durchaus mit unkontrollierbaren Risiken.
Das ist sicherlich nichts, was einfach abgetan werden kann. Die Gefahr einer militärischen Eskalation in einem ohnehin schon brutalen Krieg muss ein deutscher Kanzler vor jeder Entscheidung genau prüfen.
Das tut Scholz, und das ist auch gut so. Nur erklärt auch das nicht, warum Deutschland keine Marschflugkörper liefern will. Denn der Taurus kann durch technische Eingriffe eingeschränkt werden, nach t-online-Informationen sogar auf doppelte Weise:
- in seiner Reichweite, sodass der Taurus statt 500 Kilometer zum Beispiel "nur" 400, 300 oder 200 Kilometer weit fliegen kann.
- in seinen Zielen durch "Geofencing", einem Verfahren, das bestimmte geografische Gebiete für den Marschflugkörper sperren kann, etwa Russland oder die Krim.
Risiken lassen sich eindämmen
Es ist daher wenig überzeugend, die Lieferung wegen eines Risikos zu blockieren, das sich von vorneherein eindämmen lässt. Und wenn dem Kanzler die technische Kastration des Taurus nicht reicht, warum lässt er dann kein Dokument aufsetzen, in dem sich die ukrainische Regierung dazu verpflichtet, Russland und die Krim-Brücke zu verschonen?
Damit verlöre die Waffe aus ukrainischer Sicht zwar einen ihrer Vorzüge, würde Kiew aber dennoch im Abwehrkampf gegen Putins Aggression helfen, etwa beim Ausräuchern russischer Kommandoposten oder gut gehärteter Logistikdepots.
Ebenso unklar bleibt es, warum gerade der deutsche Taurus den Kremlherrn in die Eskalation treiben soll – wo doch längst ähnliche britische und französische Systeme in der Ukraine sind und sogar gegen Ziele auf der Krim eingesetzt werden. Was ändert sich durch einen Flugkörper made in Germany?
Lässt sich Scholz innenpolitisch treiben?
Viel spricht daher dafür, dass Scholz' Absage nicht nur als Botschaft an Russland gerichtet ist, sondern auch an Deutschland – und zwar an den Teil der Bevölkerung, der die Lieferung immer neuer Waffen an die Ukraine skeptisch sieht. Tatsächlich lehnen laut einer Umfrage vom September 57 Prozent der Befragten die Taurus-Lieferung ab. Der Kanzler liegt im Mainstream.
Allerdings zeigt die Befragung auch: Die Ablehnung schmilzt. Noch im August waren 66 Prozent dagegen. Die Haltung der Deutschen ist also nicht statisch, sondern wird auch von der politischen Debatte geprägt. Das war auch bei den Panzern so, die ebenfalls mal mehrheitlich abgelehnt wurden.
Scholz kneift – statt die Debatte zu prägen
Nur: Diese Debatte verweigert Scholz beharrlich. Mit seinen vagen Andeutungen öffnet er den Raum für Spekulationen und schürt die Verunsicherung im Land. Und mit dem Nachschieben immer neuer Begründungen für sein Zögern stiftet Scholz noch mehr Verwirrung. Was ist eigentlich aus dem "strategischen Gleichschritt" mit den USA (die nun Taurus-ähnliche Waffen liefern) geworden, der im Kanzleramt mal als richtungsweisend galt?
Aus der SPD hört man beschwichtigend, der Kanzler versuche, durch besonnenes Handeln die Spaltung des Landes aufzuhalten. Doch wenn die Mehrheit nicht weiß, was der Regierungschef über eine zentrale Frage der nationalen Sicherheit denkt, wenn er die Debatte nicht führt, sich gar vor ihr versteckt – wen wundert dann noch die wachsende Skepsis und das Unbehagen im Land?
Mag sein, dass Scholz mit seiner Absage innenpolitisch punktet und damit einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung aus dem Herzen spricht. Doch der Krieg könnte noch Jahre dauern. Sollte es ihm wirklich darum gehen, die Ukraine Russland nicht zum Fraß vorzuwerfen und zugleich der wachsenden Kriegs- und Krisenmüdigkeit im Land etwas entgegenzusetzen, muss Scholz den Bürgern endlich erklären, wohin er die Republik steuern will. Nach der Taurus-Irrfahrt ist das unklarer denn je.
- Eigene Recherchen
- bild.de: "Scholz’ geheime Kriegs-Sorge" (kostenpflichtig)