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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Aus Frankfurt in den Donbass Der Deutsche in ukrainischer Kriegsgefangenschaft
Ein Video zeigt einen deutschen Staatsangehörigen in ukrainischer Gefangenschaft. Über seinen Zustand ist nichts bekannt. Über seinen Kampf für Russland aber so einiges.
Alexander F. trägt auf der Schulter ein Tattoo, das einiges über ihn verrät: Ein Fünfeck, das aus einem stilisierten gekippten K besteht, darüber die Buchstaben "CCCP", die kyrillische Version für UdSSR. Es ist das frühere Siegel für hochwertige Güter aus sowjetischer Produktion, Alexander F. trägt es wie einen Stempel. Acht Jahre ist es her, dass F. von Frankfurt in den Osten der Ukraine gereist ist, um dort für ein Großrussland zu kämpfen. Er* schloss sich damals den prorussischen Separatisten an.
Inzwischen ist Alexander F. Kriegsgefangener des ukrainischen Militärs, der einzige aus Deutschland, von dem man bislang weiß.
Mit blauem Auge im Video
Bekannt wurde das durch ein Video. Es zeigt zunächst Aufnahmen von Alexander F. als Kämpfer. Dann folgt ein harter Schnitt, eine comicartige Tafel wird eingeblendet mit dem englischen Wortlaut "Fünf Stunden später": Nun ist F. mit geschwollenem Gesicht, blauem Auge und Kopfverband zu sehen. Kleinlaut fordert er auf, den Kampf zu beenden. Das Video hat das Center for Strategic Communications der Ukraine vor Kurzem verbreitet. So etwas verstößt gegen die Genfer Konvention, nach der es verboten ist, Kriegsgefangene zur Schau zu stellen.
Die Aufnahmen von Alexander F. werfen ein Schlaglicht auf eine Seite des Krieges, über die bislang wenig bekannt ist: Deutsche, die auf russischer Seite kämpfen und was mit ihnen passiert, wenn sie in ukrainische Gefangenschaft geraten. Rund tausend deutsche Kämpfer sollen es ukrainischen Angaben zufolge sein, die für Russland im Einsatz sind. Aktuelle Zahlen von der Gegenseite gibt es nicht.
Einige kämpften offenbar bereits vor Ausbruch des Krieges im Osten der Ukraine, wie eine Antwort der Bundesregierung auf eine AfD-Anfrage 2017 zeigt. Damals teilte sie mit, dass es bei "26 in Deutschland gemeldeten Personen" eine "verdichtete Hinweislage auf einen zeitweisen Aufenthalt im Krisengebiet" gebe. Alle seien in den Jahren 2014 und 2015 in den Osten der Ukraine ausgereist, 20 davon zur Unterstützung der prorussischen Separatisten. Alexander F. war offenbar einer von ihnen.
Alexander F. stammt aus der Ukraine
Zwei Rückkehrer wurden 2019 verurteilt wegen des Vorwurfs der "Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat". Einer blieb mit einer Bewährungsstrafe auf freiem Fuß, der andere ging für zwei Jahre und drei Monate ins Gefängnis. Beiden wurde die eindeutige Absicht nachgewiesen, "einen bewaffneten Kampf gegen den ukrainischen Staat zu führen". Nicht nachzuweisen war, ob sie tatsächlich gekämpft hatten. Im Fall von Alexander F. dürfte das inzwischen anders sein.
Geboren wurde er 1983 in der sowjetischen Millionenstadt Dnepropetrowsk, die diesen russischen Namen heute nicht mehr trägt. Ukrainisch heißt sie Dnipro. Sie liegt am Fluss Dnepr. Mit seiner Familie mit deutschem Nachnamen zog Alexander F. als Teenager Mitte der 90er-Jahre nach Deutschland, wo er 17 Jahre lang lebte, zuletzt im Frankfurter Raum.
Die Verbundenheit zu seiner alten Heimat muss sich bei ihm schon vor seiner Abreise in den Donbass stärker gemeldet haben. 2009 gründete er in einem russischen sozialen Netzwerk eine Gruppe für seine alte Schule. Dort postete niemand so viele Bilder wie Alexander F. "Dnepr". "СССР" nennt er sich in dem Netzwerk. "Dnepr" wurde auch später sein Kampfname.
Es gibt in dem Netzwerk Fotos von ihm mit Freunden in einer Disco in der Nähe von Mainz. Ein anderes Bild zeigt ihn mit aufgeknöpftem Hemd an einem kleinen Fluss. 2013 ließ er sich in einer Militäruniform beim Paintball-Spielen fotografieren. Im selben Jahr postete er auch ein Foto mit einer Gaspistole Walther P22 mit Schalldämpfer Marke Eigenbau. Die mutmaßlich scharfe Munition passte nicht zur Waffe.
Im Donbass bekam er wenig später passende Munition. Am 25. Juli 2014, Alexander F. ist inzwischen 31 Jahre alt, taucht in seinem Profil ein erstes Foto aus der Ukraine auf. Es zeigt ihn am U-Bahn-Eingang in Charkiw.
Hand wurde bei Explosion zerfetzt
Es waren offenbar die Bilder von den Maidan-Protesten ab Dezember 2013 und die Absetzung des prorussischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch im Februar 2014, die Alexander F. in den Donbass trieben. "Als der Maidan begann, war ich bereits überzeugt, dass in unserem Land bald ein Bürgerkrieg ausbrechen würde", sagte er später in einem Video.
In einem anderen Video liegt er 2018 in einem Krankenbett, nachdem ihm eine Mörsergranate die Hand zerfetzt hat. Er erzählt darin, er sei ins Land gekommen, "damit unsere Kinder in der Schule nicht lernen, dass Bandera ein Held ist und damit die Allee der Engel nicht wächst." Stepan Bandera ist ein wegen seiner Kollaboration mit den Nazis auch innerhalb der Ukraine ein umstrittener ukrainischer Nationalist, der in Teilen des Landes als Nationalheld verehrt wird. Die Allee der Engel ist ein Mahnmal für die im Krieg bis 2015 gestorbenen Kinder im Donbass.
Seine Ziele von damals haben sich ins Gegenteil verkehrt. Im September wurde in seiner Geburtsstadt eine Straße in Stepan-Bandera-Straße umbenannt. Kinder sterben in diesem Krieg seit Monaten mehr als in allen Jahren zuvor. Und Alexander F. ist mittendrin im Kampf, der eben nicht nur Putins Krieg ist.
Alexander F. kämpfte in Mariupol
F. hat sich den Volksmilizen der selbsternannten Volksrepublik Donezk angeschlossen. Seine neue Heimat sei die Stadt Jassynuwata nahe Donezk, schreibt er in einem Profil. Als Hobby nennt er Sport und gibt an, ein "stabiles Durchschnittseinkommen" zu haben. Sein Profilbild kann noch nicht sehr alt sein, in seinem Gesicht ist eine verheilte Narbe zu sehen.
Sie stammt von einer Verletzung, die noch frisch ist, als ein Fotograf Anfang April 2022 in Mariupol ein eindrucksvolles Foto von Alexander F. schießt. Mit Helm auf dem Kopf steht er in Gedanken versunken inmitten von Trümmern neben Soldaten, die am Boden sitzen und plaudern. In der kalten Luft hat sich eine Atemwolke gebildet, die vom Sonnenlicht angestrahlt wird. Ein paar Tage später erklärt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, Mariupol sei "vollständig zerstört". Während die Stadt unter russische Kontrolle fällt, kapitulieren die letzten Truppen im Stahlwerk Asowstal am 16. Mai.
Die Schlacht um Mariupol ist geschlagen, und das 9. Marineregiment der DNR, dem Alexander F. angehört, kämpft nun zunächst bei Saporischschja, bekannt durch das Atomkraftwerk dort. Bilder von ihm entstehen dann im Juli, als seine Einheit in Awdijiwka vor den Toren von Donezk steht und dort Orte "befreit". Prorussische Kriegsberichterstatter können die Truppe besuchen. Alina Lipp, deutsche Putin-Propagandistin, postet ein Video, das ihn beim Schießen zeigt.
Das Video haben sich ukrainische Soldaten offenbar gemerkt. Am 17. Oktober taucht es im Telegram-Kanal StratCom UA auf, wo Erfolgsmeldungen und Durchhalteparolen verbreitet werden. Diese Kampfszene wird zum ersten Teil des Vorher-nachher-Videos. Dass er dann im zweiten Teil, mit Verband, seine Kameraden auffordert, das Kämpfen sein zu lassen, passt nicht zu seinen früheren Äußerungen. Der Verdacht liegt nahe, dass er das nicht freiwillig sagt. t-online zeigt die Szene deshalb nicht.
Deutsche Botschaft ringt um Informationen
In dem Messengerdienst haben viele Nutzer mit Lach-Smileys auf das Video des verletzten Mannes reagiert, der vor der Kamera eine Strickweste anhat, die auch von einer älteren Frau sein könnte. Derartige Zurschaustellung und Vorführung von Gefangenen kritisieren Menschenrechtsorganisationen seit vielen Jahren bei allen Kriegsparteien.
Das Video vom 17. Oktober ist zugleich das letzte öffentliche Lebenszeichen von Alexander F. Die Information über den deutschen Staatsangehörigen in ukrainischer Gefangenschaft hat inzwischen auch das Auswärtige Amt erreicht: "Die deutsche Botschaft in Kiew steht mit den ukrainischen Behörden zur Sachverhaltsaufklärung in Kontakt", erklärt eine Sprecherin in schönstem Behördendeutsch. Doch Informationen aus Kiew zu bekommen, ist schwierig im Krieg, zumal wenn täglich für Stunden der Strom ausfällt. Auch die ukrainische Botschaft in Deutschland schafft es innerhalb mehrerer Tage nicht, t-online Antworten von Stellen aus der Ukraine zu vermitteln, nachdem das Verteidigungsministerium in Kiew erst gar nicht reagiert.
Wer vielleicht mehr weiß, ist ein Verein von AfD-Politikern, Vadar heißt er. Der Vorsitzende, der frühere Bundestagsabgeordnete Ulrich Öhme, erklärt in einem Video, der Verein habe Kontakt zu Alexander F.s Mutter. "Sie hofft, dass sie ihren Sohn gesund zurückerhält." t-online hat die in Frankfurt lebende Frau ebenfalls kontaktiert, sie hat die Nachrichten zwar gelesen, aber nicht beantwortet. Auch Alexander F.s Bruder will sich offenbar nicht äußern.
Öhme erklärte, er werde alles tun, um zu erreichen, dass deutsche Behörden den Gefangenen besuchen können. Der Verein verurteile "aufs Schärfste" das Vorgehen der ukrainischen Armee gegen Gefangene.
Russische Kriegsverbrechen oder Todesurteile für ukrainische Gefangene der DNR-Milizen hat der Verein bisher nicht verurteilt. Eine Anfrage hat der Verein nicht beantwortet.
*Wir hatten an dieser Stelle "Deutschrusse" geschrieben. Es ist aber unklar, welche Staatsangehörigkeit er neben der deutschen hat.
- Eigene Recherchen
- bundestag.de: Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der AfD – Drucksache 19/194 – Ausreise von Kriegsfreiwilligen aus Deutschland
- Telegram: Posting AFU StratCom
- ok.ru: Profil von Alexander F.
- pravda.com.ua: Im Zentrum von Dnipro nun Straße von Stepan Bandera - der Bürgermeister (ukrainisch)
- fedlex.admin.ch: Genfer Abkommen über die Behandlung der Kriegsgefangenen
- YouTube.com: Rufzeichen "Dnepr". Bericht aus dem Krankenhaus (russisch, Re-Upload)
- ok.ru: Alexander F. im Gespräch bei "Zone !404!" (russisch)
- Telegram: Posting Vadar mit Stellungnahme Ulrich Öhme