Flucht aus Russland Sie wollen nicht in Putins Krieg sterben
Schließt Kremlchef Putin die Grenzen, um die Massenflucht von Russen vor einem Kriegseinsatz in der Ukraine zu verhindern? Die Panik in Russland ist groß.
Zu Zehntausenden, wenn nicht zu Hunderttausenden fliehen Russen vor Kremlchef Wladimir Putins Teilmobilmachung für den Krieg in der Ukraine.
Sie, oft einfache Bürger, wollen nicht sterben auf einem Schlachtfeld in einem anderen Land – nicht schießen auf ukrainische Brüder, nicht enden erst als "Kanonenfutter" und dann als "Dünger" in der Erde des Nachbarlandes, wie sie vielfach erzählen. Seit einer Woche halten die Flüchtlingsströme bereits an.
An den Grenzen zum Nachbarland Kasachstan in Zentralasien und zu Georgien im Südkaukasus bilden sich kilometerlange Autoschlangen. In sozialen Netzwerken mehren sich Berichte, dass sich die Männer verzweifelt zu Fuß oder mit dem Fahrrad in die anderen Ex-Sowjetrepubliken retten. Nichts wie raus aus Russland. Mit seiner am Mittwoch angeordneten Teilmobilmachung hat Putin nicht nur die größten Anti-Kriegs-Proteste seit Monaten in Dutzenden Städten ausgelöst, sondern auch eine beispiellose Massenflucht.
Vor allem Frauen demonstrieren
Es gab mehr als 2.000 Festnahmen. Vor allem Frauen demonstrieren, weil sie, wie sie sagen, nicht ihre Söhne, Ehemänner oder Brüder in Putins Blutschlacht in der Ukraine verlieren wollen. Der inhaftierte Kremlgegner Alexej Nawalny rief aus dem Straflager heraus dazu auf, sich nicht von Putin in den "Fleischwolf" werfen zu lassen.
Inzwischen glühen die sozialen Netzwerke in Russland vor Ratschlägen, wie der Mobilisierung zu entgehen sei. Ein einfacher Weg ist, sich zu verstecken, damit der Einberufungsbefehl nicht zugestellt werden kann. Richtig sicher fühlen sich die meisten aber nur, wenn sie es ins Ausland schaffen.
Das Internetportal der inzwischen in Russland verbotenen kremlkritischen Zeitung "Nowaja Gaseta" berichtete unter Berufung auf Quellen in der Präsidialverwaltung, dass schon mehr als 260.000 Russen das Land verlassen hätten. Das soll der Stand am Sonntag gewesen sein. Inzwischen dürfte die Zahl bei deutlich über 300.000 liegen – so viele Reservisten will Verteidigungsminister Sergej Schoigu mobilisieren.
"Geschlafen wie ein Toter nach meiner Flucht"
Ein 41-jähriger Mann, der es geschafft hat zu fliehen, erzählt der Deutschen Presse-Agentur mit erkälteter Stimme am Telefon: "Ich habe geschlafen wie ein Toter nach meiner Flucht, die Angst ist weg, ich bin so erleichtert". Er ist bei Verwandten in Halle an der Saale untergekommen.
Der Leutnant der Reserve flog am Sonntag in die russische Ostsee-Exklave Kaliningrad, traf dort eine Bekannte, die ebenfalls Familie in Deutschland hat. Er musste jeden Moment damit rechnen, den Einberufungsbefehl zu bekommen. "Ich war wie gelähmt vor Angst." Noch am Sonntag schafften die beiden es mit dem Auto über die Grenze nach Polen in die EU und dann weiter nach Deutschland - Ankunft und Freude am Montag.
Vielen ist dieser Weg oder auch der über die baltischen EU-Länder aber versperrt, weil die Behörden der Länder kaum noch Visa ausstellen oder selbst Russen mit gültigem Visum nicht mehr reinlassen. Auch die Kremlgegner um Nawalny hatten diese Praxis der Einreisestopps kritisiert. Die EU-Länder machten die schmutzige Arbeit für Putin, weil er so selbst die Grenzen nicht schließen müsse, hieß es. Und die Länder trieben damit die Reservisten in den Kampf gegen die Ukraine – statt dabei zu helfen, die Reihen der russischen Truppen durch die Aufnahme der Kriegsdienstverweigerer zu schwächen.
Kaum Flüge, kaum bezahlbar
Wer keine Papiere für die Einreise in die EU hat – und das ist der Großteil der Russen – flieht in visafreie Staaten wie die Ex-Sowjetrepublik Armenien oder in die Türkei. Aber viele – auch weiter entfernte – Ziele sind seit Tagen nicht mehr erreichbar, weil es keine Flüge gibt oder die übrigen mit Zehntausenden Euro kaum bezahlbar sind.
Und auch so gibt es keine Sicherheit, dass der für den Grenzschutz zuständige und gefürchtete Inlandsgeheimdienst FSB wirklich jeden durchlässt. Im Internet mehren sich Berichte, dass Reservisten gestoppt und zurückgeschickt werden.
Die Frage, ob die Flucht noch möglich ist oder nicht, ist aktuell die am meisten diskutierte. Dabei gab der Putin-Vertraute Ramsan Kadyrow erst am Wochenende auch eine Erklärung dafür, warum der Machtapparat die Ausreisen wohl zulässt. Es seien "Feiglinge", die ruhig gehen sollten, weil sie der Armee nur schaden könnten, meinte der Chef der russischen Teilrepublik Tschetschenien im Nordkaukasus. "Mal ehrlich, diese Verweigerer in den Flughafenschlangen sind doch ein bemitleidenswertes Bild", sagte Kadyrow. Ohne diesen Ballast werde alles leichter und besser.
100.000 nach Kasachstan eingereist
Allein das öl- und gasreiche Kasachstan verzeichnet inzwischen rund 100.000 frisch eingereiste Russen, wie der Migrationsdienst mitteilt. Die Regierung hat die Kasachen aufgefordert, die Neuankömmlinge gastfreundlich aufzunehmen – und nicht Profit zu schlagen aus ihrer Notlage. Kasachische Medien berichteten, dass es überall Hilfsangebote gebe. Allerdings beklagen die Behörden etwa in Georgien, Armenien und anderswo auch, dass die Preise für Mietwohnungen stiegen wegen des plötzlich zunehmenden Bedarfs.
Die Kreiswehrersatzämter in Russland haben indes auch so ausreichend Beschäftigung mit den Reservisten, die noch im Land sind. Allerdings wurde es am Dienstag mit dem Ende der Scheinreferenden bereits schwieriger, Russland zu verlassen. Der FSB schickte zum Übergang Werchni Lars an der georgischen Grenze einen mobilen Rekrutierungstrupp, zu dem Militärvertreter gehörten, der prüfen sollte, ob die Ausreisenden wehrpflichtig sind. Wer in die Kategorie fällt, bekommt gleich dort den Einberufungsbescheid.
Die per Putins Befehl einberufenen Reservisten sollen nun in die von Russland besetzten Gebiete in der Ukraine geschickt werden. Nach dem Ende der völkerrechtswidrigen Scheinreferenden sollen die Gebiete noch in dieser Woche annektiert und somit nach Moskauer Darstellung Teil des russischen Staatsgebiets werden. Dann braucht die russische Armee massive Verstärkungen, um die Territorien dauerhaft zu halten.
- Nachrichtenagentur dpa