Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Nächste Phase: Albtraum

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
wenn Sie den "Tagesanbruch"-Newsletter abonnieren möchten, nutzen Sie bitte diesen Link. Dann bekommen Sie ihn jeden Morgen um 6 Uhr kostenlos per E-Mail geschickt. Und hier ist der Tageskommentar:
Lassen Sie mich mit einer guten Nachricht beginnen. Nach aktuellem Stand wird die Nato bis zur Bundestagswahl nicht, ich wiederhole: nicht auseinanderfliegen. Zugegeben, ich lehne mich mit dieser Prognose weit aus dem Fenster, denn es ist erst Freitag. Aber als unverbesserlicher Optimist wage ich zu sagen: Unsere Sicherheit bleibt gewährleistet. Bis nächste Woche jedenfalls. Voraussichtlich.
Der irrwitzigen Lage kann man eigentlich nur noch mit Galgenhumor begegnen, tatsächlich ist sie jedoch todernst. Amerikas Präsident Donald Trump hat sich im Ukraine-Krieg auf die Seite des Aggressors Putin geschlagen und wirft mit Sätzen um sich, die aus der Propaganda-Abteilung des Kremls stammen könnten: Der ukrainische Präsident Selenskyj sei ein Diktator, erfahren wir aus Washington. Eigentlich habe die Ukraine den Krieg begonnen. Der mittelmäßige Schauspieler, der in Kiew den Präsidenten mime, habe die Biden-Regierung eingelullt und ausgenommen. Die Ukrainer wären Selenskyj lieber heute als morgen los. Aus Trumps Mund ist all das zu vernehmen, was bisher Putin von sich gab: Täter und Opfer werden vertauscht, der ukrainischen Regierung die Rechtmäßigkeit abgesprochen, Kiew als Gegner gebrandmarkt und Moskau als der wahre Partner. So schnell kann's gehen.
Embed
Der Trump-Express rauscht mit einem Tempo um den geschundenen Globus, dass man kaum rechtzeitig zur Seite springen kann. Das Dauerfeuer der haarsträubenden Initiativen prasselt gnadenlos hernieder, wie unser Korrespondent Bastian Brauns berichtet. Sie machen Gaza zur Riviera, Kanada zur Provinz und Grönland zum Vorgarten der USA, wollen in Deutschland die Brandmauer gegen die AfD niederreißen, die Öffnung der Propagandaschleusen auf den Social-Media-Plattformen erzwingen, die Ukraine zum Ausverkauf ihrer Bodenschätze erpressen, herrje, hatten wir die Strafzölle schon erwähnt und die Kündigung der Wertegemeinschaft mit Europa? Über China oder den Angriff auf die unabhängige Justiz sprechen wir besser ein andermal, sonst wird es ein bisschen viel. Trump hat das Gaspedal bis zum Anschlag durchgedrückt.
Das kann nicht ewig so weitergehen und wird es vielleicht auch nicht. Es könnte sein, dass dem hyperaktiven Präsidenten demnächst die Puste ausgeht. Denn Initiativen anzuschieben, ist das eine. Sie zum Erfolg zu bringen, geht nicht mehr so fix. Sobald es an die Umsetzung geht, werden lästige Details auf einmal wichtig – und die Schäden größer, je länger man sich um die Feinheiten nicht schert.
Wussten Sie zum Beispiel, dass Elon "der Aufräumer" Musk in Trumps Auftrag Hunderte Staatsbedienstete rausgeworfen hat, die für die Sicherheit des US-Atomwaffenarsenals zuständig waren? Schlechte Idee, stimmt. Jetzt bittet man die Gefeuerten händeringend, sofort zurückzukehren – kann sie aber nicht erreichen, weil man zum Teil nur noch die Arbeits-E-Mailadressen hat und private Anschriften fehlen. Verbliebene Mitarbeiter werden gebeten, die E-Mails weiterzuleiten, falls sie wissen, wohin. Soweit die News aus der Behörde für nukleare Sicherheit. Es ist ein winziges Mosaiksteinchen in einem Bild, dessen Konturen bald nicht mehr zu übersehen sein werden.
Aus Trumps letzter Amtszeit wissen wir, dass Planlosigkeit und Inkompetenz das Tempo nicht drosseln. Die Vorstöße von heute – atemlos, zahllos, aber nicht richtungslos – werden allmählich dem Chaos von morgen weichen. Das ist erst mal gut, irgendwie, denn es bindet die Energien des großspurigen Antreibers, bremst weitere verantwortungslose Initiativen, schwächt Trump, schafft uns hier in der alten Welt Freiraum zum Reagieren, Handeln und Aufholen.
Nur darf man sich nichts vormachen: Heiße Luft ist Trumps Werk nicht. Anders als in seiner ersten Amtszeit werden die Impulse des Chefs nicht mehr von seinem Umfeld, in Behörden und Institutionen aufgefangen. Jetzt wird im Apparat ausgefegt. Potenzielle Abweichler sind kaltgestellt. Auch im Weißen Haus weht ein anderer Wind. Früher hieß es dort: Du hast recht, Chef – und dann ging man raus und machte, was man wollte. Jetzt lautet das Motto: Donald, Dein Wort ist uns Befehl! Danach tritt der jeweilige Minister vor die Kameras und gehorcht. Trump agiert nun ungebremst, seine Ansagen gelten. Man tut gut daran, sie ernst zu nehmen.
Das gilt auch für Deutschland. Dank Trump haben wir wieder eine Zeitenwende bekommen, aber nicht die, die Olaf Scholz einst angekündigt hat. Dass der US-Präsident in der Ukraine die Seiten gewechselt hat, stellt mehr in Frage als den Ausgang des Krieges. Man kann nur noch hoffen, aber längst nicht mehr davon ausgehen, dass der Putin-Versteher im Weißen Haus uns Europäern im Krisenfall zu Hilfe eilen und die Nato-Beistandsverpflichtung erfüllen würde. Artikel 5 – das Herzstück des Paktes, demzufolge ein Angriff auf ein Bündnismitglied ein Angriff auf alle ist – soll einen Aggressor dermaßen einschüchtern, dass es zu einem Krieg gegen die Nato gar nicht erst kommt. Das muss der Aggressor aber glauben. Trump jedoch findet Kriege in Europa lästig, verweist auf den "großen, wunderbaren Ozean", der auf Abstand hält, und dient sich dem Verantwortlichen für den Überfall auf die Ukraine als Kumpel an. Die abschreckende Wirkung von Artikel 5 ist in den vergangenen sieben Tagen weitgehend verdampft.
Merkt man das? Im Bundestagswahlkampf jedenfalls nicht. Da geht es um alles Mögliche. Klar, auch um mehr Geld für die Verteidigung. Aber davon, dass wir von der Entwicklung bereits überholt worden sind, ist nichts zu merken. Die Sicherheitsgarantie der Nato gehört zu den Grundlagen, auf denen unser Staat, unser Alltag, unser Wohlstand fußen. Ohne die Amerikaner funktioniert die Nato von heute nicht. Dass Deutschland in eine brandgefährliche Lage geraten ist, konnte man den letzten Fernsehduellen jedoch nicht entnehmen. "Alle wissen es. Keiner sagt es", kommentiert mein Kollege Christoph Schwennicke.
Anderswo ist der Groschen schon gefallen: In Dänemark verklickert Premierministerin Mette Frederiksen der Bevölkerung, dass die Sicherheitslage schlimmer ist als im Kalten Krieg und das Land sich "in der gefährlichsten Situation unseres Lebens" befindet. Russland könne innerhalb von zwei Jahren mehrere Staaten im Ostseeraum angreifen, heißt es.
Rhetorik ist das nicht. Die Regierung in Kopenhagen hat den Verteidigungshaushalt binnen Stunden um Milliardensummen erhöht: Mit einem Federstrich ist er von 2,4 Prozent der Wirtschaftsleistung auf 3 Prozent hinaufgeschossen. Das Militär wird angewiesen, einzukaufen, was das Zeug hält. Ist das beste Material nicht schnell genug zu haben, soll es das zweitbeste nehmen. Auf langwierige Ausschreibungsverfahren wird verzichtet. So machen das die Dänen.
Und in Deutschland? Sagt der wahrscheinliche nächste Kanzler Friedrich Merz noch nicht einmal, wie er weiterhin Verteidigungsausgaben in Höhe von 2 Prozent der Wirtschaftsleistung finanzieren will, die längst versprochen sind – aber kaum reichen, um die Bundeswehr wieder funktionsfähig zu machen. Die Wahlkämpfer gönnen sich und uns allen noch eine Mütze voll Schlaf. Man mag es Taktik nennen, vor allem jedoch ist es unverantwortlich.
Nach der Schließung der Wahllokale am Sonntagabend werden die neuen Realitäten mit brutaler Wucht bei uns aufschlagen. Das hohe Tempo der Veränderung wird uns aus Washington aufgedrückt – und aus Moskau, wo Putin aufrüstet, was das Fließband hergibt. Die russischen Militärausgaben übertreffen die aller europäischen Staaten zusammengenommen.
Darauf muss Deutschland reagieren, egal, welche Parteien die nächste Regierung bilden. Aufschub gibt es nicht mehr. Ist Europa nicht schnellstens in der Lage, Putin ohne amerikanische Hilfe abzuschrecken, treten wir in eine neue Phase ein. Der ehemalige Chef des britischen Geheimdienstes hat sie so beschrieben: Es ist "das Zeug, aus dem Albträume gemacht sind."
Gaza-Gipfel
Die Lage in Nahost bleibt fürchterlich. Die Hamas hat in einem zynischen Propagandaakt vier tote israelische Geiseln übergeben, darunter angeblich die Deutsch-Israelin Schiri Bibas und ihre beiden Kinder. Nach einer forensischen Untersuchung hieß es jedoch aus Israel, dass es sich bei der übergebenen Leiche nicht um Schiri Bibas, sondern um eine unbekannte Person handele. Die israelische Armee bezeichnete es als eine "eklatante Verletzung" des Waffenruheabkommens. Die Regierung in Jerusalem hatte zuvor die Leichen von Palästinensern übergeben, die die israelische Haft nicht überlebt hatten. Auf beiden Seiten wächst der Hass.
Das ändert sich auch nicht durch das Gipfeltreffen in der saudi-arabischen Hauptstadt Riad: Die Regierungschefs von Ägypten, Jordanien und den Golfstaaten sprechen heute über die Zukunft des Gazastreifens. Zur Diskussion stehen Vorschläge Ägyptens für einen Wiederaufbau des zerstörten Küstengebiets unter "vollständiger Aufsicht" arabischer Länder. So soll verhindert werden, dass Donald Trump seinen Plan vorantreiben kann: Er will die zwei Millionen Bewohner Gazas in arabische Staaten vertreiben, um eine von den USA kontrollierte "Riviera des Nahen Ostens" aufzubauen. Der Wiederaufbau der zerbombten Städte könnte Schätzungen der Vereinten Nationen zufolge 53 Milliarden US-Dollar kosten.
Saubere Luft
Eine der wenigen positiven Nachrichten dieser Tage soll nicht untergehen: Nach einer vorläufigen Auswertung des Umweltbundesamts hat Deutschland 2024 erstmals alle europäischen Grenzwerte zur Luftqualität eingehalten. Zwar war es mancherorts noch knapp, und ab 2030 gelten in der EU strengere Vorgaben – aber immerhin.
Dazu passend wird heute im Zuge des Kohleausstiegs Bayerns letztes Großkraftwerk abgeschaltet: Das Steinkohlekraftwerk Zolling im Kreis Freising macht dicht. Bis zum 31. März 2031 bleibt es noch in der Netzreserve, kann also bei Dunkelflauten wieder hochgefahren werden. Die 140 Beschäftigten arbeiten am Standort weiter: Der Energiepark umfasst auch ein Biomasse-Heizkraftwerk.
Lesetipps
Europa ist bedroht: von außen Putin und Trump, von innen Populisten. Was in dieser Lage hilft, erklärt der britische Ex-Premierminister Tony Blair im Interview mit meinem Kollegen Marc von Lüpke und mir.
Nicht nur für die Ukraine hat Trumps Außenpolitik Folgen. Meine Kollegin Anna-Lena Janzen berichtet von beunruhigenden Entwicklungen im Pazifikraum.
Zum Schluss
Auch Elon Musk kann nicht alles haben.
Ich wünsche Ihnen einen anständigen Tag.
Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Gefällt Ihnen der Tagesanbruch? Dann leiten Sie diesen Newsletter an Ihre Freunde weiter.
Haben Sie diesen Newsletter von einem Freund erhalten? Hier können Sie ihn kostenlos abonnieren.
Alle bisherigen Tagesanbruch-Ausgaben finden Sie hier.
Alle Nachrichten von t-online lesen Sie hier.
Mit Material von dpa.