Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Die Invasion hat begonnen
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
das größte deutsche Drama dieser Tage spielt sich nicht an den Wahlurnen ab, nicht in der Grünen-Zentrale und auch nicht im siebten Stock des Kanzleramts. Es betrifft nicht die Schicksale von Politikern, nein, es ist viel schlimmer: Es betrifft alle. Jedenfalls alle, die einen Garten oder wenigstens einen Grünstreifen ihr Eigen nennen. Millionen Menschen leiden unter einer Plage, die schier biblische Ausmaße annimmt: Kolonnen fieser Viecher fallen über Grundstücke im ganzen Bundesgebiet her, vernichten liebgewonnene Flora und hinterlassen ekelerregende Spuren.
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Nach diesem alarmierenden Intro wissen Sie natürlich, wovon ich rede: Nacktschnecken. Die sind in diesem Jahr ein riesiges, nein, gigantisches Problem. Jedenfalls für Gartenfreunde und alle anderen liebenswerten Zweibeiner mit grünem Daumen. "Superschnecke lässt Gärtner verzweifeln", titelten die Kolleginnen aus unserem Ratgeberressort vor einigen Tagen und berichteten von wehrlosen Pflänzchen, die über Nacht bis auf den Stumpf aufgefressen werden. "Es ist schlimm dieses Jahr", klagt Michael Schrödl von der Zoologischen Staatssammlung München, der muss es wissen.
Wer in einschlägige Online-Foren schaut, wird von einem Chor verzweifelter Hobbygärtner empfangen. "Schnecken, überall Schnecken!", ächzt ein gewisser Stefan und bekommt zigfach Bestätigung aus der Community: "Ja!" – "Hier auch!" – "Hilfe!" Manche Opfer sind mit ihrer Geduld am Ende. "Die machen alles kaputt! ALLES!", wehklagt eine Sibylle. "Hab schon sämtliche Tricks versucht: Sägespäne, Kaffeesatz, Bierfalle, nix hält sie ab, nix!", stöhnt ein entkräfteter Blütenfreund. Robustere Zeitgenossen ziehen mit großkalibrigen Gartenscheren in die Schlacht.
Ja, es ist wirklich übel, was diese tiefliegenden Tiere anrichten, die obendrein ja auch noch unverschämt hässlich aussehen. Häufigster Übeltäter ihrer Gattung ist die Spanische Wegschnecke, Fachname – Achtung – Arion vulgaris. Na, das passt!
Es kommt noch schlimmer: Findige Forscher haben mittels Erbgutanalysen herausgefunden, dass dieser Schneckentyp sich erstens stark mit anderen Arten vermischt und sich so beständig günstige Eigenschaften für die jeweilige Umgebung aneignet. Und dass er zweitens kaum Fressfeinde hat – im Gegenteil: Mancher Käfer muss sogar fürchten, selbst von den glitschigen Ungeheuern verspeist zu werden. Die Schnecken terrorisieren also nicht nur die Flora, sondern auch noch die Fauna! Es ist nicht zu fassen.
Schneckenexperten, die es unter Biologen tatsächlich gibt, machen die Witterung für das massenhafte Erscheinen der schleimigen Plagegeister verantwortlich: Auf die Dürrejahre 2018 bis 2022 folgten zwei sehr feuchte Jahre. Schon im vergangenen Jahr konnten sich die Populationen erholen – in diesem Jahr zeugten die vielen Zwittertiere dann noch viel mehr Schneckensprösslinge, die sich im deutschen Dauerregen zu kraftstrotzenden Kampfmaschinen entwickelten. Wussten Sie, dass ein einziger Schneck 400 Eier ablaichen kann, aus denen dann … Himmel, hilf! Vereint schlagen die kriechenden Heere nun allerorten zu, fressen sich durch mühsam gesäte Salate, killen liebevoll gehegte Blümchen, stellen menschlichen Füßen hundsgemeine Rutschfallen. Es ist katastrophal, oder nein, Moment, wir sind hier ja bei einem Online-Klickmedium, daher lassen sie mich die größte sprachliche Keule auspacken: Es ist ein Desaster. Ein Killer-Desaster, genau genommen. Ach was: ein Terror-Killer-Desaster!
Spätestens jetzt hegen Sie, liebe Leserin und lieber Leser, womöglich den Verdacht, der Herr Harms habe nicht mehr alle Tassen im Schrank. Womöglich haben Sie recht und ich muss mich dringend in die Obhut unserer sprachlichen Abrüstungsexpertin begeben (eine sehr nette und kompetente Kollegin, die mit ihrem Team unsere Artikel Korrektur liest und über die textliche Verhältnismäßigkeit wacht).
Oder Sie akzeptieren meine – zugegeben etwas fadenscheinige – Entschuldigung: In Zeiten täglicher Berichterstattung über Großkrisen wollte ich heute Morgen ausnahmsweise mal über eine kleine Krise schreiben. Weil kleine Krisen aber nur dann gut klicken, wenn man sie in möglichst große Worte verpackt (und weil die Verzweiflung vieler Hobbygärtner tatsächlich zum Himmel schreit), habe ich mir erlaubt, auf t-online den großen Nacktschneckenalarm auszurufen. Das mag Sie ärgern, amüsieren oder inspirieren – wäre mir alles recht. Schließlich gibt es für einen Journalisten wenig Schlimmeres, als seine Leser zu langweilen. So, und nun zurück zu den wirklich wichtigen Themen!
Selenskyj im Bundestag
Schon seit gestern wird Berlin zur Hochsicherheitszone ausgebaut, denn heute kommt Wolodymyr Selenskyj in die deutsche Hauptstadt. Gemeinsam mit Kanzler Olaf Scholz eröffnet der ukrainische Präsident die zweitägige Internationale Konferenz zum Wiederaufbau seines Landes, zu der in Charlottenburg rund 2.000 Politiker und Unternehmenslenker aus 60 Ländern erwartet werden. Das Treffen soll den Startschuss für eine neue Fachkräfte-Allianz geben, die "Skills Alliance for Ukraine".
Am Nachmittag will der Gast aus Kiew dann erstmals eine Rede im Bundestag halten. Drei Wochen nach Beginn des russischen Angriffskriegs im Frühjahr 2022 konnte er nur per Video zu den Abgeordneten sprechen. Erwartet wird, dass Selenskyj heute nicht nur den brutalen Kriegsalltag schildert, sondern auch seine Erwartungen an die "Friedenskonferenz" darlegt, die am kommenden Wochenende in der Schweiz stattfindet. Hören wir ihm also gut zu.
Stuttgart bleibt eine Grube
Wann rollen die ersten Züge durch den neuen Stuttgarter Tiefbahnhof? Noch im März hatte die Deutsche Bahn daran festgehalten, dass die Inbetriebnahme des vor 14 (!) Jahren begonnenen Bauprojekts für Dezember 2025 vorgesehen sei – wenn auch womöglich stufenweise und mit einem provisorischen Stellwerk. Nun wird es, mal wieder, noch ein Jahr später: Dezember 2026, heißt es jetzt – und auch darauf ist selbstverständlich kein Verlass.
Ein Hauptproblem stellt die Digitalisierung des kompletten Bahnknotens dar, die sich komplexer gestaltet als angenommen. Details zur Verschiebung will der Staatskonzern heute in einer Pressekonferenz mit den Projektpartnern verkünden. Bislang hat die Umgestaltung des preisgekrönten alten Kopfbahnhofs in einen unterirdischen Durchgangsbahnhofsbunker statt ursprünglich veranschlagter 3 Milliarden sage und schreibe 11,5 Milliarden Euro gekostet. Aber bei der Bahn wundert man sich ja über nichts mehr.
Ohrenschmaus
Sie verstehen bei der Bahn nur Bahnhof? Dann sind Sie nicht allein.
Blinken auf Nahostmission
US-Außenminister Antony Blinken bemüht sich weiter um eine Waffenruhe im Gaza-Krieg. Auf seiner aktuellen Nahostmission – bereits der achten seit dem Hamas-Angriff auf Israel am 7. Oktober – wirbt er in Kairo, Jerusalem, Amman und Doha für den Drei-Stufen-Friedensplan seines Präsidenten Joe Biden. Der wurde gestern Abend auch vom UN-Sicherheitsrat unterstützt und sieht neben einer "sofortigen und vollständigen" Feuerpause den Rückzug der israelischen Armee aus bewohnten Gebieten des Gazastreifens vor – sowie die Freilassung der von der Hamas verschleppten Geiseln im Austausch für palästinensische Gefangene. Außerdem sollen Israel und die Hamas über eine "dauerhafte Einstellung der Kampfhandlungen" verhandeln. Es wäre bitter nötig.
Lesetipps
Die Grünen müssen ihr miserables Ergebnis bei der Europawahl verarbeiten. Die Parteispitze warnt vor schnellen Konsequenzen. Einige Grüne aber verlangen genau die – und zwar auch personell, wie unser Reporter Johannes Bebermeier berichtet.
Vom Spitzenkandidaten zur Persona non grata: Die EU-Abgeordneten der AfD haben Maximilian Krah am Tag nach der Wahl verstoßen. Ob das reicht, um die erzürnten Partner in Brüssel mit der Partei zu versöhnen, ist jedoch fraglich, schreibt unsere Reporterin Annika Leister.
Kriege, Klimakrise, Trump: Die internationale Lage ist höchst angespannt. Warum Bestsellerautor T.C. Boyle düstere Vorahnungen hat, erklärt er im Gespräch mit meinem Kollegen Marc von Lüpke.
Wer es sich leisten kann, sollte jetzt zuschlagen: Viele Eigentumswohnungen sind noch günstiger als vor einem Jahr – doch das Blatt wendet sich. Was Wohnen derzeit in den einzelnen Bundesländern kostet, hat meine Kollegin Christine Holthoff exklusiv auswerten lassen.
Zum Schluss
Tresen-Wahrheiten sind die treffendsten.
Ich wünsche Ihnen einen nicht allzu nüchternen Tag. Morgen kommt der Tagesanbruch von Christine Holthoff.
Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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