Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Höcke lacht sich ins rechte Fäustchen
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
hält die AfD bei den Wahlen im Osten, was die Umfragen ihr versprechen? Sagen sich ihre Wählerinnen und Wähler nach den Skandalen: jetzt erst recht? Oder lassen sie sich abschrecken? Auf all diese Fragen haben sich politische Beobachter an diesem Sonntag bei den Kommunalwahlen in Thüringen erste Antworten erhofft.
Es sind Wahlen auf der kleinsten politischen Ebene, allerdings von der ganz großen Sorte: Die Thüringer haben 13 von 17 Landräten neu gewählt, 94 Oberbürgermeister und Bürgermeister, 1.025 Ortsteil- und Ortschaftsbürgermeister, 17 Kreistage und mehr als 600 Stadt- und Gemeinderäte. Auch deshalb gelten die Kommunalwahlen in Thüringen vielen als aufschlussreicher Test für die Landtagswahl im Herbst.
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Noch stehen nicht alle Ergebnisse fest. In aller Vorsicht lässt sich aber sagen: Das "blaue Wunder", wie es AfD-Landeschef Björn Höcke gerne hätte, gab es nicht. Entwarnung aber ebenso wenig. Die AfD blieb zwar eher hinter den Erwartungen zurück, allerdings waren die auch sehr hoch. Das zeigte sich schon an den ersten Reaktionen am Abend. Thüringen sei "nicht mit einem Schlag blau geworden", sagte Linken-Landeschefin Ulrike Grosse-Röthig. So als sei allein das ein riesiger Erfolg. Man wird offensichtlich bescheiden in Thüringen.
Es stimmt schon, die AfD hat nirgendwo im ersten Anlauf ein Landrats- oder Oberbürgermeisteramt gewonnen. Und nur im Altenburger Land liegt ein AfD-Kandidat knapp vorne. Doch dort und in mehreren anderen Fällen hat die AfD jetzt eine Chance in der Stichwahl am 9. Juni. Wie weit es selbst ein harter Neonazi in Thüringen schaffen kann, zeigte sich im Landkreis Hildburghausen. Dort steht Tommy Frenck für das "Bündnis Zukunft Hildburghausen" in der Stichwahl. Fast ein Viertel der Wähler gaben Frenck ihre Stimme.
Grund für Jubel der Demokraten sind die Ergebnisse also wahrlich nicht. (Weitere Details lesen Sie hier.) Das gilt umso mehr für die Kommunalparlamente. Dort werden zwar erst am Montag die vollständigen Resultate vorliegen, dann wird auch ein Landesergebnis errechnet. Schon in der Nacht zeichnete sich jedoch ab, dass die AfD deutlich zulegen konnte und wohl mancherorts stärkste Kraft in den Parlamenten wird.
Björn Höcke dürfte sich also ins rechte Fäustchen lachen. Es mag nicht das Wunder sein, das er sich erhofft und das andere gefürchtet hatten. Ein Erfolg ist es für die Partei allemal, vor allem für ihre mittelfristige Entwicklung. Aus zwei Gründen.
Die AfD hat sich, erstens, wieder einmal mehr Macht in den Institutionen gesichert. Eine AfD-Mehrheit in einem Kommunalparlament kann einem Landrat oder Bürgermeister das Leben schwer machen – und andersherum. Die AfD kann in den Kommunen tatsächlich gestalten und die Gesellschaft prägen, nach ihren ganz rechten Vorstellungen. Etwa, wenn es um die Unterbringung von Flüchtlingen oder Geld für Sozialarbeit und Kultur geht.
Der AfD hilft das Gestaltenkönnen aber, zweitens, noch auf andere Weise, im größeren Maßstab. Wohlgemerkt: einer Partei, die in Thüringen vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem beobachtet wird. Denn in den Kommunen hat sie die Chance, den Mief des Rechtsextremismus mit Sachpolitik zu übertünchen. Vor allem dann, wenn es um scheinbar unpolitische Entscheidungen wie den Bau einer Straße oder eines Spielplatzes geht.
Kann denn jemand böse sein, der Spielplätze bauen lässt? (Natürlich kann er das, nur wird es eben nicht mehr jeder erkennen.) Der Rechtsextreme banalisiert sich selbst zum Sachpolitiker, aber eben zum Sachpolitiker in Teilzeit, um an anderer Stelle seine Ideologie Wirklichkeit werden zu lassen. "Normalisierung von unten" nennt der Rechtsextremismusforscher Matthias Quent diese Strategie. In Thüringen kann sie nun an vielen Orten weitergehen, die Normalisierung.
Es ist eine rechtsextreme Wachstumsstrategie. Das Ziel der AfD ist die Normalisierung auch auf Landes- und Bundesebene. Und damit: noch bessere Ergebnisse. In den vergangenen Wochen und Monaten der Skandale und Gerichtsverfahren hat die AfD an Zustimmung eingebüßt. Ein paar Prozentpunkte nur, aber der Trend war eindeutig.
Deutschlandweit erreicht sie in Umfragen in diesen Tagen nur noch 14 bis 17 Prozent. In Thüringen aber kam sie Anfang des Monats auf 30 Prozent und lag mit 10 Punkten Abstand eindeutig auf dem ersten Platz vor der CDU. Selbst wenn die AfD seitdem so wie im Bund noch ein, zwei Prozentpunkte verloren hätte, sind das für sie beste Voraussetzungen für die Landtagswahl am 1. September.
Geben die Kommunalwahlen der AfD weiteren Schub? Noch vor einigen Monaten war das eine Frage, die über Wohl und Wehe der Landespolitik in Erfurt hätte entscheiden können. Die AfD hatte es in Thüringen schon nach der vergangenen Wahl mit ihren 23,4 Prozent unmöglich gemacht, eine demokratische Mehrheit für eine Regierung zu finden.
Linke, SPD und Grüne regieren seitdem in einer Minderheitsregierung. Wobei daran streng genommen nicht nur die AfD, sondern auch die CDU Schuld trägt. Die nämlich schließt eine Koalition mit AfD und Linken gleichermaßen aus. Was besonders in Thüringen eine bemerkenswerte Gleichsetzung ist. Die gesichert rechtsextreme AfD auf der einen Seite – und auf der anderen Bodo Ramelow. Der Linken-Ministerpräsident wäre mit seinem Dreiteiler sogar in der SPD overdressed und würde sich dort bei vielen Themen politisch pudelwohl fühlen. Das ist wirklich kein radikaler linker Revolutionär.
Wird also im Herbst mit einer AfD bei 30 Prozent alles noch komplizierter? Das musste man bis vor einigen Monaten befürchten. Nun aber könnte ausgerechnet Sahra Wagenknecht helfen. Oder besser gesagt: Die weitere Zersplitterung der politischen Linken in Deutschland, die sie mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht, dem BSW, ausgelöst hat. Schöpferische Zerstörung, zumindest für diese spezielle Landtagswahl.
In Thüringen nämlich kommt Wagenknecht mit ihrem BSW derzeit auf rund 15 Prozent. Und damit auf ungefähr so viel Zustimmung wie die Linke von Ramelow. Mit dem kleinen aber feinen Unterschied, dass CDU-Landeschef Mario Voigt eine Zusammenarbeit mit dem BSW nicht ausschließt. Inhaltlich ist das zwar nur schwer zu begründen und personell schon gar nicht. Aber vielleicht sollte man die CDU für diese Absurdität nicht zu laut kritisieren. Sonst geht womöglich nach der Wahl im Herbst wirklich gar nichts mehr in Thüringen. Und Björn Höcke könnte sich noch einmal ins rechte Fäustchen lachen.
Termine des Tages
Bonjour, Monsieur Macron: Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron ist seit Sonntag zum offiziellen Staatsbesuch in Deutschland. Es ist der erste seit 24 Jahren, und angesichts der etwas kriselnden deutsch-französischen Beziehungen ein wichtiger. Am Sonntag war Macron mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier beim Demokratiefest zur 75-Jahr-Feier des Grundgesetzes in Berlin. "Die deutsch-französischen Beziehungen sind zentral für Europa, sie sind notwendig, damit Europa vorankommt", sagte Macron, und er hat recht. Heute wird der französische Präsident erst das Holocaust-Mahnmal besuchen, um dann nach Sachsen zu fahren, zum Schloss Moritzburg, zum Fraunhofer-Institut für Photonische Mikrosysteme und zum Europäischen Jugendfest "Fête de l'Europe" vor der Frauenkirche.
Spion in Uniform: Ein Bundeswehroffizier soll das russische Konsulat und die russische Botschaft kontaktiert, militärisches Wissen weitergegeben und weiteres angeboten haben. In Düsseldorf wird heute das Urteil im Spionageprozess gegen den Hauptmann erwartet.
Sanktionen gegen Putin: Die EU-Außenminister wollen in Brüssel einen neuen Rechtsrahmen zur Sanktionierung schwerer Menschenrechtsverletzungen in Russland beschließen. Er soll unter anderem das Einfrieren von Vermögenswerten in der EU und Einreiseverbote ermöglichen.
Kennzeichen fürs Essen: Die Landwirtschaftsminister der EU sprechen in Brüssel über eine Initiative Deutschlands und Österreichs für mehr Herkunftskennzeichnungen von Lebensmitteln. Sie erhoffen sich davon, dass Verbraucher besser informiert und Bauern gestärkt werden.
Fitmachen für die EM: Die Fußball-Nationalmannschaft startet ihre Vorbereitung auf die Heim-EM. Mittags stellen sich Trainer Julian Nagelsmann und Sportdirektor Rudi Völler der Presse, nachmittags trainiert die DFB-Auswahl öffentlich in Jena.
Lesetipps
Der Skandal um die AfD-Europawahlkandidaten Maximilian Krah und Petr Bystron weitet sich aus. Wie meine Kollegen Annika Leister und Jonas Mueller-Töwe recherchierten, brachte Bystron einen mutmaßlichen Spion des Kremls bis in den Bundestag. Hochrangige Politiker fordern nun Konsequenzen bei den Sicherheitsvorkehrungen.
Feiernde haben auf Sylt rechtsextreme Parolen gegrölt und sich dabei gefilmt. Es ist Rassismus, der schon immer da gewesen sei, hat jemand, der sich in der High Society auskennt, meinem Kollegen Tobias Eßer erzählt. SPD-Chef Lars Klingbeil fordert im Gastbeitrag, denjenigen zuzuhören, die von Rassismus betroffen sind.
35 Jahre nach der friedlichen Revolution in der DDR haben West- und Ostdeutsche noch nicht zueinandergefunden. Das liegt auch am fehlenden Interesse, meint mein Kollege Simon Cleven.
Der 1. FC Heidenheim blickte am Samstag gebannt aufs Pokalfinale in Berlin. Der Triumph von Bayer Leverkusen hat zur Folge, dass der unscheinbare Aufsteiger nächstes Jahr international spielen wird. Noah Platschko über das Wunder von der Brenz.
Zum Schluss
Ich wünsche Ihnen einen guten Start in die Woche. Am Dienstag schreibt Ihnen wieder Chefredakteur Florian Harms.
Ihr Johannes Bebermeier
Leitender Reporter Politik
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Mit Material von dpa.
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