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Inflation, Mindestlohn: Die Bürokratie ist Deutschlands größtes Problem


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Tagesanbruch
Es ist der helle Wahnsinn

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 17.05.2024Lesedauer: 6 Min.
Aktenstapel in einer Amtsstube: In Deutschland werden immer mehr Vorschriften produziert.Vergrößern des Bildes
Aktenstapel in einer Amtsstube: In Deutschland werden immer mehr Vorschriften produziert. (Quelle: imago images)
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Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

hoffentlich haben Sie gut geschlafen, den Morgen begrüßt und sich vielleicht auch mit einem Frühstück gestärkt. Dann sind Sie gewappnet für ein Ungetüm. Das erlaube ich mir nämlich auf Sie loszulassen. Nicht, weil ich Sie erschrecken möchte, sondern um Ihnen zu verklickern, warum es an so vielen Stellen in unserem schönen Land nicht vorangeht. Warum trotz eklatanten Wohnraummangels in den Städten keine Wohnungen mehr gebaut werden, warum viele Unternehmen kaum noch in neue Produkte und Mitarbeiter investieren, warum die Digitalisierung vieler Schulen gescheitert ist und warum so viele Bauernhöfe sterben. Es ist immer derselbe Grund, und wenn ich das Ungetüm jetzt von der Leine lasse, das genaugenommen ein Wortungetüm ist, ächzen Sie womöglich und spielen mit dem Gedanken, den heutigen Tagesanbruch hier und jetzt abzubrechen. Bitte nicht. Brechen Sie den Tag und das Tagesthema noch ein paar Minuten mit mir an, die folgenden Zeilen sind wichtig.

Der wichtigste Grund für den deutschen Stillstand ist nicht die Inflation, Geldmangel oder irgendeine der vielen Krisen, denen wir gegenwärtig ausgesetzt sind. Es ist etwas viel Banaleres: die Bürokratie. Wie ein riesiger Gulliver liegt Deutschland gefesselt darnieder, allerdings hat es sich selbst gefesselt. Das Wort vom "Staatsversagen" nehmen Kritiker deutscher Politiker und Behörden gern in den Mund, aber das ist Unsinn. Der Staat versagt gar nicht, im Gegenteil. Er funktioniert viel zu gut. Weil er das tut, was seit den alten Römern jeder außergewöhnlich erfolgreiche Staat tut: Er produziert immer mehr Gesetze und Vorschriften.

Jeder Aspekt des Zusammenlebens in diesem 83-Millionen-Land soll haarklein geregelt werden – und zwar unter Berücksichtigung jeglicher Eventualität. Deutsche Gründlichkeit kennt keine Grenzen. Die Regelungswut ist zur stärksten Emotion geworden. Und damit der Staat kontrollieren kann, dass alle seine Bestimmungen auch wirklich eingehalten werden, verpflichtet er Bürger, Firmen und Institutionen zur peniblen Dokumentation. Als Privatperson kennen Sie das von der Steuererklärung, bei der Sie sich Jahr für Jahr über die Formularkästchen und Belegsammlungen ärgern. Selbständige und Unternehmer sind noch viel schlimmer dran: Sie treibt der Bürokratenstaat schier in den Wahnsinn.

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Das Mehrwertsteuer-Roulette macht alles noch komplizierter. Ein Metzgermeister hat seine Nöte den Kollegen vom MDR so geschildert: "Isst ein Kunde seine Wiener mit Kartoffelsalat bei uns im Laden, wird das mit 19 Prozent versteuert. Nimmt er die Wurst in einer Assiette (also auf einem Pappteller) mit nach draußen, fallen auf das Essen 7 Prozent an, auf die Assiette aber 19 Prozent Mehrwertsteuer. Wenn ich meinen Kunden Essen liefere, entfallen darauf 7 Prozent Mehrwertsteuer. Aber wehe, ich packe da noch eine Gabel und einen Teller dazu: Dann werden aus den 7 Prozent sofort 19 Prozent. Denn das ist dann kein Essen mehr, sondern eine Dienstleistung."

Irre, finden Sie? Es gibt unzählige solcher Beispiele. Das Deutschland des Jahres 2024 besteht aus mehr Verboten als aus Chancen. "Bei jährlichen Bürokratielasten von 65 Milliarden Euro leiden die Unternehmen unter einem Bürokratie-Burnout", urteilt die Deutsche Industrie- und Handelskammer und sieht darin das größte Problem des Wirtschaftsstandortes Deutschland – schlimmer als der Fachkräftemangel und die hohen Energiekosten.

So ist das in einem zu erfolgreichen Staat: Er beschäftigt immer mehr Beamte, die immer mehr Regeln entwerfen, während das überdimensionierte Parlament und die aufgeblähten Ministerialbürokratien immer mehr Gesetze produzieren, die immer komplizierter ausfallen, bis sie irgendwann keiner mehr versteht. Dafür braucht es dann Heerscharen von Steuerberatern und Anwälten, die sich viel Geld dafür bezahlen lassen, das Fachchinesisch zu übersetzen.

Es ist nicht so, dass die Obrigkeit das Problem nicht sähe. Jede Bundesregierung schreibt sich den Bürokratieabbau auf die Fahnen. Während Angela Merkels Regierungszeit saß ich im Kanzleramt mal einer Runde von Beamten gegenüber, die sich um ein Projekt namens "Bürokratiebremse" kümmerten: Für jede neue Vorschrift sollte eine bestehende Vorschrift kassiert werden. Hat natürlich nicht geklappt.

Auch die Ampelregierung will Schneisen in den Bürokratiedschungel schlagen, und immerhin beim Solar- und Windkraftausbau scheint ihr das einigermaßen zu gelingen. An vielen anderen Stellen jedoch überhaupt nicht. Landauf, landab ertrinken Unternehmer in Formularfluten. Allein das Energiewirtschaftsgesetz schreibt 135 verschiedene Meldepflichten vor – und das ist nur eine von 15.000 Vorschriften, die Energiebetriebe beachten müssen. Die Kontrollpflicht beim Mindestlohn wiederum, einem Prestigeprojekt der SPD, verursacht sage und schreibe 6,7 Milliarden Euro Kosten – es ist der gewaltigste Bürokratieaufbau in der bundesdeutschen Geschichte. Wer einen kleinen Handwerksbetrieb leitet, verbringt heute mehr Zeit am Schreibtisch als auf der Baustelle. Und Lehrer, die für ihre Schule den Staatszuschuss für WLAN und Tablets beantragen wollen, sollten sich dafür besser sechs Wochen freinehmen.

Es ist der helle Wahnsinn, wie Deutschland sich selbst kaputt reguliert. In ihrer Verzweiflung haben Verbände der Bundesregierung 442 konkrete Vorschläge für die Streichung oder Vereinfachung staatlicher Vorschriften gemacht. Umgesetzt ist davon bisher wenig. Die Empfehlungen wandern von einem Ministeriumsbüro ins nächste, bis sie irgendwann in der Ablage landen (oder im Papierkorb).

So geht es nicht weiter, finden die Ampelkoalitionäre – weshalb sie sich eilig eine weitere Regel ausgedacht haben, über die der Bundestag heute debattieren soll: Bürokratieentlastungsgesetz heißt sie und soll "zur Entlastung der Bürgerinnen und Bürger, der Wirtschaft sowie der Verwaltung von Bürokratie" beitragen. Effekt: angeblich jährlich bis zu 944 Millionen Euro eingesparte Kosten.

Das ist nicht Nichts, aber in Wahrheit nur ein Klacks. Weil Sie womöglich die vielen Zahlen in diesem Text nicht mehr alle parat haben, wiederhole ich die wichtigste gern noch mal: 65 Milliarden Euro betragen allein die Bürokratielasten für Firmen. Und da sind Privatleute noch gar nicht mitgezählt.

Sagen wir es so: Um das bedrohlichste deutsche Ungetüm zu erschlagen, braucht es einen sehr viel stärkeren Hieb als so ein Gesetzchen. Aber wer morgens energiegeladen aufsteht, findet ja vielleicht irgendwann die Kraft dafür.


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Was steht an?

Nur noch ein Monat bis zum Start der Fußball-Europameisterschaft in Deutschland. Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen geht, aber meine Temperatur beginnt zu steigen. Muss das Fußballfieber sein. Kein Wunder bei dem starken Team, das Bundestrainer Julian Nagelsmann aufgestellt hat: Mit diesem Kader kann das DFB-Team ein richtig gutes Turnier spielen, meint unser Sportchef Andreas Becker.


Gesundheitsminister Karl Lauterbach steht ebenfalls im Rampenlicht: Heute Mittag stellt er seinen Bundes-Klinik-Atlas vor. Patienten sollen sich auf einem staatlichen Vergleichsportal über die Leistungen und die Behandlungsqualität der Krankenhäuser in ihrer Nähe informieren können. Bundesweit sind 1.700 Kliniken aufgeführt – mit Fachärzten, Erfahrungen von Patienten und Komplikationsraten bei Operationen. Wirkt bürokratisch? Vielleicht. Vor allem aber ist es ein Hebel, um die Gesundheitsversorgung zu verbessern.


Auf Antrag der CDU/CSU-Fraktion diskutiert der Bundestag über die Bekämpfung des politischen Islam. Nach dem Willen der Union sollen künftig jene Bürger, die neben der deutschen noch eine weitere Staatsangehörigkeit besitzen, ihren deutschen Pass verlieren können, wenn sie öffentlich zur Abschaffung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung aufrufen und einen islamistischen Gottesstaat fordern. Das wäre aber wohl nicht mit dem Grundgesetz vereinbar.


Der Europarat in Straßburg beschließt seine erste Konvention zu Künstlicher Intelligenz. Die von der EU unabhängige Organisation will sicherstellen, dass bei der Anwendung von KI die Menschenrechte gewahrt bleiben. Zu den Mitgliedern gehören 46 Staaten von Grönland bis Aserbaidschan mit 680 Millionen Einwohnern. Für Deutschland ist Außenministerin Annalena Baerbock dabei. Unterzeichnen können die Konvention auch Länder weltweit.


Ohrenschmaus

Heute mal was Schräges gefällig? Bitte sehr.


Das historische Bild

Im zarten Alter von 13 Jahren bekam das Fußballgenie Lionel Messi einen Vertrag beim Spitzenverein FC Barcelona: Er wurde kurzerhand beim Essen auf eine Serviette notiert. Die wird nun versteigert, der Anfangspreis liegt bei sage und schreibe 351.000 Euro.


Hör- und Lesetipps

Donald Trumps Wahlkampfteam arbeitet bereits am Umbau des Staates. Steuert Amerika geradewegs in die Diktatur? Die USA-Expertin Constanze Stelzenmüller erklärt so spannende Hintergründe, dass ich Ihnen unseren Podcast wärmstens empfehle.


Nach dem Attentat auf den slowakischen Ministerpräsidenten Robert Fico rücken dessen Bodyguards in den Fokus. Mein Kollege Julian Fischer hat mit einem Sicherheitsexperten gesprochen.


Damit die Energiewende gelingt, braucht es schnell Stromautobahnen. Doch die Kosten sind immens. Mehrere Ministerpräsidenten plädieren deshalb nun für oberirdische Leitungen, berichtet unser Reporter Johannes Bebermeier.



Zum Schluss

Woran hakt es im Ampelzoo?

Ich wünsche Ihnen einen harmonischen Tag.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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