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Weltpressefoto 2024: Nicht nur im Nahen Osten regiert die Unvernunft


Meinung
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Tagesanbruch
Ihre Logik ist aufgegangen

MeinungVon Heike Vowinkel

Aktualisiert am 22.04.2024Lesedauer: 8 Min.
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Eine Frau hält ein in ein Leichentuch gewickeltes Kind: Dieses ikonenhafte Foto wurde zum Weltpressefoto des Jahres 2024 gewählt. (Quelle: IMAGO/Robin van Lonkhuijsen/imago-images-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

eine Frau hält ein Kind in ihren Armen, ganz fest, als wolle sie es schützen, streicheln, trösten. Ihr Kopf ist über das in ein weißes Tuch gewickelte Kind gebeugt, ihr Gesicht in ihrem Arm vergraben. Das Kind, die fünfjährige Saly, starb zusammen mit seiner Mutter und Schwester bei einem Bombenangriff in Chan Junis in Gaza. Die Frau ist Salys Tante. Ein Fotograf hat ihre Trauer in einem ikonenhaften Bild festgehalten, das gerade zum Weltpressefoto des Jahres 2024 gewählt wurde. Es hängt zurzeit in der Nieuw Kerk in Amsterdam.

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Eine ungeheure Wirkmacht geht von diesem Bild aus, erinnert es doch an die Darstellungen der Muttergottes, die um Jesus trauert. Die Sinnlosigkeit des Krieges, festgehalten in einem Foto. Die Macht der Fotografie wird in diesem Bild, aber auch in den anderen prämierten Weltpressefotos überdeutlich: Bilder vom Schrecken des Krieges, nicht nur aus Gaza, auch aus der Ukraine oder Äthiopien, Bilder von vergessenen Leidenden wie den Menschen in Afghanistan, den Migranten in Mexiko, den Betroffenen des Klimawandels. Wer sich durch diese Bilder scrollt, dem wird schnell bewusst, wie sehr das Handeln weniger Menschen weitreichende, oft dramatische Folgen für viele hat.

Heute vor 300 Jahren wurde in Königsberg ein Mann geboren, der aus dieser Beobachtung eine der größten Erkenntnisse der Menschheit ableitete. Der Philosoph Immanuel Kant unterschied zwischen Verstand und Vernunft. Den Verstand bezog Kant auf die Fähigkeit des Menschen, logisch zu denken. Die Vernunft dagegen sei seine Fähigkeit, sein Handeln nicht nur nach eigenen, rationalen Interessen auszurichten, sondern danach, ob es moralisch richtig oder falsch ist. Vereinfacht gesagt, sollte sich jeder fragen: Könnte nach den Prinzipien, nach denen ich handele, jeder handeln, sodass sich daraus ein allgemeingültiges Gesetz ableiten ließe? Kant nannte das den "kategorischen Imperativ".

Schauen wir uns den aktuellen Zustand der Welt an, handeln zu viele Staatenlenker zwar logisch und rational, sie nennen das Realpolitik, aber es ist zutiefst unvernünftig. Im Nahen Osten zeigt sich das gerade beispielhaft.

Für das Mullah-Regime im Iran war es zweckrational, dass es die Terrororganisation Hamas in Gaza darin unterstützte, am 7. Oktober mehr als 1.200 unschuldige Menschen abzuschlachten. Die arabische Front gegen den Erzfeind Israel bröckelte. Die Vereinigten Arabischen Emirate, Marokko, Bahrain und der Sudan hatten schon drei Jahre zuvor mit den Abraham-Abkommen die Beziehungen zu Israel normalisiert. Kurz vor dem Terroranschlag gab es vergleichbare Annäherungen zwischen Saudi-Arabien und Israel.

In der Logik der von den Mullahs finanzierten Hamas, die Israel von der Landkarte tilgen will, war es also folgerichtig, alles zu tun, um diese Annäherung zu verhindern. Sie musste Israel in einen Krieg drängen, das Land dazu bringen, mit maximaler Härte in Gaza zuzuschlagen, viele Palästinenser zu töten, um so den Hass auf Israel am Leben zu halten. Also mordete sie auf barbarische Weise in Israel, entführte Frauen, Kinder, alte Menschen. Denn sie brauchte die Bilder der israelischen Reaktion darauf, Bilder wie das von der toten Saly und ihrer Tante, um der Welt zu sagen: Seht her, diese kindermordenden Juden – ein zutiefst antisemitisches Stereotyp sollte genährt werden.

Ihre Logik ist aufgegangen. Das liegt auch am israelischen Ministerpräsidenten. Benjamin Netanjahu handelt seinerseits rational, aber nicht vernünftig. Der Krieg in Gaza, den er als berechtigte Selbstverteidigung gegen den Angriff der Hamas begann, ist zu einem unverhältnismäßigen Angriff auch auf die palästinensische Bevölkerung geworden. Sicher, es ist ein Dilemma für Israel, dass sich die Hamas unter der Zivilbevölkerung versteckt – und damit erneut zeigt, wie sehr ihr das Leid der eigenen Leute egal ist. Doch Israel tut nicht genug, um die Bevölkerung zu schützen und zu versorgen. Es handelt vielfach unverhältnismäßig, also genau so, wie es sich die Hamas erhoffte.

In den vergangenen Wochen sah es so aus, als würde diese Spirale der Unvernunft den Nahen Osten immer tiefer ins Verderben stürzen: Es war wahrscheinlich Israel, das in Syrien im iranischen Konsulat Generäle des Regimes getötet hat. Der Iran griff daraufhin vor einer Woche Israel zum ersten Mal direkt mit Drohnen und Raketen an. Eine Kriegserklärung.

Die Welt wartete gebannt auf die Reaktion Israels, doch die fiel – zumindest zunächst – gemäßigter aus als befürchtet: Nach Informationen der "New York Times" wurde in Isfahan, im Herzen des Iran, ein Luftverteidigungssystem zerstört, das dort das iranische Atomwaffenprogramm schützt. Es war eine Warnung an den Iran: Wir können, wenn wir wollen, euch noch viel härter treffen. Weder Israel noch der Iran bestätigen irgendetwas davon. Was ein gutes Zeichen ist. Zeigt es doch, dass beide Seiten verstanden haben: Die Folgen eines weiteren Krieges wären unbeherrschbar. Der Zweck heiligt eben nicht alle Mittel.

Vielleicht hat für einen kleinen Moment also die Vernunft über den Verstand gesiegt. Vielleicht aber war es auch nur zweckrational, dass sich beide Seiten vorerst dafür entschieden haben, ihren seit Jahrzehnten schwelenden Konflikt nicht weiter eskalieren zu lassen. Weil ihnen bewusst ist, dass es ihren Langzeitzielen im Moment nicht nutzt: Israel will verständlicherweise auf Dauer die Mullahs im Iran entmachten. Denn diese wollen ihrerseits den Staat Israel auslöschen.

Kant hielt die Menschen für vernunftbegabt und sogar den "ewigen Frieden" für möglich. Den Beweis müssen sie im Nahen Osten – aber auch an zu vielen anderen Orten der Welt – erst noch erbringen.


Ohrenschmaus

Manche Songs bleiben immer aktuell. Bob Dylan war 21 Jahre alt, als er diese Anklage gegen die Schreibtischtäter des Krieges schrieb. Das Lied wurde zu einem der wichtigsten Protestsongs gegen den Vietnamkrieg. Es trifft leider auch heute noch zu.


Heikle Reise mit Dönerspieß

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Eine eigentlich schöne Idee hatte vor Kurzem das Bundespräsidialamt: Es fragte Arif Keles, Dönerladen-Besitzer aus Berlin-Schöneberg, ob er den Bundespräsidenten für drei Tage in die Türkei begleiten wolle. Keles zögerte nicht lange und sagte zu.

Am heutigen Montag sitzt er nun zusammen mit einem schockgefrorenen Dönerspieß und Frank-Walter Steinmeier in der Präsidentenmaschine Richtung Türkei. Steinmeier will dort anlässlich des 100. Jubiläums der diplomatischen Beziehungen Deutschlands mit der Türkei die engen Bande zwischen beiden Bevölkerungen würdigen. Insbesondere die Leistung jener Türken, die seit den 60-er Jahren als "Gastarbeiter" nach Deutschland kamen – so wie Arif Keles' Großvater.

Der Döner nämlich ist eine deutsche, genauer Berliner Erfindung. 1972 soll einer jener "Gastarbeiter" die Idee gehabt haben, seinen Landsleuten das vom Spieß geschabte Fleisch statt auf einem Teller – so wie in der Türkei – im Brot zu servieren. Weil sie es so schneller essen konnten. Salat und Soße kamen später dazu. Heute gehört der Döner zum beliebtesten Fastfood der Deutschen.

Doch so schön die Idee dieser Reise und des mitgebrachten Import-Export-Döners auch ist, die harte Politik holt sie gerade ein. Zwar hatte Steinmeier seinen Kontakt zum türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan schon im Vorfeld bewusst auf ein Minimum begrenzt und den Besuch bei ihm ans Ende der Reise gesetzt. Die deutschen Beziehungen zum Autokraten Erdoğan sind äußerst angespannt, nicht zuletzt, weil er die Hamas-Terroristen nach deren Verbrechen in Israel im Oktober als "Befreiungsorganisation" bezeichnete. Doch seit Samstag ist das Treffen mit Erdoğan für Steinmeier noch heikler. Da empfing der türkische Präsident in Ankara den Hamas-Chef Ismail Hanija.

Der lebt mit anderen Hamas-Oberen in Katar, wo die Terrororganisation eine Art Auslandssitz hat. Das "Wall Street Journal" berichtet gerade, dass die Hamas sich mit Katar überworfen habe und nun einen neuen Auslandsstandort suche. Angeblich sei man im Oman vorstellig geworden. Für Katars Versuche, mithilfe eines Waffenstillstands in Gaza die israelischen Geiseln dort freizubekommen, bedeutet das nichts Gutes. Nun wird spekuliert, Erdoğan wolle die Vermittlerrolle übernehmen. Ob ihm das mit seiner einseitigen Parteinahme für die Hamas gelingen kann, bleibt abzuwarten.

Wenn Steinmeier es damit ernst meint, dass das Existenzrecht Israels deutsche Staatsräson ist, muss er das Treffen nutzen, um sich klar und deutlich von dieser einseitigen Parteinahme zu distanzieren.


FDP im Wahlkampfmodus

Und schon wieder droht Ampelstreit. Die FDP berät heute in ihrem Präsidium eine zwölf Punkte umfassende Beschlussvorlage für ihren Parteitag am kommenden Wochenende. Darin fordert sie unter anderem tiefe Einschnitte in die Sozialpolitik, ein Ende der Subventionen für erneuerbare Energien und ein Aussetzen des Lieferkettengesetzes, wie die "Bild"-Zeitung vorab berichtet. SPD und Grüne dürften darüber nicht erfreut sein.

Offenbar sind die Freidemokraten bereits voll im Wahlkampfmodus. Dumm nur, dass sie mit regieren und offenbar noch immer nicht gemerkt haben, dass ihre Strategie der innerkoalitionären Opposition sich bislang nicht auszahlt: Sie kratzen in Umfragen an der Fünfprozenthürde.


Als die Jagd nach "Dagobert" endete

Am 13. Juni 1992 erschien im "Hamburger Abendblatt" eine mysteriöse Anzeige: "Onkel Dagobert grüßt seine Neffen." Kein Fan der berühmten Comicfigur hatte sie geschaltet, sondern der Kaufhaus-Konzern Karstadt – von einem Erpresser dazu genötigt: Karstadt sollte damit signalisieren, zahlungsbereit zu sein. Fortan war von "Dagobert, dem Kaufhauserpresser" die Rede. Sechs Bomben ließ er in Kaufhäusern explodieren, um zu zeigen, dass er es ernst meinte. Der Schaden ging in die Millionen, Menschen wurden keine verletzt. Dieser Umstand und die Raffinesse, mit der "Dagobert" bei den Geldübergaben vorging, erklären wohl, weshalb viele Menschen in Deutschland mit dem Erpresser sympathisierten. Fast zweieinhalb Jahre narrte er die Polizei.

Vor 30 Jahren wurde Arno Funke alias "Dagobert" gefasst. Der Berliner, der nach sechs Jahren Haft freikam, ist inzwischen 74 Jahre alt, hat nach der Haft ein Buch über seine Geschichte geschrieben, sich als Karikaturist einen Namen gemacht, trat in Shows auf. Was der Rentner heute macht und ob er seine Taten bereut, hat er meinem Kollegen Pascal Biedenweg in einem lesenswerten Interview erzählt.


Das historische Bild

Mitten im Ersten Weltkrieg kam es 1916 zu einem Aufstand in Irland, die Briten schlugen ihn blutig nieder. Mehr lesen Sie hier.


Lesetipps

Die Ukraine und die USA: Monatelang blockierten die Republikaner in den USA die dringend benötigte Hilfe für die Ukraine. Am Wochenende mobilisierte der republikanische Sprecher des Repräsentantenhauses, Mike Johnson, nun endlich eine Mehrheit für ein 61-Milliarden-Paket. Gute Nachrichten für die Ukraine, schlechte für Putin und auch für Trump, kommentiert unser US-Korrespondent Bastian Brauns.


Die Ukraine und Deutschland: Die militärische Lage der Ukraine ist dramatisch. Robert Habeck will ihr stärker helfen. Doch auf seiner Reise zeigt sich, wie schwierig das wird, berichtet unser politischer Reporter Johannes Bebermeier aus der Ukraine.


Die Ukraine und ihr Präsident: Wolodymyr Selenskyj ist das Symbol des ukrainischen Widerstands. Welches Ziel will der Präsident der Ukraine aber langfristig erreichen? "Selenskyj plant etwas Großes", erklärt Simon Shuster, "Time"-Korrespondent und Autor einer Selenskyj-Biografie im Gespräch mit meinem Kollegen Marc von Lüpke.


Blick zurück nach vorn: Israel wird 76 und ist als Atommacht aus der Region nicht zu vertreiben. Dieser Einsicht verschließt sich eigentlich nur noch Iran, die Schutzmacht der Palästinenser, schreibt unser Kolumnist Gerhard Spörl.


Die Fußball-Wende: Noch vor wenigen Monaten versank der Deutsche Fußballbund im Chaos. Bei der Heim-EM drohte ein Desaster. Jetzt ist plötzlich alles anders. Verantwortlich dafür ist vor allem ein Mann. Wer das ist und wie ihm das gelang, erklärt Ihnen mein Kollege Nils Kögler.


Zu guter Letzt

Ich wünsche Ihnen einen guten Start in die Woche, möge mehr Vernunft in der Welt herrschen. Morgen schreibt Florian Harms hier wieder für Sie.

Herzliche Grüße

Ihre Heike Vowinkel
Textchefin t-online
Twitter: @HVowinkel

Was denken Sie über die wichtigsten Themen des Tages? Schreiben Sie es uns per E-Mail an t-online-newsletter@stroeer.de.

Mit Material von dpa.

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