Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Ein unwürdiges Schauspiel
Guten Morgen liebe Leserin, lieber Leser,
können Sie sich noch an einen besonders prägenden Satz einer Lehrerin oder eines Professors erinnern, einer, der Ihnen seitdem nicht mehr aus dem Kopf geht? Und sei es, weil Sie ihn ganz fürchterlich fanden, aber schon ahnten, dass er ein Körnchen Wahrheit enthält?
Gerade dieser Tage muss ich an daran denken, wie meine Professorin für Vergleichende Politikwissenschaft an der Universität Bamberg, nennen wir sie Frau Müller*, mit Inbrunst durch den Hörsaal tönte: "Politik ist die Kunst des Möglichen!"
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Ich nahm den Satz empört zur Kenntnis, aber widersprach nicht. Es war die erste Vorlesung meines beginnenden Politik-Studiums, und man lauschte den akademischen Vordenkern noch mit einer gewissen Ehrfurcht (das sollte sich bald ändern).
Der Satz, der Otto von Bismarck zugeschrieben wird, hat mich nachhaltig verärgert. Dass man Erstsemestern gleich in der Einführungsvorlesung einen intellektuellen Schlagbaum in den Kopf pflanzen muss, war schlimm genug.
Aber richtig auf die Palme brachte mich diese Kleingeistigkeit, die Frau Müller in meinen Augen damit bewies. Politik als Kunst des Möglichen? Welche fahrlässige Verkleinerung des politischen Möglichkeitsraumes!, schäumte mein jüngeres Ich (innerlich, nach außen ließ ich mir ja nichts anmerken).
Was ist mit den großen Visionen und geistigen Innovationen, die ganze Staaten zu Fall brachten und andere aufblühen ließen, oder den synaptischen Dehnübungen im Kleinen, die über das schnöde Hier und Jetzt hinausweisen und den menschlichen Fortschritt befeuern? Ist das etwa keine Politik?
Meine Empörung war auch biografisch genährt: Die unterfränkische Provinz, in der ich aufwuchs, war damals politisch eine tiefschwarze Ödnis. Es waren spießige Zeiten, die CSU regierte mit absoluter Mehrheit und ein baldiger Ausweg aus dem Immergleichen lag definitiv nicht im Bereich des Möglichen. Was wollte mir Frau Professorin also sagen: Mehr ist halt nicht drin?
Heute, fast 20 Jahre später, denke ich anders über den Satz. Er hat an Gültigkeit gewonnen, auch wenn er nicht immer wahr ist. Vor allem aber könnte er kaum aktueller sein: Deutschland steckt in einer schweren Regierungskrise, weil SPD, Grüne und FDP 2021 auf Grundlage eines Buchungstricks eine Koalition gebildet haben, anstatt eine gemeinsame politische Vision zu entwickeln.
Nun ist der Trick aufgeflogen, doch ein gemeinsames Konzept, wie Deutschland regiert werden soll, gibt es weiterhin nicht. Die Kunst des Möglichen hätte nun darin bestanden, die parteipolitischen Eitelkeiten hinter sich zu lassen und sich zu einigen, um Schlimmeres zu verhindern. Stattdessen trennten sich die Ampelspitzen am Mittwoch offenbar erneut, ohne ein Ergebnis zu präsentieren.
Das ist ein politisches Versagen allererster Güte. In der größten Krise ihrer zweijährigen Regierungszeit haben es die Ampelspitzen erneut versäumt, sich zusammenzuraufen. Damit wird es immer enger, dass der Haushalt 2024 noch verabschiedet wird.
Klar, es ging um viel, die Einsätze waren hoch, und eine Einigung wäre für alle schmerzhaft gewesen. Doch weder galt es, ein technisches Wunder zu vollbringen, noch einen überlegenen Gegner zu schlagen. Gesucht war eine politische Lösung, also eine, die den beteiligten Akteuren nichts weiter abverlangt als den Willen zur Einigung. Das war offensichtlich zu viel verlangt von Scholz, Habeck und Lindner.
Dabei steht einiges auf dem Spiel: Gelingt es der Ampel nicht mehr, bis Weihnachten ein Haushaltsgesetz für nächstes Jahr zu verabschieden, läuft der Bund ab 1. Januar 2024 in eine vorläufige Haushaltsführung.
Bei einer vorläufigen Haushaltsführung darf der Staat nur das Nötigste ausgeben und die Bundesministerien dürfen keine neuen Vorhaben beginnen. Zwar ist das in gewisser Regelmäßigkeit der Fall, wenn etwa nach Wahlen der neue Bundestag noch keinen Etat verabschiedet hat. Und doch kann die vorläufige Haushaltsführung drastische Konsequenzen haben.
Im Wohnungsbau wären die Auswirkungen besonders dramatisch, wie meine Kollegin Annika Leister recherchiert hat: So wären im Bauministerium von Klara Geywitz (SPD) gleich mehrere wichtige Förderprogramme betroffen: Rund 1,1 Milliarden Euro für den klimafreundlichen Neubau und die Wohneigentumsfinanzierung für Familien könnten womöglich nicht ausbezahlt werden. Ebenso stünde die Förderung der kommunalen Wärmeplanung auf der Kippe, für die rund 500 Millionen Euro vorgesehen waren.
Die anderen Bundesministerien stellen sich ebenso auf den Notstand ein, auch wenn in vielen Häusern noch Verunsicherung herrscht, welche Vorhaben genau davon betroffen sind.
Trotz dieser Dringlichkeit war in den vergangenen Tagen ein besonders unwürdiges Schauspiel zu beobachten.
Statt sich politisch oder wenigstens symbolisch aufeinander zuzubewegen, taten die Ampelpartner nichts anderes, als rote Linien zu ziehen und einander ihre Parteiprogramme und Weihnachtswunschzettel vorzulesen. Bloß nicht abrücken von den eigenen Maximalforderungen, bloß nicht den Koalitionsgegner gewinnen lassen!
Die FDP schien bemüht, sich in ein besonders ungünstiges Licht zu rücken: Seit Tagen erklären führende Liberale in einem nicht enden wollenden medial vermittelten Bewusstseinsstrom, was es demnächst alles geben könnte, wäre der Weihnachtsmann FDP-Mitglied: Verzicht auf Bürgergeld-Erhöhung, Kürzungen bei der Entwicklungshilfe und der kommunalen Wärmeplanung, Abschaffung der Kindergrundsicherung, weniger Hilfen für Asylbewerber, Subventionsabbau und so weiter.
Besonders unglücklich war, dass FDP-Parteichef und Bundesfinanzminister Lindner dabei mitmachte und – parallel zu den Geheimrunden im Kanzleramt – Wasserstandsmeldungen an die Medien durchreichte.
Aber auch SPD und die Grünen taten viel, um die Grenzen der Koalition zu testen und eine Einigung zu erschweren. Dabei sollte allen klar sein: Selbst wenn die Ampel in den nächsten Tagen oder im Januar noch zu einer Lösung kommen sollte – die echten Herausforderungen stehen noch an.
Bei der jetzigen Krise ging es um ein Finanzloch von 17 Milliarden Euro. Kein Pappenstiel, aber nur rund vier Prozent des Gesamtetats 2024 (rund 450 Milliarden Euro) – und schon dafür riskierte die Ampel nicht nur ihre eigene Handlungsfähigkeit, sondern beinahe einen Kollaps der gesamten Regierung. Und auch wenn die Implosion diesmal verhindert werden kann, lässt sich wohl unschwer behaupten: Noch so ein Streit und die Ampel ist verloren.
Angesichts der noch anstehenden Großbaustellen der nächsten Jahre bleibt daher wenig Hoffnung, dass die Koalition dieser Aufgabe gewachsen ist. Eine kleine Auswahl, was unbedingt angegangen werden muss:
– die sträflich vernachlässigte Modernisierung der Infrastruktur im Straßen- und Schienenverkehr
– der klimaneutrale Umbau der Wirtschaft, des Verkehrs, der Energieversorgung und des Gebäudesektors bis 2045
– die zügige Stärkung einer zur Landes- und Bündnisverteidigung fähigen Bundeswehr, die in ein paar Jahren in der Lage ist, ein expansives Russland abzuschrecken, das auf Kriegswirtschaft umgestellt hat
– die fortwährende Unterstützung der angegriffenen Ukraine und die Sicherstellung, dass sich Putins Kriegsmaschine nicht weiter ausbreitet
– die Steuerung der irregulären Migration, die Schaffung legaler Fluchtwege und die Lösung des Fachkräfteproblems
– die Digitalisierung von Behörden, Unternehmen und der öffentlichen Verwaltung
– eine dringende Lösung für die historische Bildungskatastrophe in Deutschland, die die aktuelle Pisa-Studie gerade wieder belegt
Bei dieser Aufzählung wird einem fast etwas mulmig zumute, wenn man bedenkt, dass eine derart zerstrittene Ampel-Regierung mit der Bewältigung dieser Aufgaben betraut ist.
Denn um diese Jahrhundertherausforderungen zu meistern, wäre Koalitionspartner vonnöten, die ihre parteipolitischen Allüren abstreifen und eine Kraft entfalten, die ganz im Sinne Bismarcks und von Frau Müller aus Bamberg auf die politische Kunst des Möglichen setzt.
Sie haben erhebliche Zweifel, dass das passiert? Führende Ampel-Politiker dürften Ihnen zustimmen.
Lokführerstreik am Donnerstag und Freitag
Bahnkunden, denen das Eis- und Schneechaos der vergangenen Tage noch nicht genug war, dürfen aufatmen: Am Donnerstag ab 22 Uhr bis Freitag zur gleichen Zeit legt die Lokführergewerkschaft GDL Teile des Zugverkehrs lahm. Der Ausstand trifft damit auch den Wochenendverkehr. Im Güterverkehr beginnt der Streik bereits um 18 Uhr am Donnerstag. Die GDL hatte Ende November die Verhandlungen mit der Deutschen Bahn abgebrochen und einen weiteren Streik angekündigt – nun ist der Zeitpunkt bekannt.
Immerhin für Weihnachten verspricht der streiklustige Lokführerpapst und Chef der GDL, Claus Weselsky, Ruhe am Gleis. "Ich habe klipp und klar gesagt: Die GDL hat noch nie an Weihnachten gestreikt, sie wird es auch dieses Jahr nicht machen." Bahnkunden aller Bundesländer danken dem Herrn Weselsky und wünschen ihm und insbesondere dem Vorstand der Deutschen Bahn schon mal vorzeitig und völlig ironiefrei: frohe Feiertage!
Auf den letzten Metern
Als wäre eine Haushaltskrise nicht schon genug, hat die Kanzlerpartei noch einen Bundesparteitag am Haken. Auf dem Parteitag vom 8. bis 10. Dezember im Citycube Berlin will die SPD, die im Mai ihren 160. Geburtstag feierte, wieder mehr Sozialdemokratie wagen. Am Donnerstag kommen die Parteigremien zusammen und wollen einen Antrag über Migrationspolitik beschließen, um die parteiinternen Kritiker zu befrieden.
Es gebe "ein großes Bedürfnis" in der Partei, "vom Reagieren zum Agieren zu kommen", fasste Generalsekretär Kevin Kühnert die Stimmung im Vorfeld zusammen. Eine nette Untertreibung: Die SPD liegt in den Umfragen bei 15 Prozent und der Kanzler darf froh sein, im Beliebtheitsranking überhaupt noch unter den Top 20 zu sein.
Um die Krise zu überwinden, fordert Kühnerts Nachfolger als Juso-Chef, der frisch gewählte Philipp Türmer, einen Kurswechsel auf dem Parteitag: Die SPD müsse wieder eine "sozialdemokratischere" Linie vertreten, so Türmer im t-online-Interview und sagt über Scholz: "Ich will ihn antreiben. Olaf ist ein Kanzler der SPD, auch wenn man das manchmal nicht so deutlich erkennt." (Hier lesen Sie mehr über Türmers Kritik an Scholz).
Lesetipps
Markus Söder hat angekündigt, in bayerischen Schulen und Behörden das Gendern verbieten zu wollen. Aber ist dieser Schritt richtig? Meine Kollegin Charlotte Siemers und mein Kollege Christoph Schwennicke haben dazu eine konträre Meinung – entscheiden Sie selbst, welche Argumente Ihnen mehr zusagen.
Die Kritik am ukrainischen Präsidenten wird lauter. Zuletzt erregte Kiews Bürgermeister Klitschko mit scharfen Äußerungen Aufmerksamkeit. Was ist dran? Mein Kollege Simon Cleven hat mit zwei Experten über den wachsenden innerukrainischen Konflikt mitten im Krieg gesprochen.
Iris Berben will auch mit 73 Jahren noch eine Rebellin sein. Mein Kollege Steven Sowa hat mit ihr über die Herausforderungen unserer Zeit, die Lage in Deutschland und ihren neuesten Film "791 km" gesprochen. Er kommt zu dem Schluss: "Iris Berben ist klar und bestimmt, dabei aber differenziert und nachdenklich."
Zum Schluss
Wie man Ölscheichs am Golf die Klimakrise (nicht) erklärt:
Ich wünsche Ihnen einen entspannten Donnerstag. Morgen kommt der Tagesanbruch von meinem Kollegen und t-online-Chefredakteur Florian Harms.
Herzliche Grüße
Ihr
Daniel Mützel
Reporter im Hauptstadtbüro von t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
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