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Eskalation in Nahost: Bittere Erkenntnis wird plötzlich relevant


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Da, die Brücke …

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 01.11.2023Lesedauer: 6 Min.
Nach dem Bosnienkrieg wurde die Brücke von Mostar wiederaufgebaut.Vergrößern des Bildes
Nach dem Bosnienkrieg wurde die Brücke von Mostar wiederaufgebaut. (Quelle: imago-images-bilder)
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Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

eigentlich hatte ich mir vorgenommen, Ihnen heute etwas Leichtes zu servieren. Irgendwas mit Wetter, Sport, Fernsehen oder so. Aber dann fiel mein Blick auf einen Jahrestag, der leider – wie so vieles gegenwärtig in der Welt – gar nicht leicht ist. Aber er ist wichtig.

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In der kommenden Woche wird es dreißig Jahre her sein, dass Panzergranaten die Brücke von Mostar pulverisierten. Ohne Strategie, ohne taktischen Sinn, einfach nur so. Man muss ein bisschen älter sein, um sich daran zu erinnern, dass der Name dieses Balkan-Örtchens auf den Titelseiten aller Zeitungen zu lesen war und in der "Tagesschau" über den Bildschirm flimmerte. Mostar ist ein malerisches Städtchen in südländischer Landschaft, in der Mitte geteilt von einem kleinen Fluss. Eine Brücke aus dem 16. Jahrhundert schwang sich in einem eleganten Bogen darüber, als Sinnbild der Stadt und der Verbundenheit seiner Teile über alle ethnischen Grenzen hinweg. Während der Balkankriege wurde sie Anfang November 1993 von kroatischen Soldaten zerschossen. Mit großem Tamtam baute man sie zwar Jahre später wieder auf, verbindende Wirkung entfaltet sie aber nicht mehr. Die Erinnerung an die Belagerung, an die mörderischen Kämpfe in der geteilten Stadt, an die Scharfschützen, die Frauen und Kinder beim Wasserholen töteten, all das ist noch da.

Der Krieg in Bosnien-Herzegowina stellte an Brutalität und Grausamkeit alles in den Schatten, was sich in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg ereignet hatte. Allein in den ersten Monaten brachten serbische Milizen im Osten Bosniens Tausende Zivilisten um, errichteten Konzentrationslager und Folterkerker. Menschen wurden in Häuser gepfercht, dann Handgranaten hinterher, angezündet. Der Wahnsinn erreichte seinen Höhepunkt gegen Ende des Krieges in Srebrenica, einer von den Vereinten Nationen geschützten Enklave für bosnische Muslime, die vom Kriegsverbrecher Ratko Mladić und dessen Schergen überrannt wurde. Sie ermordeten mehr als 8.000 Menschen.

Es wird Sie wahrscheinlich nicht überraschen, wenn ich Ihnen verrate, dass das Verhältnis der Volksgruppen in Bosnien-Herzegowina bis heute vergiftet ist. Aber vielleicht fragen Sie sich nun doch, warum ich heute auf die Gräuel der Neunzigerjahre zurückkomme. Haben wir nicht genug furchtbare Nachrichten? Erleben wir nicht genug Schlimmes in unseren eigenen Tagen?

Das ist wohl wahr. Aber nicht nur eine zerstörte Brücke hat uns etwas mitzuteilen, sondern auch das Nachspiel des Balkankonflikts. Eigentlich ist er vorbei – und doch wieder nicht. Das Misstrauen, das jeder empfindet, der die Leute aus dem Nachbardorf mit Kalaschnikows auf sich zustürmen sah, ist noch da. Das Wissen, dass unter den Menschen in der Nähe Mörder, Vergewaltiger und Kriegsverbrecher wohnen, entfaltet seine zersetzende Wirkung noch immer. Der Horror in Bosnien erteilt uns eine simple, aber grundlegende Lektion: Ein herkömmlicher Krieg einerseits und einer, der mit Massakern geführt wird andererseits – das sind zwei unterschiedliche Zustände. Irgendwann schweigen die Waffen. Aber mit einem Frieden, der den Namen verdient, ist es nach solchen Gräueltaten auf Dauer vorbei.

Deshalb sind die grausamen Geschehnisse auf dem Balkan leider nicht nur für die Bewohner der Region oder für Geschichtsinteressierte relevant. Dieselben Gräben werden nämlich gerade wieder ausgehoben, nur ein bisschen weiter weg: Die Attacke der Hamas am 7. Oktober hat den Konflikt im Nahen Osten verwandelt. Der November wird den Einschnitt noch vertiefen. Terror ist in Israel schon vorher nichts Neues gewesen: hier ein Messerangriff, dort eine Bombe, anderswo ein Auto, das in eine Menschenmenge fuhr. Aber das Massaker im Süden des Landes hat jedem Israeli glasklar vor Augen geführt, was ihnen blüht, wenn die andere Seite einmal die Oberhand gewinnen sollte.

Die Vernichtung des jüdischen Staates und seiner Bewohner ist keine Rhetorik, derer sich die Hamas nur in Sonntagsreden bedient. Die Bedrohung ist existenziell, konkret und nun erstmals in die Realität umgesetzt worden. Angesichts dessen bleibt für feinsinnige Unterscheidungen zwischen den Mördern und der Gesellschaft, der sie entstammen, in Israel kein Platz. Konkret bedeutet das: Die Perspektive eines friedlichen Zusammenlebens oder gar eine Zweistaatenlösung ist nicht mehr nur auf unbestimmte Zeit vertagt wie vor dem Massaker. Sie ist vom Tisch.

Das gilt nicht nur für die israelische Seite. Im November müssen wir uns auf einen Häuser- und Guerillakrieg in einem der am dichtesten besiedelten Gebiete der Erde einstellen. Im nördlichen Gazastreifen liegen schon jetzt ganze Stadtteile in Schutt und Asche, obwohl die israelische Bodenoffensive gerade erst anläuft. Es sind furchtbare Szenen und horrende Opferzahlen zu erwarten. In Teilen der arabischen und auch der türkischen Öffentlichkeit ist schon jetzt von einem Genozid die Rede: der Vernichtung der Palästinenser im Gazastreifen. Politiker wie Erdoğan befeuern diese Interpretation. Ob der Tod einer Familie nicht das eigentliche Ziel, sondern vielleicht nur ein "Kollateralschaden" war? In der aufgeheizten Atmosphäre ist das für die Bewertung egal. Bei den Details schaut keiner mehr hin, sobald man den bösen Vorsatz vermutet. Und der Vorsatz Israels gilt in der islamischen Welt als gesetzt.

Das hat Konsequenzen, auch hierzulande. Die islamistische Terrorgefahr wird vermutlich wieder steigen, weil in der schlichten Logik, die sich in den sozialen Netzwerken verbreitet, am Ende der Westen schuld am Sterben im Nahen Osten ist.

Diesem Risiko sind wir jedoch nicht hilflos ausgeliefert. Der Hass auf Israel, der in Deutschland in arabisch- und türkischstämmigen Milieus um sich greift, basiert in der Regel nicht auf eigenen Erfahrungen, sondern ist von Propaganda, WhatsApp- und TikTok-Filmchen getrieben und deshalb überwindbar – auch wenn es nicht leicht ist. Mit politischer Bildung, mehr Ressourcen für Schulen und verstärkter Integration kann Deutschland seiner historischen Aufgabe gerecht werden. Denn die erschöpft sich nicht in der Solidarität mit Israel, die Teil unserer Staatsraison ist. Auch dem Hass entgegenzuwirken, gehört zu unserer Aufgabe.

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Das bedeutet: den Kontrahenten – wenn auch nur denen in unserem Land – zu ermöglichen, die Auseinandersetzung mit den Augen der anderen zu sehen. So kommt man dem Frieden im Nahen Osten zwar leider erst mal nicht näher. Aber irgendwo muss man ja anfangen. Am besten bei uns.


Zitat des Tages

"Werdet diese digitalen Geräte los, schmeißt eure Tablets weg, lest nicht über anderer Leute Leben. Verscheucht diesen negativen Müll, der täglich in den sozialen Medien angespült wird."

Arnold Schwarzenegger in seinem neuen Buch "Be Useful".


Wegweisende Konferenz

Künstliche Intelligenz wird unser aller Leben verändern, darin sind sich Forscher einig. Aber wie genau? Und wie lassen sich die offensichtlichen Gefahren der KI vermeiden? In Deutschland schlummert man bei Digitaldingen den Schlaf der Ahnungslosen, in Großbritannien ist man weiter: Die Regierung lädt ab heute in Bletchley Park zum weltweit ersten Gipfel über die Risiken der KI. Ein wegweisendes Treffen, wie mein Kollege Steve Haak schreibt. Schon der Ort ist legendär: Kryptologen entschlüsselten dort während des Zweiten Weltkriegs die Geheimcodes der Nazis.

Das Deutschland des Jahres 2023 ist zwar digital ahnungslos, zum Glück aber auch friedlich. Das dürfte auch für die Minister Volker Wissing und Robert Habeck gelten, die eigens anreisen. Aus Amerika kommen neben Vizepräsidentin Kamala Harris Abgesandte der Internetkraken Google und Facebook und wohl auch der Quartalsirre Elon Musk. Dass der Sinnvolles beitragen kann, ist eher nicht anzunehmen. Aber er ist sehr reich und drauf und dran, sein Spielzeug Twitter in eine Hassschleuder für Extremisten, Verschwörungsheinis und andere Knallköpfe zu verwandeln. Wäre eigentlich schön, es gäbe eine KI, die all den Unsinn von Mister Musk aus dem Netz tilgt, oder?


Was steht noch an?

Die Ampelregierung will mehrere Regeln beschließen, die Asylbewerbern den schnelleren Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglichen. Auch härtere Strafen für Schleuser stehen auf der Tagesordnung. Außerdem will das Kabinett die Verlängerung der Energiepreisbremsen für Gas und Strom über das Jahresende hinaus durchwinken. Da muss aber erst noch die EU-Kommission zustimmen.


Die US-Notenbank gibt ihre Entscheidung zur weiteren Geldpolitik bekannt. Analysten gehen davon aus, dass die Fed den Leitzins zum zweiten Mal in Folge unverändert lässt, also bei 5,25 bis 5,5 Prozent. Schließlich beginnt die Inflation endlich zu sinken und die amerikanische Wirtschaft schnurrt.


Wetterfrösche warnen vor einem Sturmtief: Es nähert sich vom Atlantik und könnte heute Nacht einen rekordverdächtigen Druckabfall mit heftigen Orkanböen auslösen. Meteorologen sprechen von einem "Bombenzyklon". Bunkern Sie sich heute Abend also lieber zu Hause ein!


Ohrenschmaus

Der belgische Barde Salvatore Adamo feiert heute seinen 80. Geburtstag. Hören Sie mal, wie schön der trällern kann.


Lesetipps

Bei seinem Besuch in Ghana hat Olaf Scholz Überraschendes erlebt. Unsere Reporterin Sara Sievert berichtet von bemerkenswerten Szenen.


Israelische Truppen dringen immer tiefer in den Gazastreifen ein. Die echte Herausforderung kommt wohl erst noch, schreibt mein Kollege Simon Cleven.


Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen Volksverhetzung gegen den AfD-Abgeordneten Daniel Halemba. Wie weit er in den Rechtsextremismus verwickelt ist, zeigen Ihnen meine Kollegen Lars Wienand und Annika Leister.


Was wissen Sie wirklich über den Klimawandel? Schauen Sie doch mal, ob Sie diese Fragen beantworten können.


Zum Schluss

Die haben's gut, die Bayern.

Wo auch immer Sie wohnen, woran auch immer Sie glauben: Ich wünsche Ihnen einen frohen Tag. Morgen kommt der Tagesanbruch von David Schafbuch, am Freitag wieder von mir.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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