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Nahost | Israel: "Genozid"- und "Apartheid"-Vorwürfe im Faktencheck


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Anti-israelische Vorwürfe im Nahostkonflikt
"Ich warne davor, diesen Begriff einfach so zu verwenden"


30.10.2023Lesedauer: 6 Min.
Rauch steigt über Gaza auf: Die israelische Armee verübt Luftschläge auf das palästinensisch bewohnte Gebiet,Vergrößern des Bildes
Rauch steigt über Gaza auf: Die israelische Armee verübt Luftschläge auf das palästinensisch bewohnte Gebiet, (Quelle: STRINGER/reuters)
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In seiner Verteidigung gegen den Terror der Hamas sieht sich Israel mit zahlreichen Vorwürfen konfrontiert. Was sagt das Völkerrecht zu den Anschuldigungen?

Seit dem 7. Oktober leuchten regelmäßig Warnungen auf den Smartphones vieler Israelis auf. Mehrfach am Tag warnt die Regierung ihre Bevölkerung vor Raketenangriffen der Hamas. Um sich zu verteidigen und dem Terror der Hamas gegen die Zivilbevölkerung ein Ende zu setzen, reagiert die israelische Armee mit Luftschlägen auf den Gazastreifen, blockierte zeitweise Hilfslieferungen an die Bevölkerung komplett. Derzeit geht sie zudem in einer Bodenoffensive gegen die Hamas-Terroristen im Norden des palästinensisch bewohnten Gebietes vor.

Dafür aber erntet die israelische Regierung weltweit teils harsche Kritik. Auch die Europäische Union (EU) etwa betonte zwar das Recht Israels, sich zu verteidigen, warnte allerdings, dass dies "im Einklang mit dem Völkerrecht und dem humanitären Völkerrecht" geschehen müsse. Doch was sagt das humanitäre Völkerrecht zur Situation im Nahostkonflikt? Und: Welche Vorwürfe gegen Israels Regierung sind richtig – welche haltlos? t-online gibt einen Überblick.

Kriegsverbrechen der Hamas

In einem Punkt sind sich viele Expertinnen und Experten einig: Berichte und Aufnahmen lassen darauf schließen, dass die Terrororganisation Hamas mit ihrem Angriff auf Zivilisten und zivile Infrastrukturen eindeutig gegen das humanitäre Völkerrecht verstößt. Die Hamas attackierten Israel am 7. Oktober 2023, töteten und folterten zahlreiche Zivilisten. Mehr als 1.400 Menschen wurden nach israelischen Angaben bereits durch die Terroristen getötet. Auch verschleppten sie mehr als 230 Menschen als Geiseln in den Gazastreifen.

"Die dokumentierten Gewalttaten führen zu der Annahme, dass es sich hierbei um Kriegsverbrechen und Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht handelt, sowie voraussichtlich auch um Verbrechen gegen die Menschlichkeit", heißt es etwa in einer Analyse von Völkerrechtlerin Lisa Wiese und Muriel Asseburg, Politikwissenschaftlerin der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). So untersage die Genfer Konvention, die das humanitäre Völkerrecht regelt, etwa die Geiselnahme von Zivilpersonen.

Der ehemalige Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH), Luis Moreno Ocampo, sagte der "Washington Post", "es handelt sich möglicherweise auch um Völkermord, weil die Hamas die Absicht hat, Israelis zu vernichten." In ihrer Gründungscharta vom 18. August 1988 haben sie dieses Ziel festgeschrieben. Mehr zu der Terrororganisation lesen Sie hier.

Doch ihr Terror richtet sich nicht nur gegen Israelis. Auch palästinensische Zivilisten werden von der Hamas für ihren Terror gegen Israel missbraucht. Diese nutzen Zivilistinnen und Zivilisten im Gazastreifen regelmäßig als menschliche Schutzschilde, indem sie sich etwa in Wohnbezirken verschanzen. Mehr dazu lesen Sie hier. Zudem forderten die Hamas Berichten zufolge palästinensische Zivilisten dazu auf, die Nordhälfte Gazas trotz israelischer Warnung nicht zu verlassen. "Das ist nie erlaubt", sagt Anna Petrig, Völkerrechts-Expertin der Universität Basel. Demnach begingen die Hamas eindeutig Kriegsverbrechen.

Israels Maßnahmen gegen den Terror

Um den Terror der Hamas zu bekämpfen und Israel vor weiteren Angriffen zu schützen, ergreift die israelische Regierung im Gazastreifen folgende Maßnahmen:

  • Blockade des Gazastreifens mithilfe von Ägypten: Ab dem 9. Oktober wurden zunächst keinerlei Güter – also keine Lebensmittel, Strom, Treibstoff, Medikamente und Trinkwasser – mehr in den Gazastreifen geliefert. Erst elf Tage später kamen wieder Hilfsgüter über Ägypten nach Gaza. Treibstoff, der zur Stromerzeugung für Krankenhäuser benötigt wird, gehörte nicht dazu. Die israelische Regierung fürchtet, die Hamas könnte ihn zu militärischen Zwecken missbrauchen.
  • Raketenangriffe auf militärische Ziele in Gaza: Die israelische Regierung verübt nach eigenen Angaben Luftschläge auf militärische Ziele im Gazastreifen. Die Hamas-Terroristen nutzen jedoch auch zivile Einrichtungen, wie Wohnhäuser, als Versteck. Auch ihr dichtes Tunnelsystem sowie die Kommandozentralen befinden sich häufig in oder unter Wohngebieten, sodass bei den Angriffen darauf auch Zivilisten getötet werden. Laut dem von der Hamas kontrolliertem Gesundheitsministerium sollen es bereits mehr als 8.000 sein. Unabhängig prüfen lassen sich diese Zahlen derzeit nicht.
  • Bodenoffensive im Norden Gazas: Die israelische Regierung rückt seit Ende der vergangenen Woche mit Panzern und Bodentruppen im Gazastreifen vor, um die Geiseln in Gefangenschaft der Hamas zu befreien, ihre Infrastruktur zu zerstören und die Hamas-Terroristen zu töten. Zuvor rief sie die Bevölkerung im nördlichen Gazastreifen auf, nach Süden zu flüchten. Mehr zur israelischen Bodenoffensive in Gaza lesen Sie hier.

Aussagen im Faktencheck

Infolgedessen sieht sich die israelische Regierung von Menschenrechtsorganisationen sowie internationalen Organisationen wie den Vereinten Nationen (UN) oder auch der EU dazu aufgerufen, das Völkerrecht zu achten. Denn: "Auch eine Aufforderung zur Evakuierung führt nicht dazu, dass Zivilistinnen, die nicht evakuieren können oder wollen, ihren Schutzstatus verlieren", so die SWP-Expertinnen Wiese und Asseburg. Zudem könne die Blockade des Gazastreifens hinsichtlich zentraler Hilfsgüter eine "Kollektivstrafe" darstellen und damit gegen humanitäres Völkerrecht verstoßen.

Auf pro-palästinensischen Demonstrationen und auch in der internationalen Politik werden der israelischen Regierung auch deshalb schwere Vorwürfe und teils antisemitische Falschbehauptungen entgegengebracht:

Der "Genozid"-Vorwurf

Auf pro-palästinensischen Demos wird Israel immer wieder vorgeworfen, einen "Genozid" an der palästinensischen Bevölkerung zu begehen, teils wird auch von einem "Holocaust" gesprochen und damit die Shoah an Millionen Jüdinnen und Juden verharmlost. Auch der ehemalige IStGH-Chefankläger Ocampo spricht von einem möglichen Völkermord in Gaza, die UN etwa werfen Israel vor, "im Namen der Selbstverteidigung" eine "ethnische Säuberung" zu betreiben.

Völkerrechtler Markus Krajewski sieht in der Verwendung des Begriffs derzeit vor allem eine politische Nutzung. "Ich warne davor, diesen Begriff einfach so zu verwenden. Wir haben nichts davon, wenn wir Menschenrechtsverletzungen und mögliche Verstöße gegen das Völkerrecht pauschal als Genozid bezeichnen", sagt Krajewski im Gespräch mit t-online.

Denn der Begriff "Genozid" oder auch "Völkermord" ist in erster Linie ein juristischer Begriff – darüber, ob er zutrifft oder nicht, kann letzten Endes nur das IStGH entscheiden. In der "Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords" der UN wird er jedoch seit 1948 als eine Handlung definiert, "die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören":

  • a) Tötung von Mitgliedern der Gruppe
  • b) Verursachung von schwerem körperlichen oder seelischen Schaden an Mitgliedern der Gruppe
  • c) vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen
  • d) Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind
  • e) gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.

Zwar räumt Krajewski ein, dass die israelische Armee vermehrt "unterschiedslose" Angriffe zwischen zivilen Einrichtungen und militärischen Einrichtungen durchführe. Einen Genozid-Vorwurf rechtfertige das aber noch nicht. "Man müsste zunächst einmal festlegen, wem dieser Vorwurf konkret gemacht wird: einzelnen Soldaten? Der israelischen Regierung als solcher?", so Krajewski. Diesen müsste dann zudem eine Absicht nachgewiesen werden. "Das ist besonders schwierig", so der Experte. "Auf politischer Ebene sehe ich derzeit keine offizielle Linie, die palästinensische Zivilbevölkerung als Ganzes zu vernichten."

Der "Apartheid"-Vorwurf

Immer wieder wird Israel auf pro-palästinensischen Demonstrationen als "Apartheidstaat" oder "kolonialistischer Staat" bezeichnet und ein "Ende der Apartheid" gefordert. Auch die Menschenrechtsorganisation Amnesty International zieht mit dieser Begriffsverwendung schon seit einigen Jahren Aufmerksamkeit auf sich. Die Anti-Apartheidkonvention von 1974 sowie Artikel 7 des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) von 1998 bezeichnen Apartheid als:

  • die Absicht einer rassischen Gruppe, eine (oder mehrere) andere dauerhaft zu dominieren
  • eine systematische Unterdrückung
  • schwerwiegende Verstöße in Form unmenschlicher Behandlung

Die Situation in Israel auf Grundlage dessen als Apartheid zu bezeichnen, hält SWP-Expertin Asseburg nicht für möglich. Auch Krajewski sieht diese in Israel nicht erfüllt. "Der Apartheids-Begriff bezieht sich vor allem auf eine territoriale Abtrennung einer Gruppe von der Gesellschaft. In Israel aber ist es nicht so, dass die arabische Bevölkerung bestimmten Gebieten zugewiesen ist", so der Experte. Asseburgs Analyse, dass eine mutmaßliche Apartheid zumindest mit Blick auf das völkerrechtswidrig besetzte Westjordanland möglich ist, hält Krajewski im Gespräch mit t-online jedoch für plausibel. Doch auch darüber könne letztendlich das IStGH abschließend entscheiden.

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Gaza – ein "Freiluftgefängnis"?

Ein weiterer Begriff, der bezüglich des Gazastreifens immer wieder verwendet wird, ist der Begriff "Freiluftgefängnis". Zuletzt machte ihn sich etwa Philippe Lazzarini, Generalkommissar des UN-Hilfswerks für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten, in einem Beitrag für den britischen "Guardian" zu eigen. Was als vermeintliche Beschreibung der im Gazastreifen vorherrschenden Bedingungen daherkommt, ist jedoch anti-israelisch.

Im Gazastreifen leben mehr als zwei Millionen Menschen unter der Herrschaft der radikalislamischen Terrororganisation Hamas. Die israelische Regierung hat die Grenzübergänge zum und aus dem Gazastreifen schon vor der Terrorattacke der Hamas geschlossen, den Warenverkehr eingeschränkt und die Einreise nur unter "außergewöhnlichen humanitären Umständen" erlaubt. Zum Schutz vor Terrorattacken hat sie eine Mauer an der Grenze zu dem Gebiet errichtet.

Doch der Begriff "Freiluftgefängnis" impliziert, dass die israelische Regierung der alleinige "Gefängniswärter" Gazas ist. Das aber ist nicht richtig. Schon vor dem Angriff der Terrororganisation Hamas unterstützte Ägypten als ebenso angrenzendes Nachbarland die Blockade. Der Personenverkehr über den einzigen ägyptisch-palästinensischen Grenzübergang Rafah war kompliziert. Palästinenser, die aus dem Gazastreifen ausreisen wollten, mussten sich Wochen im Voraus bei den Behörden anmelden. Sowohl von den palästinensischen als auch von den ägyptischen Behörden konnte ihnen die Ausreise jedoch ohne Angabe von Gründen verweigert werden.

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Markus Krajewski, Völkerrechtler
  • swp-berlin.org: "Amnesty International und der Apartheid-Vorwurf gegen Israel"
  • verfassungsblog.org: "Die Gräueltaten der Hamas, Israels Reaktion und das völkerrechtliche Primat zum Schutz der Zivilbevölkerung"
  • Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa und Reuters
  • bpb.de: "1951: UN-Völkermordkonvention tritt in Kraft"
  • theguardian.org: "I run the UN agency for Palestine refugees. History will judge us all if there is no ceasefire in Gaza"
  • ohchr.org: "UN expert warns of new instance of mass ethnic cleansing of Palestinians, calls for immediate ceasefire"
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