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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Scholz in Ghana "Wir brauchen keinen Retter aus dem Westen"
Bei seinem Besuch in Ghana umwirbt der Bundeskanzler junge Menschen, die er sich als Fachkräfte für Deutschland wünscht. Die Reaktion einer Gruppe Studierender vor Ort überrascht.
Als der Bundeskanzler am Dienstagmorgen aus seiner gepanzerten Limousine heraus auf die Straßen Ghanas blickt, kann er sich einen Eindruck vom sozialen Gefälle im Land verschaffen. Seine Kolonne fährt kilometerweit aus der Hauptstadt Accra in einen Vorort. Da sind zum einen die Hochhäuser und digitalen Tafeln, die das neue Ghana und sein Potenzial zeigen. Minuten später sind da aber auch die Schlammstraßen und Wellblechhütten, die die Armut widerspiegeln, die noch immer ebenso Teil der Realität im Land ist.
Hier in Ghana, zwischen moderner Großstadt und Slums, will der Kanzler also nun den deutschen Fachkräftemangel lösen.
Es ist eines der zentralen Ziele von Scholz' Afrika-Reise. Gerade bei seinem zweitägigen Besuch in Ghana. Anders als in Nigeria spielen Rückführungen hier eine geringere Rolle. Das Problem ist kleiner, allein weil Ghana ein sicheres Herkunftsland ist. Hinzu kommt, dass die Ausbildung hierzulande besser ist als in Nigeria.
So trifft der Kanzler bei seinem Besuch hier vor allem auf junge Menschen. Sucht das Gespräch mit ihnen. Will wissen, wie er sie für den deutschen Arbeitsmarkt begeistern kann.
Denn dort fehlen immer mehr Firmen qualifizierte Fachkräfte. Laut ifo-Institut leiden rund 43 Prozent der Unternehmen unter dem Mangel. Vor allem im sozialen und handwerklichen Bereich, aber auch in MINT-Berufen (Mathematik, Informatik, Natur- und Ingenieurwissenschaft und Technik). Insgesamt fehlen rund 533.000 Arbeitskräfte. Tendenz steigend. Mit Blick auf den demografischen Wandel droht ein ernstes Problem. Dem Bundeswirtschaftsministerium zufolge wird die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter, also Personen zwischen 20 und unter 65 Jahren, bereits im Jahr 2030 um 3,9 Millionen auf einen Bestand von 45,9 Millionen Menschen sinken. So ist es kein Wunder, dass mehr als 50 Prozent der Unternehmen die größte Gefahr für ihre Geschäftsentwicklung im Fachkräftemangel sehen.
Scholz weiß um das Problem und seine Folgen – und will gegensteuern.
Aber wollen Hochqualifizierte überhaupt nach Deutschland?
Arbeiten in Deutschland? Nein, danke.
Der erste Termin am Dienstag führt den Kanzler zu der Universität Ashesi. Er trifft hier auf eine Reihe Studentinnen und Studenten, mit denen er sich etwa eine Stunde austauschen will. Scholz lässt seinen Blick durch den Raum schweifen. Um ihn herum sitzt ein Halbkreis. Er richtet sich etwas auf. Will aufmerksam zuhören, was die jungen Menschen im Raum zu sagen haben.
"Wir brauchen keinen Retter aus dem Westen", erklärt eine Frau, die Maschinenbau studiert.
Sie sieht Scholz dabei direkt an.
Die Botschaft, die dahinter steckt, wird in den folgenden Wortmeldungen mehrfach wiederholt und geht so: In den afrikanischen Ländern verändert sich etwas. Der Kontinent gewinnt mehr und mehr an Potenzial. Und das soll vor Ort vorangetrieben werden. Die jungen Frauen und Männer im Raum haben eine selbstbewusste Zukunftsvision von ihrem Land, ihrem Kontinent. Am Fachkräftemangel in Deutschland scheint hier keiner sonderlich interessiert. Und an dessen Behebung auch nicht.
Viele wünschen sich etwas anderes vom Kanzler.
Ein junger Mann sagt Scholz, es gehe ihm nicht darum, woanders hinzugehen, sondern um die Entwicklung seines eigenen Kontinents. Seine Kommilitonin ergänzt: "Wir brauchen die Möglichkeiten, von denen zu lernen, die schon dort sind, wo wir hin wollen." Sie wünscht sich Unterstützung von Deutschland. Und die sieht aus der Perspektive der Ghanaer nun einmal anders aus, als kluge Köpfe abzuwerben und unqualifizierte abzuschieben – obgleich das Thema Rückführungen hier längst nicht so eine Rolle spielt wie etwa in Nigeria.
Was hat Scholz anzubieten?
Hinzu kommt, dass es für jene, die auswandern wollen, deutlich attraktivere Ziele gibt. Eine Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ergab im März, dass Deutschland unter den 38 Ländern, die abgefragt wurden, deutlich abgerutscht ist. Von Platz 6 auf Platz 13.
Das liegt unter anderem an der Sprachbarriere. Länder, in denen beispielsweise Englisch gesprochen wird, sind verständlicherweise attraktiver. Es gibt aber noch zwei andere, entscheidendere Gründe: die hohen Bürokratiehürden und die Tatsache, dass die gesellschaftliche Akzeptanz für Migranten und Migrantinnen anderswo deutlich höher ist.
Die Ergebnisse der kürzlich zurückliegenden Landtagswahlen in Bayern und Hessen und aktuelle Umfrageergebnisse lassen nicht darauf hoffen, dass letzteres zeitnah besser wird. In Hessen ist die in Teilen rechtsextreme Partei AfD zweitstärkste Kraft geworden. Im Bund liegt sie in den Umfragen bei 20 Prozent. Die Kanzlerpartei SPD? Kommt gerade mal auf Werte zwischen 15 und 17 Prozent.
Welche Perspektive kann Scholz den jungen Menschen, die er hier in Ghana für die deutsche Wirtschaft gewinnen will, also bieten? Schlussendlich blieb diese Frage bei dem Besuch des Kanzlers unbeantwortet.
Als Scholz am Dienstagnachmittag zum Flughafen fährt, kann er aus seiner Limousine heraus wieder das Treiben auf den Straßen von Accra beobachten. Zwischen Häuserbuchten und Hochhäusern stehen dort viele kleine Stände, an denen Kleidung und Krimskrams verkauft werden. Einer der Tische ist mit der USA-Flagge tapeziert. "Visa Lottery" steht auf einem Schild, das an einer Blechwand klebt. Die Vereinigten Staaten sind das klassische Einwanderungsland für Fachkräfte.
Ein in Deutschland-Fahnen gekleideter Stand ist weit und breit nicht zu sehen.
- Eigene Recherche
- Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz: Fachkräfte für Deutschland
- Ifo Institut: ifo Konjunkturumfrage – 16. August 2023 zu Mangel an Fachkräften